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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Ehe und väterliche Gewalt.
wöhnlich die fremden Horden trennte, konnte nur eine gewaltsame
Entführung die Ehe begründen. Sehr schwache Kenntnisse verrathen
uns daher solche Ethnographen, welche den Australiern diese Sitte
als Rohheit anrechnen, zumal ihre Frauen den Vollzug des alten Brau-
ches nicht als Misshandlung, sondern als eine Huldigung betrachten,
und er zu den beliebten Jugendspielen zwischen Knaben und Mäd-
chen gehört1). Die gleiche Sitte herrschte bei den ausgestorbenen
Tasmaniern2), sowie bei den Papuanen Neu-Guineas3) und der
Fidschiinseln4), ferner bei den Ainos auf den Kurilen5) und bei den
Feuerländern6). Jeder Ostjake und Samojede7), jeder Lappe8) noch
heutigen Tages, wie in Vorzeiten die Finnen (Suomi) muss sich
mit List oder Gewalt eines Mädchens aus fremdem Stamm be-
mächtigen. Kein Völkerkundiger wird uns wohl widersprechen,
wenn wir die Erzählung des Livius vom Raub der Sabinerinnen
als die verdunkelte Erinnerung einer alten römischen Sitte deuten,
welche auch bei ihnen die Heirathen innerhalb der Stammes-
gemeinde verbot. In späteren bequemeren Zeiten wurde der Raub
nur noch als eine Hochzeitsposse beibehalten. Campbell sah eines
Abends in Khondistan einen Burschen, auf der Schulter eine Last
in Scharlachtuch gehüllt, davon tragen, verfolgt von einem Haufen
Frauen und Dirnen, die ihm Steine, Bambustücke und andere Ge-
schosse nachschleuderten. Es ergab sich dann später, dass der
Dulder, auf der Hochzeitsreise begriffen, in dem Scharlachzeuge
sein junges Weib trug, und das Ganze als Schaustück die Ver-
folgung eines Frauenräubers bedeutete9). Zuletzt wird aus dem
Raub nur ein Fangspiel zwischen Braut und Bräutigam, dessen
Ausgang stets im Voraus verabredet wird, doch soll bei den Maori
Neu-Seelands ein Mädchen, die bei einer solchen Gelegenheit zu
entschlüpfen den ernsten Willen hat, einem unwillkommenen Be-

1) Dumont d'Urville, Voyage de l'Astrolabe. Paris 1830. vol. 1. p. 411.
2) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 813.
3) l. c. S. 633.
4) Williams im Ausland. 1859 S. 113.
5) Mittheilungen der Wiener geogr. Gesellschaft. 1872. No. 12. Bd. 15.
(Neue Folge.) S. 561.
6) W. Parker Snow, Off Tierra del Fuego. vol. II, p. 359.
7) Castren l. c. S. 10.
8) J. A. Frijs, Wanderungen in den drei Lappländern. Globus 1872.
Bd. XXII. No. 1. S. 52.
9) Campbell, Khondistan. p. 44.

Ehe und väterliche Gewalt.
wöhnlich die fremden Horden trennte, konnte nur eine gewaltsame
Entführung die Ehe begründen. Sehr schwache Kenntnisse verrathen
uns daher solche Ethnographen, welche den Australiern diese Sitte
als Rohheit anrechnen, zumal ihre Frauen den Vollzug des alten Brau-
ches nicht als Misshandlung, sondern als eine Huldigung betrachten,
und er zu den beliebten Jugendspielen zwischen Knaben und Mäd-
chen gehört1). Die gleiche Sitte herrschte bei den ausgestorbenen
Tasmaniern2), sowie bei den Papuanen Neu-Guineas3) und der
Fidschiinseln4), ferner bei den Ainos auf den Kurilen5) und bei den
Feuerländern6). Jeder Ostjake und Samojede7), jeder Lappe8) noch
heutigen Tages, wie in Vorzeiten die Finnen (Suomi) muss sich
mit List oder Gewalt eines Mädchens aus fremdem Stamm be-
mächtigen. Kein Völkerkundiger wird uns wohl widersprechen,
wenn wir die Erzählung des Livius vom Raub der Sabinerinnen
als die verdunkelte Erinnerung einer alten römischen Sitte deuten,
welche auch bei ihnen die Heirathen innerhalb der Stammes-
gemeinde verbot. In späteren bequemeren Zeiten wurde der Raub
nur noch als eine Hochzeitsposse beibehalten. Campbell sah eines
Abends in Khondistan einen Burschen, auf der Schulter eine Last
in Scharlachtuch gehüllt, davon tragen, verfolgt von einem Haufen
Frauen und Dirnen, die ihm Steine, Bambustücke und andere Ge-
schosse nachschleuderten. Es ergab sich dann später, dass der
Dulder, auf der Hochzeitsreise begriffen, in dem Scharlachzeuge
sein junges Weib trug, und das Ganze als Schaustück die Ver-
folgung eines Frauenräubers bedeutete9). Zuletzt wird aus dem
Raub nur ein Fangspiel zwischen Braut und Bräutigam, dessen
Ausgang stets im Voraus verabredet wird, doch soll bei den Maori
Neu-Seelands ein Mädchen, die bei einer solchen Gelegenheit zu
entschlüpfen den ernsten Willen hat, einem unwillkommenen Be-

