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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Ehe und väterliche Gewalt.
wohl aber über die auf väterlicher Seite. Dies klingt freilich, als
ob keine eheliche Treue beobachtet worden sei und die lockersten
Sitten geherrscht hätten, doch sind wir noch immer geneigt, diese
Auffassung lieber einer verkehrten physiologischen Ansicht über die
Vaterschaft zuzuschreiben, da das Neffenerbrecht bei so vielen
sittenstrengen Völkern, wie den eben genannten Koluschen vor-
kommt. Winwood Reade, der uns von den Negern des westlichen
Afrika ungünstig gefärbte Schilderungen geliefert hat, verschweigt
doch nicht, dass unbeschadet des Neffenerbrechtes in Dahome
und bei den Adiya der Insel Fernando Po der Ehebruch so-
gleich oder im Wiederholungsfall mit dem Tode bestraft wird, ja
er gesteht, dass in Westafrika, wenn ein Mädchen durch Fehltritte
ihre Familie beschimpft hat, Ausstossung aus dem Hordenverband
erfolgt1). Wir begegnen dem Neffenerbrecht ferner bei Völkern,
wie den Irokesen und Huronen, die Proben strenger Enthaltsam-
keit ablegten, denn junge Ehegatten mussten ein ganzes Jahr wie
Bruder und Schwester zusammenleben, um zu beweisen, dass edlere
Neigungen als die Befriedigung von Sinnenlust sie zusammengeführt
hätten2). So äussert auch Joseph Gumilla4) von den Indianern des
Orinoco: "Alle empfinden schwer die Untreue ihrer Frauen, doch die
Cariben allein bestrafen sie exemplarisch, denn die ganze Gemeinde
erschlägt die Schuldigen auf dem öffentlichen Platze". Ein anderes
Mal aber erzählt er von einer Indianerin, die sich vergiftete, um
nicht die Ehe zu brechen. Ungewissheit über die Vaterschaft kann
auch bei solchen Stämmen nicht zum Neffenerbrecht geführt haben,
welche den Brauch des männlichen Kindbettes beobachten3). Die
Bevorzugung der Schwesterkinder vor den eigenen Leibeserben,
und die Verehrung des Mutterbruders darf also, so lange nicht
strenge Beweise beigebracht werden, nicht als ein Merkmal von
ehelicher Sittenlosigkeit gelten.

Da sich ein schicklicher Platz anderwärts nicht finden dürfte,
sei uns an dieser Stelle der Zusatz verstattet, dass das Küssen
nicht allerorten Brauch ist. Darwin hat bereits mitgetheilt, dass

1) Savage Africa. London. 1863. p. 48. p. 61. p. 261.
2) Lafitau, moeurs des sauvages. tom. I. p. 574. Charlevoix, Nou-
velle France. tom. III. p. 286.
4) El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. p. 71. p. 342. Uebrigens kamen
auch grobe Verachtungen der ehelichen Treue vor. l. c. p. 72.
3) S. oben S. 26.

Ehe und väterliche Gewalt.
wohl aber über die auf väterlicher Seite. Dies klingt freilich, als
ob keine eheliche Treue beobachtet worden sei und die lockersten
Sitten geherrscht hätten, doch sind wir noch immer geneigt, diese
Auffassung lieber einer verkehrten physiologischen Ansicht über die
Vaterschaft zuzuschreiben, da das Neffenerbrecht bei so vielen
sittenstrengen Völkern, wie den eben genannten Koluschen vor-
kommt. Winwood Reade, der uns von den Negern des westlichen
Afrika ungünstig gefärbte Schilderungen geliefert hat, verschweigt
doch nicht, dass unbeschadet des Neffenerbrechtes in Dahome
und bei den Adiya der Insel Fernando Po der Ehebruch so-
gleich oder im Wiederholungsfall mit dem Tode bestraft wird, ja
er gesteht, dass in Westafrika, wenn ein Mädchen durch Fehltritte
ihre Familie beschimpft hat, Ausstossung aus dem Hordenverband
erfolgt1). Wir begegnen dem Neffenerbrecht ferner bei Völkern,
wie den Irokesen und Huronen, die Proben strenger Enthaltsam-
keit ablegten, denn junge Ehegatten mussten ein ganzes Jahr wie
Bruder und Schwester zusammenleben, um zu beweisen, dass edlere
Neigungen als die Befriedigung von Sinnenlust sie zusammengeführt
hätten2). So äussert auch Joseph Gumilla4) von den Indianern des
Orinoco: „Alle empfinden schwer die Untreue ihrer Frauen, doch die
Cariben allein bestrafen sie exemplarisch, denn die ganze Gemeinde
erschlägt die Schuldigen auf dem öffentlichen Platze“. Ein anderes
Mal aber erzählt er von einer Indianerin, die sich vergiftete, um
nicht die Ehe zu brechen. Ungewissheit über die Vaterschaft kann
auch bei solchen Stämmen nicht zum Neffenerbrecht geführt haben,
welche den Brauch des männlichen Kindbettes beobachten3). Die
Bevorzugung der Schwesterkinder vor den eigenen Leibeserben,
und die Verehrung des Mutterbruders darf also, so lange nicht
strenge Beweise beigebracht werden, nicht als ein Merkmal von
ehelicher Sittenlosigkeit gelten.

