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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Ehe und väterliche Gewalt.
Tochter nennt. Fügen wir hinzu, dass bei den 80 amerikanischen
Sprachen, die Morgan untersucht hat, mit nur zwei Ausnahmen
Sonderausdrücke vorhanden sind, mit denen die Frau den Bruder
ihres Mannes und den Gemahl ihrer Schwester als Schwager be-
zeichnet1), folglich zwischen Brüdern keine Frauengemeinschaft,
zwischen Schwestern keine Gattengemeinschaft bestand. Gerade
bei Völkerschaften mit urzeitlichen Zuständen haben wir eine
ausserordentlich entwickelte Scheu vor blutschänderischen Ehen
bemerkt. Ferner konnte Frauengemeinschaft oder Vielmännerei
unter solchen Menschenstämmen nicht bestehen, bei denen das männ-
liche Kindbett2) vorgeschrieben wurde. Erwägen wir ferner, dass
sämmtliche Sprachen, in denen die Anrede Vater, Bruder, Sohn,
Familiengliedern zukommt, je nachdem sie von einem gemein-
samen Ahnherrn in einem höheren, gleichen oder ferneren Grade
abstammen, mit Sondernamen den ältern und jüngern Bruder
oder Vatersbruder, die ältere oder jüngere Schwester oder Mutter-
schwester unterscheiden, so muss es uns klar werden, dass nicht
die Grade der Blutnähe, sondern die Zeitfolge der Geschlechter
und der Rang innerhalb der Familie bezeichnet werden sollten,
weil sich an diese Stufen wichtige Folgen für den häuslichen Um-
gang, nämlich das höhere Ansehen der Aelteren und was noch
wahrscheinlicher ist, strengere oder schwächere Pflichten der Blut-
rache knüpften. Es ist obendrein bekannt, dass die Eingebornen
der heutigen nordamerikanischen Union blutige Kriege führten und
feierliche Verträge zu dem Zwecke schlossen, welche Nation der
andern die Anrede Grossväter, Onkel, jüngere Brüder zu ertheilen
habe. Anderwärts bildeten die Abkömmlinge eines gemeinsamen
Ahnherrn oder einer gemeinsamen Ahnmutter eine Rechtsgenossen-
schaft mit gegenseitiger Haftbarkeit. Wurde bei den Negern der
Goldküste einem Verurtheilten eine Geldbusse auferlegt, und konnte
er sie nicht erschwingen, so wurde der Vater und der Onkel oder
andre Verwandte in Mitleidenschaft gezogen, erforderlichen Falls
als Sklaven verkauft3). Aehnlich hatte auf den Palau-Inseln jedes
älteste Familienhaupt für die Seinigen einzutreten4).

1) Morgan, Systems. p. 378.
2) S. oben S. 26.
3) Bosman, Guinese Goud-Tand-en Slavekust. Utrecht 1704. tom. I.
p. 195 u. Winwood Reade, Savage Africa. London 1863. p. 135.
4) C. Semper, Palau-Inseln. S. 181.

Ehe und väterliche Gewalt.
Tochter nennt. Fügen wir hinzu, dass bei den 80 amerikanischen
Sprachen, die Morgan untersucht hat, mit nur zwei Ausnahmen
Sonderausdrücke vorhanden sind, mit denen die Frau den Bruder
ihres Mannes und den Gemahl ihrer Schwester als Schwager be-
zeichnet1), folglich zwischen Brüdern keine Frauengemeinschaft,
zwischen Schwestern keine Gattengemeinschaft bestand. Gerade
bei Völkerschaften mit urzeitlichen Zuständen haben wir eine
ausserordentlich entwickelte Scheu vor blutschänderischen Ehen
bemerkt. Ferner konnte Frauengemeinschaft oder Vielmännerei
unter solchen Menschenstämmen nicht bestehen, bei denen das männ-
liche Kindbett2) vorgeschrieben wurde. Erwägen wir ferner, dass
sämmtliche Sprachen, in denen die Anrede Vater, Bruder, Sohn,
Familiengliedern zukommt, je nachdem sie von einem gemein-
samen Ahnherrn in einem höheren, gleichen oder ferneren Grade
abstammen, mit Sondernamen den ältern und jüngern Bruder
oder Vatersbruder, die ältere oder jüngere Schwester oder Mutter-
schwester unterscheiden, so muss es uns klar werden, dass nicht
die Grade der Blutnähe, sondern die Zeitfolge der Geschlechter
und der Rang innerhalb der Familie bezeichnet werden sollten,
weil sich an diese Stufen wichtige Folgen für den häuslichen Um-
gang, nämlich das höhere Ansehen der Aelteren und was noch
wahrscheinlicher ist, strengere oder schwächere Pflichten der Blut-
rache knüpften. Es ist obendrein bekannt, dass die Eingebornen
der heutigen nordamerikanischen Union blutige Kriege führten und
feierliche Verträge zu dem Zwecke schlossen, welche Nation der
andern die Anrede Grossväter, Onkel, jüngere Brüder zu ertheilen
habe. Anderwärts bildeten die Abkömmlinge eines gemeinsamen
Ahnherrn oder einer gemeinsamen Ahnmutter eine Rechtsgenossen-
schaft mit gegenseitiger Haftbarkeit. Wurde bei den Negern der
Goldküste einem Verurtheilten eine Geldbusse auferlegt, und konnte
er sie nicht erschwingen, so wurde der Vater und der Onkel oder
andre Verwandte in Mitleidenschaft gezogen, erforderlichen Falls
als Sklaven verkauft3). Aehnlich hatte auf den Palau-Inseln jedes
älteste Familienhaupt für die Seinigen einzutreten4).

