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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
geld theils an die Familie des Erschlagenen, theils an das Gemein-
wesen1). Unter den Kafirn ist die Rechtsentwickelung schon so
weit fortgeschritten, dass die Sühngelder nicht dem Beschädigten,
sondern dem Häuptling zufallen, gleichsam als sei durch den
Friedensbruch der Gesellschaftsverband, oder derjenige, der ihn
vertritt, verletzt worden2). Dass die Angehörigen leer ausgehen,
rechtfertigen sie mit dem schönen Worte: man könne sein eigen
Blut nicht essen3). Die Blutrache fordert eine entsprechende
Wiedervergeltung, nämlich nach den Bibelworten: Auge um Auge,
Zahn um Zahn, Leben um Leben. Auch in der römischen Ge-
sellschaft hat sich das Strafrecht aus dieser Vorstellung entwickelt,
denn zur Zeit der Zwölftafelgesetze wurde noch immer, wenigstens
bei schweren Körperverletzungen die Wiedervergeltung vollstreckt,
wenn der Beschädigte nicht vorzog, sich abfinden zu lassen4).

Wo irgendwo auf Erden der Mensch zu Brauch oder Genuss
eine Sache ergriffen hatte, da hielt er sich von jeher für ihren
Eigenthümer. Ahnungen von den Rechten des Besitzers mangeln
selbst in der Thierwelt nicht, in Bezug auf das Nest sind sie bei
nistenden Vögeln vorhanden. Im Londoner Thiergarten bediente
sich ein Affe mit schwachem Gebiss eines Steines zum Oeffnen
von Nüssen, und verbarg ihn nach jedesmaligem Gebrauch im Stroh,
liess ihn auch von keinem andern Affen berühren5). Unser Fuhr-
mannsspitz bewacht die Güter seines Herrn, und gebärdet sich aufs
deutlichste als Schützer des Eigenthums. Ein Beobachter, wie
Appun, der viele Jahre unter den Eingebornen Guayanas gelebt
hat, versichert, dass die Habe des Einzelnen von allen Mitbe-
wohnern einer Hütte heilig gehalten werde6). Aber selbst Vor-
stellungen vom Recht an unbeweglichen Sachen entstehen in einer
sehr frühen Zeit. Bei Jägern gilt das Revier immer als Gesammt-

1) Tacitus, Germ. cap. 12. pars multae regi, vel civitati, pars ipsi, qui
vindicatur, vel propinquis ejus absolvitur; vgl. dazu J. Grimm, deutsche
Rechtsalterthümer. 2. Ausgabe. S. 652. u. G. Geib, Lehrbuch des deutschen
Strafrechtes. Leipzig 1861. S. 156.
2) Fritsch, Eingeborne Südafrikas. S. 97.
3) Maclean, Kafir Laws and Customs. Mount Coke. 1858. p. 35.
4) Si membrum rupit, ni cum eo pacit, talio esto. Tab. VIII. fr. 2.
H. E. Dirksen, Uebersicht der Zwölftafel-Fragmente. S. 517.
5) Darwin, Abstammung des Menschen. Bd. 1. S. 44.
6) Ausland 1872. No. 29. S. 682.

Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
geld theils an die Familie des Erschlagenen, theils an das Gemein-
wesen1). Unter den Kafirn ist die Rechtsentwickelung schon so
weit fortgeschritten, dass die Sühngelder nicht dem Beschädigten,
sondern dem Häuptling zufallen, gleichsam als sei durch den
Friedensbruch der Gesellschaftsverband, oder derjenige, der ihn
vertritt, verletzt worden2). Dass die Angehörigen leer ausgehen,
rechtfertigen sie mit dem schönen Worte: man könne sein eigen
Blut nicht essen3). Die Blutrache fordert eine entsprechende
Wiedervergeltung, nämlich nach den Bibelworten: Auge um Auge,
Zahn um Zahn, Leben um Leben. Auch in der römischen Ge-
sellschaft hat sich das Strafrecht aus dieser Vorstellung entwickelt,
denn zur Zeit der Zwölftafelgesetze wurde noch immer, wenigstens
bei schweren Körperverletzungen die Wiedervergeltung vollstreckt,
wenn der Beschädigte nicht vorzog, sich abfinden zu lassen4).