Da sich ein schicklicher Platz anderwärts nicht finden dürfte,
sei uns an dieser Stelle der Zusatz verstattet, dass das Küssen
nicht allerorten Brauch ist. Darwin hat bereits mitgetheilt, dass

1) Savage Africa. London. 1863. p. 48. p. 61. p. 261.
2) Lafitau, moeurs des sauvages. tom. I. p. 574. Charlevoix, Nou-
velle France. tom. III. p. 286.
4) El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. p. 71. p. 342. Uebrigens kamen
auch grobe Verachtungen der ehelichen Treue vor. l. c. p. 72.
3) S. oben S. 26.
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[246/0264] Ehe und väterliche Gewalt. wohl aber über die auf väterlicher Seite. Dies klingt freilich, als ob keine eheliche Treue beobachtet worden sei und die lockersten Sitten geherrscht hätten, doch sind wir noch immer geneigt, diese Auffassung lieber einer verkehrten physiologischen Ansicht über die Vaterschaft zuzuschreiben, da das Neffenerbrecht bei so vielen sittenstrengen Völkern, wie den eben genannten Koluschen vor- kommt. Winwood Reade, der uns von den Negern des westlichen Afrika ungünstig gefärbte Schilderungen geliefert hat, verschweigt doch nicht, dass unbeschadet des Neffenerbrechtes in Dahome und bei den Adiya der Insel Fernando Po der Ehebruch so- gleich oder im Wiederholungsfall mit dem Tode bestraft wird, ja er gesteht, dass in Westafrika, wenn ein Mädchen durch Fehltritte ihre Familie beschimpft hat, Ausstossung aus dem Hordenverband erfolgt 1). Wir begegnen dem Neffenerbrecht ferner bei Völkern, wie den Irokesen und Huronen, die Proben strenger Enthaltsam- keit ablegten, denn junge Ehegatten mussten ein ganzes Jahr wie Bruder und Schwester zusammenleben, um zu beweisen, dass edlere Neigungen als die Befriedigung von Sinnenlust sie zusammengeführt hätten 2). So äussert auch Joseph Gumilla 4) von den Indianern des Orinoco: „Alle empfinden schwer die Untreue ihrer Frauen, doch die Cariben allein bestrafen sie exemplarisch, denn die ganze Gemeinde erschlägt die Schuldigen auf dem öffentlichen Platze“. Ein anderes Mal aber erzählt er von einer Indianerin, die sich vergiftete, um nicht die Ehe zu brechen. Ungewissheit über die Vaterschaft kann auch bei solchen Stämmen nicht zum Neffenerbrecht geführt haben, welche den Brauch des männlichen Kindbettes beobachten 3). Die Bevorzugung der Schwesterkinder vor den eigenen Leibeserben, und die Verehrung des Mutterbruders darf also, so lange nicht strenge Beweise beigebracht werden, nicht als ein Merkmal von ehelicher Sittenlosigkeit gelten. Da sich ein schicklicher Platz anderwärts nicht finden dürfte, sei uns an dieser Stelle der Zusatz verstattet, dass das Küssen nicht allerorten Brauch ist. Darwin hat bereits mitgetheilt, dass 1) Savage Africa. London. 1863. p. 48. p. 61. p. 261. 2) Lafitau, moeurs des sauvages. tom. I. p. 574. Charlevoix, Nou- velle France. tom. III. p. 286. 4) El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. p. 71. p. 342. Uebrigens kamen auch grobe Verachtungen der ehelichen Treue vor. l. c. p. 72. 3) S. oben S. 26.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/264>, abgerufen am 29.03.2024.