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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Ehe und väterliche Gewalt.
der Adoption zu, um die Lücke eines erschlagnen Sohnes im Hause
wieder auszufüllen. Daher entschieden die Frauen, ob die Kriegs-
gefangenen am Marterpfahle enden oder in den Stamm aufge-
nommen werden sollten1). Zur Huldigung wurde ihnen sogar die
Entscheidung über Krieg oder Frieden eingeräumt, da ja der
erstere Gelegenheit zum Erwerb von Kriegsgefangenen bieten konnte.
Doch wurde es damit nicht ernst genommen, denn in Wahrheit
erhielten sie gar keine Kenntniss von wichtigen politischen Unter-
nehmungen2). War auch der junge Gatte in den ersten Jahren
seinen Schwiegereltern Dienstleistungen schuldig, so wurde doch
andrerseits wiederum die Ehefrau verpflichtet, auf den Feldern ihrer
Schwiegereltern zu arbeiten und deren Haushalt mit Holz zu ver-
sorgen3). Es trübt daher die klare Auffassung dieser Verhält-
nisse, dass solche Familiensatzungen von dem Jesuiten Lafitau mit
einem strabonischen Worte4), nämlich mit Gynäkokratie bezeichnet
worden sind, als hätten jemals irgendwo in der rauhen Vorzeit die
Frauen im Haus geherrscht und die Männer unter ihrer Gewalt
gestanden. In einem umfangreichen Werke hat J. J. Bachofen so-
gar die wenig glaubwürdige Ansicht zu verbreiten getrachtet, dass
in den Anfängen der menschlichen Gesellschaft die Mütter als Fa-
milienhäupter gegolten hätten, als ob von den sogenannten Natur-
menschen nicht das Recht des Stärkeren, sondern das Recht des
Schwächeren anerkannt worden wäre. Auch hat Bachofen seine Be-
hauptung nicht anders beglaubigen können, als durch Mythen des
Alterthums, denen er eine erzwungene Deutung widerfahren lässt.
Ihm genügt schon, dass die Männer in Altägypten am Webstuhl
sassen, als Beweis einer Weiberherrschaft5), ja den erschöpfenden
Untersuchungen von Martius gegenüber, fährt er noch immer fort zu
behaupten, dass es in Südamerika nicht blos in der erhitzten Phan-
tasie spanischer Entdecker, sondern in Wirklichkeit Amazonen-
gemeinden gegeben habe6).

Die Satzung, dass die Kinder in allen bürgerlichen Beziehungen

1) Charlevoix, Nouvelle France. tom. III. p. 244--245.
2) l. c. p. 269.
3) Lafitau, moeurs des sauvages. Paris 1724. tom. I. p. 561. p. 577.
4) Strabo, Geogr. lib. III, cap. IV. ed. Tauchn. I, 266.
5) J. J. Bachofen, Das Mutterrecht. Stuttgart 1861. §. 53. S. 102.
6) a. a. O. §. 62. S. 127.

Ehe und väterliche Gewalt.
der Adoption zu, um die Lücke eines erschlagnen Sohnes im Hause
wieder auszufüllen. Daher entschieden die Frauen, ob die Kriegs-
gefangenen am Marterpfahle enden oder in den Stamm aufge-
nommen werden sollten1). Zur Huldigung wurde ihnen sogar die
Entscheidung über Krieg oder Frieden eingeräumt, da ja der
erstere Gelegenheit zum Erwerb von Kriegsgefangenen bieten konnte.
Doch wurde es damit nicht ernst genommen, denn in Wahrheit
erhielten sie gar keine Kenntniss von wichtigen politischen Unter-
nehmungen2). War auch der junge Gatte in den ersten Jahren
seinen Schwiegereltern Dienstleistungen schuldig, so wurde doch
andrerseits wiederum die Ehefrau verpflichtet, auf den Feldern ihrer
Schwiegereltern zu arbeiten und deren Haushalt mit Holz zu ver-
sorgen3). Es trübt daher die klare Auffassung dieser Verhält-
nisse, dass solche Familiensatzungen von dem Jesuiten Lafitau mit
einem strabonischen Worte4), nämlich mit Gynäkokratie bezeichnet
worden sind, als hätten jemals irgendwo in der rauhen Vorzeit die
Frauen im Haus geherrscht und die Männer unter ihrer Gewalt
gestanden. In einem umfangreichen Werke hat J. J. Bachofen so-
gar die wenig glaubwürdige Ansicht zu verbreiten getrachtet, dass
in den Anfängen der menschlichen Gesellschaft die Mütter als Fa-
milienhäupter gegolten hätten, als ob von den sogenannten Natur-
menschen nicht das Recht des Stärkeren, sondern das Recht des
Schwächeren anerkannt worden wäre. Auch hat Bachofen seine Be-
hauptung nicht anders beglaubigen können, als durch Mythen des
Alterthums, denen er eine erzwungene Deutung widerfahren lässt.
Ihm genügt schon, dass die Männer in Altägypten am Webstuhl
sassen, als Beweis einer Weiberherrschaft5), ja den erschöpfenden
Untersuchungen von Martius gegenüber, fährt er noch immer fort zu
behaupten, dass es in Südamerika nicht blos in der erhitzten Phan-
tasie spanischer Entdecker, sondern in Wirklichkeit Amazonen-
gemeinden gegeben habe6).

