Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Dazu gesellt sich bei den kindlich gebliebenen Völkern das Unver-
mögen, die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmungen anders als
beseelt zu denken. Dass sie selbst Steinen und Felsen Willenshand-
lungen und menschliche Empfindlichkeit zutrauen, werden wir
sofort zu erwähnen haben. Nicht blos den Thieren, sondern auch
den Gewächsen schreiben die Dayaken Borneos ein seelenhaftes
Wesen, semungat oder semungi geheissen, zu. Kränkelt eine
Pflanze, so sehen sie darin eine zeitweilige Abwesenheit ihres un-
sichtbaren Ichs und wenn der Reis verfault, so ist seine Seele ent-
wichen1). Als der Missionär Phillips an einem schwülen Tage
gegen einen jungen Feuerländer über die Tageshitze klagte, rief
der Knabe ängstlich: "Sprich nicht die Sonne sei heiss, gleich
verbirgt sie sich und der Wind weht kalt!"2) Werden daher die
Dinge der Aussenwelt als beseelt, als willensmächtig und als leiden-
schaftlich vorgestellt, so können sie auch als Anstifter von Unfällen
gelten, deren wahre Ursache sich dem Denkvermögen entzieht.
Was bei solchen Stimmungen unter unentwickelten Menschen-
stämmen im Dunkel der Gemüther sich vollzieht, wird durch eine
oft benutzte Mittheilung des afrikanischen Reisenden Lichtenstein3)
hell beleuchtet. Der Häuptling einer Kafir-Horde, der Amakhosa,
hatte von einem gestrandeten Anker ein Stück abbrechen lassen.
Bald nachher starb der Mann, welcher seinen Befehl ausgeführt
hatte, und da nun, wie wir beiläufig hinzusetzen wollen, eine ganze
Reihe von Völkern aller Erdtheile, zu denen auch die Kafirn ge-
hören, jeden Tod eines Menschen übernatürlichen Ursachen
zuschreibt, so genoss der verletzte Anker von jener Zeit an
stets die Ehrfurchtsbezeugungen der Amakhosa. Die Australier in
Neu-Süd-Wales halten es für einen Frevel in der Nähe von
Felsen zu pfeifen, denn, so erzählten sie Dumont d'Urville4), es
hätten einst etliche der Ihrigen am Fusse einer Steinwand gepfiffen,
und wären deshalb durch herabstürzende Blöcke erschlagen worden5).

1) Spenser St. John, Life in the forests of the Far East. London
1862. tom. I. p. 177--178.
2) Ausland 1861. S. 1011.
3) Reisen im südlichen Afrika. Berlin 1811. Bd. 1. S. 411.
4) Voyage de l'Astrolabe, tom. I, p. 463.
5) Sehr merkwürdig ist es, dass auch auf den Tongainseln jedes Pfeifen,
als unehrerbietig gegen die Götter, vermieden wurde. Mariner, Tonga-
Islands. tom. II. p. 124.

Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Dazu gesellt sich bei den kindlich gebliebenen Völkern das Unver-
mögen, die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmungen anders als
beseelt zu denken. Dass sie selbst Steinen und Felsen Willenshand-
lungen und menschliche Empfindlichkeit zutrauen, werden wir
sofort zu erwähnen haben. Nicht blos den Thieren, sondern auch
den Gewächsen schreiben die Dayaken Borneos ein seelenhaftes
Wesen, semungat oder semungi geheissen, zu. Kränkelt eine
Pflanze, so sehen sie darin eine zeitweilige Abwesenheit ihres un-
sichtbaren Ichs und wenn der Reis verfault, so ist seine Seele ent-
wichen1). Als der Missionär Phillips an einem schwülen Tage
gegen einen jungen Feuerländer über die Tageshitze klagte, rief
der Knabe ängstlich: „Sprich nicht die Sonne sei heiss, gleich
verbirgt sie sich und der Wind weht kalt!“2) Werden daher die
Dinge der Aussenwelt als beseelt, als willensmächtig und als leiden-
schaftlich vorgestellt, so können sie auch als Anstifter von Unfällen
gelten, deren wahre Ursache sich dem Denkvermögen entzieht.
