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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
zende, wird der Mond gepriesen, denn die unendliche Mehrzahl
der Völker hat die Sonne immer als männlich, den Mond immer
als weiblich gedacht und nur wenig andere, zu denen die Deut-
schen und Hottentotten gehören, die Geschlechter umgekehrt ver-
theilt. Es bleibt bekanntlich die Mondsichel jeden späteren Tag
hinter der westwärts eilenden Sonne um ein beträchliches Bogen-
stück zurück. Nach längstens zwölf Tagen geschieht es dann, dass
die Sonne eben sinkt, wenn der Vollmond ihr gegenüber am Ge-
sichtskreise aufsteigt. Der wachsende Mond eilt also der Sonne
scheinbar nach, vermag die schnellere aber nicht einzuholen. In
der Sprache des aufkeimenden Mythus lautet aber die Schilderung
dieses Vorganges: Hippolyt flieht Phädra. Als nun ein Geschlecht
aufwuchs, welches Sonne und Mond mit andern Eigenschafts-
wörtern bezeichnete, dem die ursprüngliche Bedeutung von Hip-
polyt und Phädra aus dem Gedächtniss entschwunden war, dem
aber vielleicht ein Sprüchwort das Fliehen des Hippolyt vor der
nacheilenden Phädra erhalten hatte, dann durfte sich wohl die
Frage regen, warum mag wohl Hippolyt Phädra fliehen, wenn sie,
wie ihr Name es anpreist, in aller Schönheit ihres Geschlechtes
leuchtet? Bei diesem Stande der Vorstellungen war nun, wie
Delbrück hinzufügt, nichts weiter nöthig zur Vollendung des Sagen-
gewebes als der Gedanke: sollte vielleicht Phädra die Stiefmutter
des Hippolyt gewesen sein? Einmal in diesem Sinne gestaltet,
wurde der Mythus dann in die Schicksale von Theseus' Haus ver-
flochten und eignete sich ganz vorzüglich als Stoff für ein Trauer-
spiel. Euripides, Racine und der Uebersetzer des Letzteren, unser
Friedrich Schiller, würden aber wahrscheinlich tief betroffen gewesen
sein, wenn ihre Heldenpaare sich vor ihnen als Sonne und Mond
entschleiert hätten. Etwas willkürlich darf es genannt werden, dass
Hippolyt gerade aus Furcht vor einer Blutschande Phädra flieht,
denn näher hätte es gelegen, sich zu denken, dass er bereits ein
andres Mädchen geliebt habe. Sehr merkwürdig ist es daher, dass
auch in andern Völkerkreisen genau die nämlichen Deutungen der
erwähnten Naturbegebenheit gegeben werden. Die Khasia im nord-
westlichen Indien erzählen, dass der Mond bei jedem neuen Wechsel
in Liebe zu seiner Schwiegermutter, der Sonne entbrenne, die ihm
aber aus Abscheu Asche ins Gesicht wirft, daher auch seine

Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
zende, wird der Mond gepriesen, denn die unendliche Mehrzahl
der Völker hat die Sonne immer als männlich, den Mond immer
als weiblich gedacht und nur wenig andere, zu denen die Deut-
schen und Hottentotten gehören, die Geschlechter umgekehrt ver-
theilt. Es bleibt bekanntlich die Mondsichel jeden späteren Tag
hinter der westwärts eilenden Sonne um ein beträchliches Bogen-
stück zurück. Nach längstens zwölf Tagen geschieht es dann, dass
die Sonne eben sinkt, wenn der Vollmond ihr gegenüber am Ge-
sichtskreise aufsteigt. Der wachsende Mond eilt also der Sonne
scheinbar nach, vermag die schnellere aber nicht einzuholen. In
der Sprache des aufkeimenden Mythus lautet aber die Schilderung
dieses Vorganges: Hippolyt flieht Phädra. Als nun ein Geschlecht
aufwuchs, welches Sonne und Mond mit andern Eigenschafts-
wörtern bezeichnete, dem die ursprüngliche Bedeutung von Hip-
polyt und Phädra aus dem Gedächtniss entschwunden war, dem
aber vielleicht ein Sprüchwort das Fliehen des Hippolyt vor der
nacheilenden Phädra erhalten hatte, dann durfte sich wohl die
Frage regen, warum mag wohl Hippolyt Phädra fliehen, wenn sie,
wie ihr Name es anpreist, in aller Schönheit ihres Geschlechtes
leuchtet? Bei diesem Stande der Vorstellungen war nun, wie
Delbrück hinzufügt, nichts weiter nöthig zur Vollendung des Sagen-
gewebes als der Gedanke: sollte vielleicht Phädra die Stiefmutter
des Hippolyt gewesen sein? Einmal in diesem Sinne gestaltet,
wurde der Mythus dann in die Schicksale von Theseus’ Haus ver-
flochten und eignete sich ganz vorzüglich als Stoff für ein Trauer-
spiel. Euripides, Racine und der Uebersetzer des Letzteren, unser
Friedrich Schiller, würden aber wahrscheinlich tief betroffen gewesen
sein, wenn ihre Heldenpaare sich vor ihnen als Sonne und Mond
entschleiert hätten. Etwas willkürlich darf es genannt werden, dass
Hippolyt gerade aus Furcht vor einer Blutschande Phädra flieht,
denn näher hätte es gelegen, sich zu denken, dass er bereits ein
andres Mädchen geliebt habe. Sehr merkwürdig ist es daher, dass
auch in andern Völkerkreisen genau die nämlichen Deutungen der
erwähnten Naturbegebenheit gegeben werden. Die Khasia im nord-
westlichen Indien erzählen, dass der Mond bei jedem neuen Wechsel
in Liebe zu seiner Schwiegermutter, der Sonne entbrenne, die ihm
aber aus Abscheu Asche ins Gesicht wirft, daher auch seine

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[267/0285] Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. zende, wird der Mond gepriesen, denn die unendliche Mehrzahl der Völker hat die Sonne immer als männlich, den Mond immer als weiblich gedacht und nur wenig andere, zu denen die Deut- schen und Hottentotten gehören, die Geschlechter umgekehrt ver- theilt. Es bleibt bekanntlich die Mondsichel jeden späteren Tag hinter der westwärts eilenden Sonne um ein beträchliches Bogen- stück zurück. Nach längstens zwölf Tagen geschieht es dann, dass die Sonne eben sinkt, wenn der Vollmond ihr gegenüber am Ge- sichtskreise aufsteigt. Der wachsende Mond eilt also der Sonne scheinbar nach, vermag die schnellere aber nicht einzuholen. In der Sprache des aufkeimenden Mythus lautet aber die Schilderung dieses Vorganges: Hippolyt flieht Phädra. Als nun ein Geschlecht aufwuchs, welches Sonne und Mond mit andern Eigenschafts- wörtern bezeichnete, dem die ursprüngliche Bedeutung von Hip- polyt und Phädra aus dem Gedächtniss entschwunden war, dem aber vielleicht ein Sprüchwort das Fliehen des Hippolyt vor der nacheilenden Phädra erhalten hatte, dann durfte sich wohl die Frage regen, warum mag wohl Hippolyt Phädra fliehen, wenn sie, wie ihr Name es anpreist, in aller Schönheit ihres Geschlechtes leuchtet? Bei diesem Stande der Vorstellungen war nun, wie Delbrück hinzufügt, nichts weiter nöthig zur Vollendung des Sagen- gewebes als der Gedanke: sollte vielleicht Phädra die Stiefmutter des Hippolyt gewesen sein? Einmal in diesem Sinne gestaltet, wurde der Mythus dann in die Schicksale von Theseus’ Haus ver- flochten und eignete sich ganz vorzüglich als Stoff für ein Trauer- spiel. Euripides, Racine und der Uebersetzer des Letzteren, unser Friedrich Schiller, würden aber wahrscheinlich tief betroffen gewesen sein, wenn ihre Heldenpaare sich vor ihnen als Sonne und Mond entschleiert hätten. Etwas willkürlich darf es genannt werden, dass Hippolyt gerade aus Furcht vor einer Blutschande Phädra flieht, denn näher hätte es gelegen, sich zu denken, dass er bereits ein andres Mädchen geliebt habe. Sehr merkwürdig ist es daher, dass auch in andern Völkerkreisen genau die nämlichen Deutungen der erwähnten Naturbegebenheit gegeben werden. Die Khasia im nord- westlichen Indien erzählen, dass der Mond bei jedem neuen Wechsel in Liebe zu seiner Schwiegermutter, der Sonne entbrenne, die ihm aber aus Abscheu Asche ins Gesicht wirft, daher auch seine

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/285>, abgerufen am 24.04.2024.