1) Morgan, Systems. p. 378.
2) S. oben S. 26.
3) Bosman, Guinese Goud-Tand-en Slavekust. Utrecht 1704. tom. I.
p. 195 u. Winwood Reade, Savage Africa. London 1863. p. 135.
4) C. Semper, Palau-Inseln. S. 181.
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[242/0260] Ehe und väterliche Gewalt. Tochter nennt. Fügen wir hinzu, dass bei den 80 amerikanischen Sprachen, die Morgan untersucht hat, mit nur zwei Ausnahmen Sonderausdrücke vorhanden sind, mit denen die Frau den Bruder ihres Mannes und den Gemahl ihrer Schwester als Schwager be- zeichnet 1), folglich zwischen Brüdern keine Frauengemeinschaft, zwischen Schwestern keine Gattengemeinschaft bestand. Gerade bei Völkerschaften mit urzeitlichen Zuständen haben wir eine ausserordentlich entwickelte Scheu vor blutschänderischen Ehen bemerkt. Ferner konnte Frauengemeinschaft oder Vielmännerei unter solchen Menschenstämmen nicht bestehen, bei denen das männ- liche Kindbett 2) vorgeschrieben wurde. Erwägen wir ferner, dass sämmtliche Sprachen, in denen die Anrede Vater, Bruder, Sohn, Familiengliedern zukommt, je nachdem sie von einem gemein- samen Ahnherrn in einem höheren, gleichen oder ferneren Grade abstammen, mit Sondernamen den ältern und jüngern Bruder oder Vatersbruder, die ältere oder jüngere Schwester oder Mutter- schwester unterscheiden, so muss es uns klar werden, dass nicht die Grade der Blutnähe, sondern die Zeitfolge der Geschlechter und der Rang innerhalb der Familie bezeichnet werden sollten, weil sich an diese Stufen wichtige Folgen für den häuslichen Um- gang, nämlich das höhere Ansehen der Aelteren und was noch wahrscheinlicher ist, strengere oder schwächere Pflichten der Blut- rache knüpften. Es ist obendrein bekannt, dass die Eingebornen der heutigen nordamerikanischen Union blutige Kriege führten und feierliche Verträge zu dem Zwecke schlossen, welche Nation der andern die Anrede Grossväter, Onkel, jüngere Brüder zu ertheilen habe. Anderwärts bildeten die Abkömmlinge eines gemeinsamen Ahnherrn oder einer gemeinsamen Ahnmutter eine Rechtsgenossen- schaft mit gegenseitiger Haftbarkeit. Wurde bei den Negern der Goldküste einem Verurtheilten eine Geldbusse auferlegt, und konnte er sie nicht erschwingen, so wurde der Vater und der Onkel oder andre Verwandte in Mitleidenschaft gezogen, erforderlichen Falls als Sklaven verkauft 3). Aehnlich hatte auf den Palau-Inseln jedes älteste Familienhaupt für die Seinigen einzutreten 4). 1) Morgan, Systems. p. 378. 2) S. oben S. 26. 3) Bosman, Guinese Goud-Tand-en Slavekust. Utrecht 1704. tom. I. p. 195 u. Winwood Reade, Savage Africa. London 1863. p. 135. 4) C. Semper, Palau-Inseln. S. 181.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/260>, abgerufen am 25.04.2024.