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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Ehe und väterliche Gewalt.

Sir John Lubbock hat zu behaupten gewagt, dass die Men-
schen in dem Urzustande eheliches Zusammenleben nicht gepflogen
haben, sondern dass die Frauen einer Horde Gemeingut aller
Männer gewesen sein sollen. Für diesen hässlichen Gedanken hat
er auch das hässliche Wort gefunden, denn er bezeichnet solche
Zustände als Hetärismus. Reste davon will er noch in Austra-
lien wieder erkennen, indem er sich auf Aeusserungen John
Eyre's bezieht1). Allerdings könnte ein besserer Gewährsmann
kaum gefunden werden, denn beseelt von Theilnahme für jene
aussterbenden Menschenstämme würde er gewiss nicht aus Ge-
hässigkeit oder Leichtsinn ungünstige Thatsachen über sie berichtet
haben. John Eyre überzeugt uns wirklich, dass die Australier,
mit welchen er bekannt geworden war, auf die eheliche Treue
ihrer Frauen keinen Werth legten. Was er aber mittheilt, bezieht
sich doch nur auf Stämme in der Nähe des Murrayflusses, die
mit europäischen Ansiedlern schon vielfach verkehrten. Ein sol-
cher Verkehr hat aber fast allerorten die besten Sitten der Ein-
gebornen verdorben. Ausserdem steht in Widerspruch mit den
angeblich hetäristischen Gewohnheiten, dass nach Eyre's eignen
Worten2) die väterliche Gewalt eine ganz unbeschränkte sein soll,
sowie andrerseits die von ihm mitgetheilten Züge leidenschaftlicher
Zärtlichkeit von Vätern für ihre Kinder. Von andern Beobach-
tern werden gerade die australischen Männer der Eifersucht ge-
ziehen und behauptet, dass sie sich am Ehebrecher blutig räch-
ten3). Neumayer endlich, der oft unter Eingebornen übernachtete,
will nie eine Verletzung des Anstandes oder besserer Sitten wahr-
genommen haben4). Erinnern wir uns ferner, dass die Australier
aus Scheu vor Blutnähe nur Frauen mit einem andern Familien-
namen ehelichen, so werden hetäristische Zustände sehr unwahr-
scheinlich und wir dürfen die von Eyre mitgetheilten Thatsachen
als eine örtliche Sittenverwilderung betrachten, die nur dem Süden
des Welttheiles angehört, denn dort giebt es wirklich Stämme,
unter denen die Brüder des Mannes der Ehefrau den gleichen
Namen geben5).

1) Central Australia. London 1845. tom. II, p. 320.
2) l. c. tom. II, p. 307.
3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 774.
4) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1871. S. 71.
5) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 774.
Ehe und väterliche Gewalt.

Sir John Lubbock hat zu behaupten gewagt, dass die Men-
schen in dem Urzustande eheliches Zusammenleben nicht gepflogen
haben, sondern dass die Frauen einer Horde Gemeingut aller
Männer gewesen sein sollen. Für diesen hässlichen Gedanken hat
er auch das hässliche Wort gefunden, denn er bezeichnet solche
Zustände als Hetärismus. Reste davon will er noch in Austra-
lien wieder erkennen, indem er sich auf Aeusserungen John
Eyre’s bezieht1). Allerdings könnte ein besserer Gewährsmann
kaum gefunden werden, denn beseelt von Theilnahme für jene
aussterbenden Menschenstämme würde er gewiss nicht aus Ge-
hässigkeit oder Leichtsinn ungünstige Thatsachen über sie berichtet
haben. John Eyre überzeugt uns wirklich, dass die Australier,
mit welchen er bekannt geworden war, auf die eheliche Treue
ihrer Frauen keinen Werth legten. Was er aber mittheilt, bezieht
sich doch nur auf Stämme in der Nähe des Murrayflusses, die
mit europäischen Ansiedlern schon vielfach verkehrten. Ein sol-
cher Verkehr hat aber fast allerorten die besten Sitten der Ein-
gebornen verdorben. Ausserdem steht in Widerspruch mit den
angeblich hetäristischen Gewohnheiten, dass nach Eyre’s eignen
Worten2) die väterliche Gewalt eine ganz unbeschränkte sein soll,
sowie andrerseits die von ihm mitgetheilten Züge leidenschaftlicher
Zärtlichkeit von Vätern für ihre Kinder. Von andern Beobach-
tern werden gerade die australischen Männer der Eifersucht ge-
ziehen und behauptet, dass sie sich am Ehebrecher blutig räch-
ten3). Neumayer endlich, der oft unter Eingebornen übernachtete,
will nie eine Verletzung des Anstandes oder besserer Sitten wahr-
genommen haben4). Erinnern wir uns ferner, dass die Australier
aus Scheu vor Blutnähe nur Frauen mit einem andern Familien-
namen ehelichen, so werden hetäristische Zustände sehr unwahr-
scheinlich und wir dürfen die von Eyre mitgetheilten Thatsachen
als eine örtliche Sittenverwilderung betrachten, die nur dem Süden
des Welttheiles angehört, denn dort giebt es wirklich Stämme,
unter denen die Brüder des Mannes der Ehefrau den gleichen
Namen geben5).

