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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Verehrung von Quellen und namentlich der Gesundbrunnen, als
etwas Göttliches, hauptsächlich von den Hindu, betrachtet worden.
Da, wo Ganges und Dschamna aus Gletschern hervorbrechen, also
in grossartiger Hochgebirgseinsamkeit, oder auch im Flachlande
über dem Weiher mit der Narbada-Quelle stehen Heiligthümer
und Wallfahrtsorte1). Dem Baden in den heiligen Strömen wird
eine beseligende Wirkung zugeschrieben, und es fehlt nicht an
frommen Hindu, die Ganges-Wasser von Benares bis zu Ra-
messeram, nahe der Südspitze Indiens, eine Entfernung, um we-
niges kürzer als die zwischen Madrid und Berlin, zu den Ab-
waschungen der heimathlichen Götzenbilder herbeitragen2). Auch
den Altpersern war das fliessende Wasser heilig, aber im Gegen-
satze zu den Hindu suchten sie jede Verunreinigung von ihm ab-
zuwenden, so dass die Errichtung von Brücken, welche das Durch-
waten der Flüsse beseitigte, zu den frommen Werken gehörte3).

Wenn selbst die Gottheiten der Meere nicht ganz sicher waren
vor den Züchtigungen des rohen Menschen, wie der persische
Grosskönig den Hellespont mit Ruthen peitschen liess4), so ver-
sprach es Besseres als die Menschen den Blick erhoben, um im
gestirnten Himmel die unbekannten Urheber zu suchen. Der
Cultus von Sonne, Mond und Sternbildern, bei mongolischen Völ-
kern Nord-Asiens vielfach anzutreffen, hat sich von dort über beide
Hälften Amerikas verbreitet. Wenn auch die religiösen Erregungen
viel früher innerhalb der menschlichen Gesellschaften auftreten als
die Unterscheidung zwischen dem Guten und Bösen, also durchaus
nichts zu schaffen haben mit etwaigen Sittengesetzen, so werden
doch, sobald einmal zwischen Gliedern desselben Verbandes der
Verkehr durch strenge Gewohnheiten geordnet worden ist, die
menschlichen Satzungen aus Geboten der Gottheit abgeleitet und
von diesem Wendepunkte an wird die Religion das wirksamste
aller Erziehungs- und Veredlungsmittel5). Unbewusst, indem er

1) H. v. Schlagintweit, Indien und Hochasien. Bd. 1. S. 161.
2) K. Graul, Reise nach Ostindien. Bd. 4. S. 43.
3) Duncker, Geschichte des Alterthums. Berlin 1853. Bd. 2. S. 372.
4) Herodot, lib. VII, cap. 35, 54.
5) Aehnlich äussert Fritz Schultze (Der Fetischismus. Leipzig 1871.
S. 123): "Darin, dass der Wilde so knechtisch unter der Gewalt seines Mo-
kisso (Fetisch) und seines Gelübdes steht, liegt ein grosses pädagogisches
Element des Fetischismus. Der Wilde legt sich Pflichten auf -- er zügelt sich".

Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Verehrung von Quellen und namentlich der Gesundbrunnen, als
etwas Göttliches, hauptsächlich von den Hindu, betrachtet worden.
Da, wo Ganges und Dschamna aus Gletschern hervorbrechen, also
in grossartiger Hochgebirgseinsamkeit, oder auch im Flachlande
über dem Weiher mit der Narbada-Quelle stehen Heiligthümer
und Wallfahrtsorte1). Dem Baden in den heiligen Strömen wird
eine beseligende Wirkung zugeschrieben, und es fehlt nicht an
frommen Hindu, die Ganges-Wasser von Benares bis zu Ra-
messeram, nahe der Südspitze Indiens, eine Entfernung, um we-
niges kürzer als die zwischen Madrid und Berlin, zu den Ab-
waschungen der heimathlichen Götzenbilder herbeitragen2). Auch
den Altpersern war das fliessende Wasser heilig, aber im Gegen-
satze zu den Hindu suchten sie jede Verunreinigung von ihm ab-
zuwenden, so dass die Errichtung von Brücken, welche das Durch-
waten der Flüsse beseitigte, zu den frommen Werken gehörte3).