Was bei solchen Stimmungen unter unentwickelten Menschen-
stämmen im Dunkel der Gemüther sich vollzieht, wird durch eine
oft benutzte Mittheilung des afrikanischen Reisenden Lichtenstein3)
hell beleuchtet. Der Häuptling einer Kafir-Horde, der Amaχosa,
hatte von einem gestrandeten Anker ein Stück abbrechen lassen.
Bald nachher starb der Mann, welcher seinen Befehl ausgeführt
hatte, und da nun, wie wir beiläufig hinzusetzen wollen, eine ganze
Reihe von Völkern aller Erdtheile, zu denen auch die Kafirn ge-
hören, jeden Tod eines Menschen übernatürlichen Ursachen
zuschreibt, so genoss der verletzte Anker von jener Zeit an
stets die Ehrfurchtsbezeugungen der Amaχosa. Die Australier in
Neu-Süd-Wales halten es für einen Frevel in der Nähe von
Felsen zu pfeifen, denn, so erzählten sie Dumont d’Urville4), es
hätten einst etliche der Ihrigen am Fusse einer Steinwand gepfiffen,
und wären deshalb durch herabstürzende Blöcke erschlagen worden5).

1) Spenser St. John, Life in the forests of the Far East. London
1862. tom. I. p. 177—178.
2) Ausland 1861. S. 1011.
3) Reisen im südlichen Afrika. Berlin 1811. Bd. 1. S. 411.
4) Voyage de l’Astrolabe, tom. I, p. 463.
5) Sehr merkwürdig ist es, dass auch auf den Tongainseln jedes Pfeifen,
als unehrerbietig gegen die Götter, vermieden wurde. Mariner, Tonga-
Islands. tom. II. p. 124.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0274" n="256"/><fw place="top" type="header">Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.</fw><lb/>
Dazu gesellt sich bei den kindlich gebliebenen Völkern das Unver-<lb/>
mögen, die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmungen anders als<lb/>
beseelt zu denken. Dass sie selbst Steinen und Felsen Willenshand-<lb/>
lungen und menschliche Empfindlichkeit zutrauen, werden wir<lb/>
sofort zu erwähnen haben. Nicht blos den Thieren, sondern auch<lb/>
den Gewächsen schreiben die Dayaken Borneos ein seelenhaftes<lb/>
Wesen, <hi rendition="#i">semungat</hi> oder <hi rendition="#i">semungi</hi> geheissen, zu. Kränkelt eine<lb/>
Pflanze, so sehen sie darin eine zeitweilige Abwesenheit ihres un-<lb/>
sichtbaren Ichs und wenn der Reis verfault, so ist seine Seele ent-<lb/>
wichen<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#g">Spenser St. John</hi>, Life in the forests of the Far East. London<lb/>
1862. tom. I. p. 177&#x2014;178.</note>. Als der Missionär Phillips an einem schwülen Tage<lb/>
gegen einen jungen Feuerländer über die Tageshitze klagte, rief<lb/>
der Knabe ängstlich: &#x201E;Sprich nicht die Sonne sei heiss, gleich<lb/>
verbirgt sie sich und der Wind weht kalt!&#x201C;<note place="foot" n="2)">Ausland 1861. S. 1011.</note> Werden daher die<lb/>
Dinge der Aussenwelt als beseelt, als willensmächtig und als leiden-<lb/>
schaftlich vorgestellt, so können sie auch als Anstifter von Unfällen<lb/>
gelten, deren wahre Ursache sich dem Denkvermögen entzieht.<lb/>
Was bei solchen Stimmungen unter unentwickelten Menschen-<lb/>
stämmen im Dunkel der Gemüther sich vollzieht, wird durch eine<lb/>
oft benutzte Mittheilung des afrikanischen Reisenden Lichtenstein<note place="foot" n="3)">Reisen im südlichen Afrika. Berlin 1811. Bd. 1. S. 411.</note><lb/>
hell beleuchtet. Der Häuptling einer Kafir-Horde, der Ama&#x03C7;osa,<lb/>
hatte von einem gestrandeten Anker ein Stück abbrechen lassen.<lb/>
Bald nachher starb der Mann, welcher seinen Befehl ausgeführt<lb/>
hatte, und da nun, wie wir beiläufig hinzusetzen wollen, eine ganze<lb/>
