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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Ehe und väterliche Gewalt.

Gegenwärtig gebührt fast allerorten dem Erzeuger die väter-
liche Gewalt über seine Nachkommen, auch übt er bei roheren
Völkern fast stets über die Frau die Rechte eines Leibherrn aus.
Dennoch gibt es eine Mehrzahl von Völkerschaften, bei denen alle
Familienrechte von der Mutter abgeleitet werden. Wie Bosman von
der Goldküste berichtet, folgen der Mutter alle Kinder in dem gleichen
Stand, wer auch immer der Vater sei. Sie werden für frei erachtet,
wenn ihre Mutter frei, und für Sklaven, wenn sie eine Sklavin war1).
Dasselbe Recht galt bei den alten Lyciern, die sich auch nicht
nach ihrem Vater, sondern nach ihrer Mutter nannten2). Ebenso
vererben in Australien die Familiennamen immer von mütterlicher
Seite sammt der Kaste3). Nicht anders halten es die Fidschi4),
die Maori Neu-Seelands, sowie die Mikronesier des Marshall-Archipels,
bei denen Adel oder Rang von der Mutter ererbt wird5). Aehnliche
Rechtsanschauungen gelten dort, wo der junge Ehemann das Haus
seiner Schwiegereltern bezieht und in ihre Familie übertritt. Dies ge-
schieht bei den Dayaken Borneos und recht bezeichnend ist es,
dass dort der Schwiegervater höher geehrt wird als der eigne Er-
zeuger6). Bei den Itelmen Kamtschatkas gehörte ebenfalls der Gatte
zum Ostrog seiner Frau7). Solche Familiensatzungen waren auch
weit verbreitet in Amerika. In Guayana folgte das Kind in allen
bürgerlichen Beziehungen der Mutter, so dass die Nachkommen
einer Macuschi-Indianerin und eines Wapischiana zur Horde der
Macuschi, nicht zu dem väterlichen Stamm, gerechnet wurden8).
Noch schärfer gestalteten sich diese Rechtsanschauungen unter den
nordamerikanischen Irokesen und Huronen. Die Verwandtschaft
zum Vater wurde als sehr schwach angesehen, und die Kinder
blieben von der Mutter abhängig9). Dieser allein stand das Recht

1) Guinese Goud-Tand-en Slave-kust. Utrecht 1704. p. 184.
2) Herodot, lib. I. cap. 173.
3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 788. Einige andere Beispiele
dieser Art finden sich bei A. Bastian, Rechtsverhältnisse. Berlin 1872. S. 171
4) Ausland. 1859. S. 89 nach Williams.
5) D. G. Monrad, Das alte Neuseeland. Bremen 1871. S. 24. Journal
des Museum Godeffroy. Hamburg 1873. Heft 1. S. 36.
6) Spenser St. John, Life in the forests of the Far East. London 1862.
vol. I. p. 50--51.
7) G. Steller, Kamtschatka. S. 346.
8) Appun im Ausland. 1872. S. 683.
9) Charlevoix, Nouvelle France. tom. III. p. 287.
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Ehe und väterliche Gewalt.

Gegenwärtig gebührt fast allerorten dem Erzeuger die väter-
liche Gewalt über seine Nachkommen, auch übt er bei roheren
Völkern fast stets über die Frau die Rechte eines Leibherrn aus.
Dennoch gibt es eine Mehrzahl von Völkerschaften, bei denen alle
Familienrechte von der Mutter abgeleitet werden. Wie Bosman von
der Goldküste berichtet, folgen der Mutter alle Kinder in dem gleichen
Stand, wer auch immer der Vater sei. Sie werden für frei erachtet,
wenn ihre Mutter frei, und für Sklaven, wenn sie eine Sklavin war1).
Dasselbe Recht galt bei den alten Lyciern, die sich auch nicht
nach ihrem Vater, sondern nach ihrer Mutter nannten2). Ebenso
vererben in Australien die Familiennamen immer von mütterlicher
Seite sammt der Kaste3). Nicht anders halten es die Fidschi4),
die Maori Neu-Seelands, sowie die Mikronesier des Marshall-Archipels,
bei denen Adel oder Rang von der Mutter ererbt wird5). Aehnliche
Rechtsanschauungen gelten dort, wo der junge Ehemann das Haus
seiner Schwiegereltern bezieht und in ihre Familie übertritt. Dies ge-
schieht bei den Dayaken Borneos und recht bezeichnend ist es,
dass dort der Schwiegervater höher geehrt wird als der eigne Er-
zeuger6). Bei den Itelmen Kamtschatkas gehörte ebenfalls der Gatte
zum Ostrog seiner Frau7). Solche Familiensatzungen waren auch
weit verbreitet in Amerika. In Guayana folgte das Kind in allen
bürgerlichen Beziehungen der Mutter, so dass die Nachkommen
einer Macuschi-Indianerin und eines Wapischiana zur Horde der
Macuschi, nicht zu dem väterlichen Stamm, gerechnet wurden8).
Noch schärfer gestalteten sich diese Rechtsanschauungen unter den
nordamerikanischen Irokesen und Huronen. Die Verwandtschaft
zum Vater wurde als sehr schwach angesehen, und die Kinder
blieben von der Mutter abhängig9). Dieser allein stand das Recht