Wenn selbst die Gottheiten der Meere nicht ganz sicher waren
vor den Züchtigungen des rohen Menschen, wie der persische
Grosskönig den Hellespont mit Ruthen peitschen liess4), so ver-
sprach es Besseres als die Menschen den Blick erhoben, um im
gestirnten Himmel die unbekannten Urheber zu suchen. Der
Cultus von Sonne, Mond und Sternbildern, bei mongolischen Völ-
kern Nord-Asiens vielfach anzutreffen, hat sich von dort über beide
Hälften Amerikas verbreitet. Wenn auch die religiösen Erregungen
viel früher innerhalb der menschlichen Gesellschaften auftreten als
die Unterscheidung zwischen dem Guten und Bösen, also durchaus
nichts zu schaffen haben mit etwaigen Sittengesetzen, so werden
doch, sobald einmal zwischen Gliedern desselben Verbandes der
Verkehr durch strenge Gewohnheiten geordnet worden ist, die
menschlichen Satzungen aus Geboten der Gottheit abgeleitet und
von diesem Wendepunkte an wird die Religion das wirksamste
aller Erziehungs- und Veredlungsmittel5). Unbewusst, indem er

1) H. v. Schlagintweit, Indien und Hochasien. Bd. 1. S. 161.
2) K. Graul, Reise nach Ostindien. Bd. 4. S. 43.
3) Duncker, Geschichte des Alterthums. Berlin 1853. Bd. 2. S. 372.
4) Herodot, lib. VII, cap. 35, 54.
5) Aehnlich äussert Fritz Schultze (Der Fetischismus. Leipzig 1871.
S. 123): „Darin, dass der Wilde so knechtisch unter der Gewalt seines Mo-
kisso (Fetisch) und seines Gelübdes steht, liegt ein grosses pädagogisches
Element des Fetischismus. Der Wilde legt sich Pflichten auf — er zügelt sich“.
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[264/0282] Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. Verehrung von Quellen und namentlich der Gesundbrunnen, als etwas Göttliches, hauptsächlich von den Hindu, betrachtet worden. Da, wo Ganges und Dschamna aus Gletschern hervorbrechen, also in grossartiger Hochgebirgseinsamkeit, oder auch im Flachlande über dem Weiher mit der Narbada-Quelle stehen Heiligthümer und Wallfahrtsorte 1). Dem Baden in den heiligen Strömen wird eine beseligende Wirkung zugeschrieben, und es fehlt nicht an frommen Hindu, die Ganges-Wasser von Benares bis zu Ra- messeram, nahe der Südspitze Indiens, eine Entfernung, um we- niges kürzer als die zwischen Madrid und Berlin, zu den Ab- waschungen der heimathlichen Götzenbilder herbeitragen 2). Auch den Altpersern war das fliessende Wasser heilig, aber im Gegen- satze zu den Hindu suchten sie jede Verunreinigung von ihm ab- zuwenden, so dass die Errichtung von Brücken, welche das Durch- waten der Flüsse beseitigte, zu den frommen Werken gehörte 3). Wenn selbst die Gottheiten der Meere nicht ganz sicher waren vor den Züchtigungen des rohen Menschen, wie der persische Grosskönig den Hellespont mit Ruthen peitschen liess 4), so ver- sprach es Besseres als die Menschen den Blick erhoben, um im gestirnten Himmel die unbekannten Urheber zu suchen. Der Cultus von Sonne, Mond und Sternbildern, bei mongolischen Völ- kern Nord-Asiens vielfach anzutreffen, hat sich von dort über beide Hälften Amerikas verbreitet. Wenn auch die religiösen Erregungen viel früher innerhalb der menschlichen Gesellschaften auftreten als die Unterscheidung zwischen dem Guten und Bösen, also durchaus nichts zu schaffen haben mit etwaigen Sittengesetzen, so werden doch, sobald einmal zwischen Gliedern desselben Verbandes der Verkehr durch strenge Gewohnheiten geordnet worden ist, die menschlichen Satzungen aus Geboten der Gottheit abgeleitet und von diesem Wendepunkte an wird die Religion das wirksamste aller Erziehungs- und Veredlungsmittel 5). Unbewusst, indem er 1) H. v. Schlagintweit, Indien und Hochasien. Bd. 1. S. 161. 2) K. Graul, Reise nach Ostindien. Bd. 4. S. 43. 3) Duncker, Geschichte des Alterthums. Berlin 1853. Bd. 2. S. 372. 4) Herodot, lib. VII, cap. 35, 54. 5) Aehnlich äussert Fritz Schultze (Der Fetischismus. Leipzig 1871. S. 123): „Darin, dass der Wilde so knechtisch unter der Gewalt seines Mo- kisso (Fetisch) und seines Gelübdes steht, liegt ein grosses pädagogisches Element des Fetischismus. Der Wilde legt sich Pflichten auf — er zügelt sich“.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/282>, abgerufen am 19.04.2024.