Die Satzung, dass die Kinder in allen bürgerlichen Beziehungen

1) Charlevoix, Nouvelle France. tom. III. p. 244—245.
2) l. c. p. 269.
3) Lafitau, moeurs des sauvages. Paris 1724. tom. I. p. 561. p. 577.
4) Strabo, Geogr. lib. III, cap. IV. ed. Tauchn. I, 266.
5) J. J. Bachofen, Das Mutterrecht. Stuttgart 1861. §. 53. S. 102.
6) a. a. O. §. 62. S. 127.
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[244/0262] Ehe und väterliche Gewalt. der Adoption zu, um die Lücke eines erschlagnen Sohnes im Hause wieder auszufüllen. Daher entschieden die Frauen, ob die Kriegs- gefangenen am Marterpfahle enden oder in den Stamm aufge- nommen werden sollten 1). Zur Huldigung wurde ihnen sogar die Entscheidung über Krieg oder Frieden eingeräumt, da ja der erstere Gelegenheit zum Erwerb von Kriegsgefangenen bieten konnte. Doch wurde es damit nicht ernst genommen, denn in Wahrheit erhielten sie gar keine Kenntniss von wichtigen politischen Unter- nehmungen 2). War auch der junge Gatte in den ersten Jahren seinen Schwiegereltern Dienstleistungen schuldig, so wurde doch andrerseits wiederum die Ehefrau verpflichtet, auf den Feldern ihrer Schwiegereltern zu arbeiten und deren Haushalt mit Holz zu ver- sorgen 3). Es trübt daher die klare Auffassung dieser Verhält- nisse, dass solche Familiensatzungen von dem Jesuiten Lafitau mit einem strabonischen Worte 4), nämlich mit Gynäkokratie bezeichnet worden sind, als hätten jemals irgendwo in der rauhen Vorzeit die Frauen im Haus geherrscht und die Männer unter ihrer Gewalt gestanden. In einem umfangreichen Werke hat J. J. Bachofen so- gar die wenig glaubwürdige Ansicht zu verbreiten getrachtet, dass in den Anfängen der menschlichen Gesellschaft die Mütter als Fa- milienhäupter gegolten hätten, als ob von den sogenannten Natur- menschen nicht das Recht des Stärkeren, sondern das Recht des Schwächeren anerkannt worden wäre. Auch hat Bachofen seine Be- hauptung nicht anders beglaubigen können, als durch Mythen des Alterthums, denen er eine erzwungene Deutung widerfahren lässt. Ihm genügt schon, dass die Männer in Altägypten am Webstuhl sassen, als Beweis einer Weiberherrschaft 5), ja den erschöpfenden Untersuchungen von Martius gegenüber, fährt er noch immer fort zu behaupten, dass es in Südamerika nicht blos in der erhitzten Phan- tasie spanischer Entdecker, sondern in Wirklichkeit Amazonen- gemeinden gegeben habe 6). Die Satzung, dass die Kinder in allen bürgerlichen Beziehungen 1) Charlevoix, Nouvelle France. tom. III. p. 244—245. 2) l. c. p. 269. 3) Lafitau, moeurs des sauvages. Paris 1724. tom. I. p. 561. p. 577. 4) Strabo, Geogr. lib. III, cap. IV. ed. Tauchn. I, 266. 5) J. J. Bachofen, Das Mutterrecht. Stuttgart 1861. §. 53. S. 102. 6) a. a. O. §. 62. S. 127.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/262>, abgerufen am 29.03.2024.