Wo irgendwo auf Erden der Mensch zu Brauch oder Genuss
eine Sache ergriffen hatte, da hielt er sich von jeher für ihren
Eigenthümer. Ahnungen von den Rechten des Besitzers mangeln
selbst in der Thierwelt nicht, in Bezug auf das Nest sind sie bei
nistenden Vögeln vorhanden. Im Londoner Thiergarten bediente
sich ein Affe mit schwachem Gebiss eines Steines zum Oeffnen
von Nüssen, und verbarg ihn nach jedesmaligem Gebrauch im Stroh,
liess ihn auch von keinem andern Affen berühren5). Unser Fuhr-
mannsspitz bewacht die Güter seines Herrn, und gebärdet sich aufs
deutlichste als Schützer des Eigenthums. Ein Beobachter, wie
Appun, der viele Jahre unter den Eingebornen Guayanas gelebt
hat, versichert, dass die Habe des Einzelnen von allen Mitbe-
wohnern einer Hütte heilig gehalten werde6). Aber selbst Vor-
stellungen vom Recht an unbeweglichen Sachen entstehen in einer
sehr frühen Zeit. Bei Jägern gilt das Revier immer als Gesammt-

1) Tacitus, Germ. cap. 12. pars multae regi, vel civitati, pars ipsi, qui
vindicatur, vel propinquis ejus absolvitur; vgl. dazu J. Grimm, deutsche
Rechtsalterthümer. 2. Ausgabe. S. 652. u. G. Geib, Lehrbuch des deutschen
Strafrechtes. Leipzig 1861. S. 156.
2) Fritsch, Eingeborne Südafrikas. S. 97.
3) Maclean, Kafir Laws and Customs. Mount Coke. 1858. p. 35.
4) Si membrum rupit, ni cum eo pacit, talio esto. Tab. VIII. fr. 2.
H. E. Dirksen, Uebersicht der Zwölftafel-Fragmente. S. 517.
5) Darwin, Abstammung des Menschen. Bd. 1. S. 44.
6) Ausland 1872. No. 29. S. 682.
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[250/0268] Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft. geld theils an die Familie des Erschlagenen, theils an das Gemein- wesen 1). Unter den Kafirn ist die Rechtsentwickelung schon so weit fortgeschritten, dass die Sühngelder nicht dem Beschädigten, sondern dem Häuptling zufallen, gleichsam als sei durch den Friedensbruch der Gesellschaftsverband, oder derjenige, der ihn vertritt, verletzt worden 2). Dass die Angehörigen leer ausgehen, rechtfertigen sie mit dem schönen Worte: man könne sein eigen Blut nicht essen 3). Die Blutrache fordert eine entsprechende Wiedervergeltung, nämlich nach den Bibelworten: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben. Auch in der römischen Ge- sellschaft hat sich das Strafrecht aus dieser Vorstellung entwickelt, denn zur Zeit der Zwölftafelgesetze wurde noch immer, wenigstens bei schweren Körperverletzungen die Wiedervergeltung vollstreckt, wenn der Beschädigte nicht vorzog, sich abfinden zu lassen 4). Wo irgendwo auf Erden der Mensch zu Brauch oder Genuss eine Sache ergriffen hatte, da hielt er sich von jeher für ihren Eigenthümer. Ahnungen von den Rechten des Besitzers mangeln selbst in der Thierwelt nicht, in Bezug auf das Nest sind sie bei nistenden Vögeln vorhanden. Im Londoner Thiergarten bediente sich ein Affe mit schwachem Gebiss eines Steines zum Oeffnen von Nüssen, und verbarg ihn nach jedesmaligem Gebrauch im Stroh, liess ihn auch von keinem andern Affen berühren 5). Unser Fuhr- mannsspitz bewacht die Güter seines Herrn, und gebärdet sich aufs deutlichste als Schützer des Eigenthums. Ein Beobachter, wie Appun, der viele Jahre unter den Eingebornen Guayanas gelebt hat, versichert, dass die Habe des Einzelnen von allen Mitbe- wohnern einer Hütte heilig gehalten werde 6). Aber selbst Vor- stellungen vom Recht an unbeweglichen Sachen entstehen in einer sehr frühen Zeit. Bei Jägern gilt das Revier immer als Gesammt- 1) Tacitus, Germ. cap. 12. pars multae regi, vel civitati, pars ipsi, qui vindicatur, vel propinquis ejus absolvitur; vgl. dazu J. Grimm, deutsche Rechtsalterthümer. 2. Ausgabe. S. 652. u. G. Geib, Lehrbuch des deutschen Strafrechtes. Leipzig 1861. S. 156. 2) Fritsch, Eingeborne Südafrikas. S. 97. 3) Maclean, Kafir Laws and Customs. Mount Coke. 1858. p. 35. 4) Si membrum rupit, ni cum eo pacit, talio esto. Tab. VIII. fr. 2. H. E. Dirksen, Uebersicht der Zwölftafel-Fragmente. S. 517. 5) Darwin, Abstammung des Menschen. Bd. 1. S. 44. 6) Ausland 1872. No. 29. S. 682.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/268>, abgerufen am 28.03.2024.