1) Guinese Goud-Tand-en Slave-kust. Utrecht 1704. p. 184.
2) Herodot, lib. I. cap. 173.
3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 788. Einige andere Beispiele
dieser Art finden sich bei A. Bastian, Rechtsverhältnisse. Berlin 1872. S. 171
4) Ausland. 1859. S. 89 nach Williams.
5) D. G. Monrad, Das alte Neuseeland. Bremen 1871. S. 24. Journal
des Museum Godeffroy. Hamburg 1873. Heft 1. S. 36.
6) Spenser St. John, Life in the forests of the Far East. London 1862.
vol. I. p. 50—51.
7) G. Steller, Kamtschatka. S. 346.
8) Appun im Ausland. 1872. S. 683.
9) Charlevoix, Nouvelle France. tom. III. p. 287.
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[243/0261] Ehe und väterliche Gewalt. Gegenwärtig gebührt fast allerorten dem Erzeuger die väter- liche Gewalt über seine Nachkommen, auch übt er bei roheren Völkern fast stets über die Frau die Rechte eines Leibherrn aus. Dennoch gibt es eine Mehrzahl von Völkerschaften, bei denen alle Familienrechte von der Mutter abgeleitet werden. Wie Bosman von der Goldküste berichtet, folgen der Mutter alle Kinder in dem gleichen Stand, wer auch immer der Vater sei. Sie werden für frei erachtet, wenn ihre Mutter frei, und für Sklaven, wenn sie eine Sklavin war 1). Dasselbe Recht galt bei den alten Lyciern, die sich auch nicht nach ihrem Vater, sondern nach ihrer Mutter nannten 2). Ebenso vererben in Australien die Familiennamen immer von mütterlicher Seite sammt der Kaste 3). Nicht anders halten es die Fidschi 4), die Maori Neu-Seelands, sowie die Mikronesier des Marshall-Archipels, bei denen Adel oder Rang von der Mutter ererbt wird 5). Aehnliche Rechtsanschauungen gelten dort, wo der junge Ehemann das Haus seiner Schwiegereltern bezieht und in ihre Familie übertritt. Dies ge- schieht bei den Dayaken Borneos und recht bezeichnend ist es, dass dort der Schwiegervater höher geehrt wird als der eigne Er- zeuger 6). Bei den Itelmen Kamtschatkas gehörte ebenfalls der Gatte zum Ostrog seiner Frau 7). Solche Familiensatzungen waren auch weit verbreitet in Amerika. In Guayana folgte das Kind in allen bürgerlichen Beziehungen der Mutter, so dass die Nachkommen einer Macuschi-Indianerin und eines Wapischiana zur Horde der Macuschi, nicht zu dem väterlichen Stamm, gerechnet wurden 8). Noch schärfer gestalteten sich diese Rechtsanschauungen unter den nordamerikanischen Irokesen und Huronen. Die Verwandtschaft zum Vater wurde als sehr schwach angesehen, und die Kinder blieben von der Mutter abhängig 9). Dieser allein stand das Recht 1) Guinese Goud-Tand-en Slave-kust. Utrecht 1704. p. 184. 2) Herodot, lib. I. cap. 173. 3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 788. Einige andere Beispiele dieser Art finden sich bei A. Bastian, Rechtsverhältnisse. Berlin 1872. S. 171 4) Ausland. 1859. S. 89 nach Williams. 5) D. G. Monrad, Das alte Neuseeland. Bremen 1871. S. 24. Journal des Museum Godeffroy. Hamburg 1873. Heft 1. S. 36. 6) Spenser St. John, Life in the forests of the Far East. London 1862. vol. I. p. 50—51. 7) G. Steller, Kamtschatka. S. 346. 8) Appun im Ausland. 1872. S. 683. 9) Charlevoix, Nouvelle France. tom. III. p. 287. 16*

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/261>, abgerufen am 24.04.2024.