1) Dumont d’Urville, Voyage de l’Astrolabe. Paris 1830. vol. 1. p. 411.
2) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 813.
3) l. c. S. 633.
4) Williams im Ausland. 1859 S. 113.
5) Mittheilungen der Wiener geogr. Gesellschaft. 1872. No. 12. Bd. 15.
(Neue Folge.) S. 561.
6) W. Parker Snow, Off Tierra del Fuego. vol. II, p. 359.
7) Castrén l. c. S. 10.
8) J. A. Frijs, Wanderungen in den drei Lappländern. Globus 1872.
Bd. XXII. No. 1. S. 52.
9) Campbell, Khondistan. p. 44.
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[235/0253] Ehe und väterliche Gewalt. wöhnlich die fremden Horden trennte, konnte nur eine gewaltsame Entführung die Ehe begründen. Sehr schwache Kenntnisse verrathen uns daher solche Ethnographen, welche den Australiern diese Sitte als Rohheit anrechnen, zumal ihre Frauen den Vollzug des alten Brau- ches nicht als Misshandlung, sondern als eine Huldigung betrachten, und er zu den beliebten Jugendspielen zwischen Knaben und Mäd- chen gehört 1). Die gleiche Sitte herrschte bei den ausgestorbenen Tasmaniern 2), sowie bei den Papuanen Neu-Guineas 3) und der Fidschiinseln 4), ferner bei den Ainos auf den Kurilen 5) und bei den Feuerländern 6). Jeder Ostjake und Samojede 7), jeder Lappe 8) noch heutigen Tages, wie in Vorzeiten die Finnen (Suomi) muss sich mit List oder Gewalt eines Mädchens aus fremdem Stamm be- mächtigen. Kein Völkerkundiger wird uns wohl widersprechen, wenn wir die Erzählung des Livius vom Raub der Sabinerinnen als die verdunkelte Erinnerung einer alten römischen Sitte deuten, welche auch bei ihnen die Heirathen innerhalb der Stammes- gemeinde verbot. In späteren bequemeren Zeiten wurde der Raub nur noch als eine Hochzeitsposse beibehalten. Campbell sah eines Abends in Khondistan einen Burschen, auf der Schulter eine Last in Scharlachtuch gehüllt, davon tragen, verfolgt von einem Haufen Frauen und Dirnen, die ihm Steine, Bambustücke und andere Ge- schosse nachschleuderten. Es ergab sich dann später, dass der Dulder, auf der Hochzeitsreise begriffen, in dem Scharlachzeuge sein junges Weib trug, und das Ganze als Schaustück die Ver- folgung eines Frauenräubers bedeutete 9). Zuletzt wird aus dem Raub nur ein Fangspiel zwischen Braut und Bräutigam, dessen Ausgang stets im Voraus verabredet wird, doch soll bei den Maori Neu-Seelands ein Mädchen, die bei einer solchen Gelegenheit zu entschlüpfen den ernsten Willen hat, einem unwillkommenen Be- 1) Dumont d’Urville, Voyage de l’Astrolabe. Paris 1830. vol. 1. p. 411. 2) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 813. 3) l. c. S. 633. 4) Williams im Ausland. 1859 S. 113. 5) Mittheilungen der Wiener geogr. Gesellschaft. 1872. No. 12. Bd. 15. (Neue Folge.) S. 561. 6) W. Parker Snow, Off Tierra del Fuego. vol. II, p. 359. 7) Castrén l. c. S. 10. 8) J. A. Frijs, Wanderungen in den drei Lappländern. Globus 1872. Bd. XXII. No. 1. S. 52. 9) Campbell, Khondistan. p. 44.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/253>, abgerufen am 25.04.2024.