Reihe von Völkern aller Erdtheile, zu denen auch die Kafirn ge-<lb/>
hören, jeden Tod eines Menschen übernatürlichen Ursachen<lb/>
zuschreibt, so genoss der verletzte Anker von jener Zeit an<lb/>
stets die Ehrfurchtsbezeugungen der Ama&#x03C7;osa. Die Australier in<lb/>
Neu-Süd-Wales halten es für einen Frevel in der Nähe von<lb/>
Felsen zu pfeifen, denn, so erzählten sie Dumont d&#x2019;Urville<note place="foot" n="4)">Voyage de l&#x2019;Astrolabe, tom. I, p. 463.</note>, es<lb/>
hätten einst etliche der Ihrigen am Fusse einer Steinwand gepfiffen,<lb/>
und wären deshalb durch herabstürzende Blöcke erschlagen worden<note place="foot" n="5)">Sehr merkwürdig ist es, dass auch auf den Tongainseln jedes Pfeifen,<lb/>
als unehrerbietig gegen die Götter, vermieden wurde. <hi rendition="#g">Mariner</hi>, Tonga-<lb/>
Islands. tom. II. p. 124.</note>.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[256/0274] Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. Dazu gesellt sich bei den kindlich gebliebenen Völkern das Unver- mögen, die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmungen anders als beseelt zu denken. Dass sie selbst Steinen und Felsen Willenshand- lungen und menschliche Empfindlichkeit zutrauen, werden wir sofort zu erwähnen haben. Nicht blos den Thieren, sondern auch den Gewächsen schreiben die Dayaken Borneos ein seelenhaftes Wesen, semungat oder semungi geheissen, zu. Kränkelt eine Pflanze, so sehen sie darin eine zeitweilige Abwesenheit ihres un- sichtbaren Ichs und wenn der Reis verfault, so ist seine Seele ent- wichen 1). Als der Missionär Phillips an einem schwülen Tage gegen einen jungen Feuerländer über die Tageshitze klagte, rief der Knabe ängstlich: „Sprich nicht die Sonne sei heiss, gleich verbirgt sie sich und der Wind weht kalt!“ 2) Werden daher die Dinge der Aussenwelt als beseelt, als willensmächtig und als leiden- schaftlich vorgestellt, so können sie auch als Anstifter von Unfällen gelten, deren wahre Ursache sich dem Denkvermögen entzieht. Was bei solchen Stimmungen unter unentwickelten Menschen- stämmen im Dunkel der Gemüther sich vollzieht, wird durch eine oft benutzte Mittheilung des afrikanischen Reisenden Lichtenstein 3) hell beleuchtet. Der Häuptling einer Kafir-Horde, der Amaχosa, hatte von einem gestrandeten Anker ein Stück abbrechen lassen. Bald nachher starb der Mann, welcher seinen Befehl ausgeführt hatte, und da nun, wie wir beiläufig hinzusetzen wollen, eine ganze Reihe von Völkern aller Erdtheile, zu denen auch die Kafirn ge- hören, jeden Tod eines Menschen übernatürlichen Ursachen zuschreibt, so genoss der verletzte Anker von jener Zeit an stets die Ehrfurchtsbezeugungen der Amaχosa. Die Australier in Neu-Süd-Wales halten es für einen Frevel in der Nähe von Felsen zu pfeifen, denn, so erzählten sie Dumont d’Urville 4), es hätten einst etliche der Ihrigen am Fusse einer Steinwand gepfiffen, und wären deshalb durch herabstürzende Blöcke erschlagen worden 5). 1) Spenser St. John, Life in the forests of the Far East. London 1862. tom. I. p. 177—178. 2) Ausland 1861. S. 1011. 3) Reisen im südlichen Afrika. Berlin 1811. Bd. 1. S. 411. 4) Voyage de l’Astrolabe, tom. I, p. 463. 5) Sehr merkwürdig ist es, dass auch auf den Tongainseln jedes Pfeifen, als unehrerbietig gegen die Götter, vermieden wurde. Mariner, Tonga- Islands. tom. II. p. 124.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/274
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/274>, abgerufen am 28.03.2024.