1) Central Australia. London 1845. tom. II, p. 320.
2) l. c. tom. II, p. 307.
3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 774.
4) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1871. S. 71.
5) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 774.
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[238/0256] Ehe und väterliche Gewalt. Sir John Lubbock hat zu behaupten gewagt, dass die Men- schen in dem Urzustande eheliches Zusammenleben nicht gepflogen haben, sondern dass die Frauen einer Horde Gemeingut aller Männer gewesen sein sollen. Für diesen hässlichen Gedanken hat er auch das hässliche Wort gefunden, denn er bezeichnet solche Zustände als Hetärismus. Reste davon will er noch in Austra- lien wieder erkennen, indem er sich auf Aeusserungen John Eyre’s bezieht 1). Allerdings könnte ein besserer Gewährsmann kaum gefunden werden, denn beseelt von Theilnahme für jene aussterbenden Menschenstämme würde er gewiss nicht aus Ge- hässigkeit oder Leichtsinn ungünstige Thatsachen über sie berichtet haben. John Eyre überzeugt uns wirklich, dass die Australier, mit welchen er bekannt geworden war, auf die eheliche Treue ihrer Frauen keinen Werth legten. Was er aber mittheilt, bezieht sich doch nur auf Stämme in der Nähe des Murrayflusses, die mit europäischen Ansiedlern schon vielfach verkehrten. Ein sol- cher Verkehr hat aber fast allerorten die besten Sitten der Ein- gebornen verdorben. Ausserdem steht in Widerspruch mit den angeblich hetäristischen Gewohnheiten, dass nach Eyre’s eignen Worten 2) die väterliche Gewalt eine ganz unbeschränkte sein soll, sowie andrerseits die von ihm mitgetheilten Züge leidenschaftlicher Zärtlichkeit von Vätern für ihre Kinder. Von andern Beobach- tern werden gerade die australischen Männer der Eifersucht ge- ziehen und behauptet, dass sie sich am Ehebrecher blutig räch- ten 3). Neumayer endlich, der oft unter Eingebornen übernachtete, will nie eine Verletzung des Anstandes oder besserer Sitten wahr- genommen haben 4). Erinnern wir uns ferner, dass die Australier aus Scheu vor Blutnähe nur Frauen mit einem andern Familien- namen ehelichen, so werden hetäristische Zustände sehr unwahr- scheinlich und wir dürfen die von Eyre mitgetheilten Thatsachen als eine örtliche Sittenverwilderung betrachten, die nur dem Süden des Welttheiles angehört, denn dort giebt es wirklich Stämme, unter denen die Brüder des Mannes der Ehefrau den gleichen Namen geben 5). 1) Central Australia. London 1845. tom. II, p. 320. 2) l. c. tom. II, p. 307. 3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 774. 4) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1871. S. 71. 5) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 774.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/256>, abgerufen am 19.04.2024.