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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Ehe und väterliche Gewalt.

Allein solche Erfahrungen, die langwierige Beobachtung voraus-
setzen, konnten unstäte und kindlich sorglose Menschenstämme
nicht gewinnen und gerade bei ihnen ist der Abscheu vor Blut-
schande am schärfsten entwickelt. Gewiss sollten wir in diesem
Sinne nichts strenger vermeiden als die Ehe mit der Schwester,
die uns, was die Blutmischung anbetrifft, ganz gleich und noch
einmal so nahe steht, als Mutter oder Tochter, mit denen unser
Organismus, seiner Ableitung nach, doch nur zur Hälfte über-
einstimmt. Dennoch war gerade diese Ehe dem Inca im
peruanischen Reiche vorgeschrieben1), und ebenso konnte der
Pharao in Aegypten keine schicklichere Gemahlin erwählen, als
seine Schwester2). Bei den Altpersern war die Ehe mit der
Schwester oder der Mutter nicht nur erlaubt3), sondern die Hei-
rathen unter Verwandten wurden sogar als ein verdienstliches Werk
angesehen4), endlich ist es ja bekannt, dass die Hellenen die Ver-
mählung von Halbgeschwistern zuliessen, wenn auch nicht billigten.
Während diese hochgestiegenen Völker vor solchen Verbindungen
nicht zurückschauderten, empfanden gerade die zurückgebliebenen
eine wahrscheinlich heilsame Furcht und es ist geradezu auffallend,
wenn ausnahmsweise die Vedda auf Ceylon dem Bruder verstatten,
seine jüngere Schwester zu ehelichen5). Viel weniger befremdet
es, dass bei den Aleuten und Konjaken wahrscheinlich auch bei
andern Anwohnern des Beringsmeeres jegliche Blutschande als er-
laubt gilt6), da alle diese Völkerschaften durch ihre Ausschweifungen
berüchtigt sind.

Die Australier dagegen hielten streng an dem Verbot, dass
kein Mann eine Frau heirathen durfte, die mit ihm auch nur den
gleichen Familiennamen führte7). Ehen unter Leuten von gleichen
Geschlechtsnamen wurden ebenso bei Samojeden und Ostjaken
streng vermieden8). Die Huronen und Irokesen duldeten gleich-

1) Garcilasso, Commentarios reales, tom I. libro IV, cap. 9. p. 86b. Nur
in Ermangelung einer Schwester kamen die nächsten weiblichen Verwandten
an die Reihe.
2) Ebers, Von Gosen zum Sinai. S. 82.
3) Duncker, Gesch. d. Alterthums. Bd. 2, S. 356.
4) Martin Haug in der Beil. zur Allgem. Ztg. 1872. No. 364. S. 5573.
5) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 51.
6) v. Langsdorff, Reise um die Welt. Bd. 2. S. 58.
7) Capt. Gray bei Eyre, Central Australia. tom. II, p. 330.
8) Castren, Vorlesungen. S. 107.
Ehe und väterliche Gewalt.

Allein solche Erfahrungen, die langwierige Beobachtung voraus-
setzen, konnten unstäte und kindlich sorglose Menschenstämme
nicht gewinnen und gerade bei ihnen ist der Abscheu vor Blut-
schande am schärfsten entwickelt. Gewiss sollten wir in diesem
Sinne nichts strenger vermeiden als die Ehe mit der Schwester,
die uns, was die Blutmischung anbetrifft, ganz gleich und noch
einmal so nahe steht, als Mutter oder Tochter, mit denen unser
Organismus, seiner Ableitung nach, doch nur zur Hälfte über-
einstimmt. Dennoch war gerade diese Ehe dem Inca im
peruanischen Reiche vorgeschrieben1), und ebenso konnte der
Pharao in Aegypten keine schicklichere Gemahlin erwählen, als
seine Schwester2). Bei den Altpersern war die Ehe mit der
Schwester oder der Mutter nicht nur erlaubt3), sondern die Hei-
rathen unter Verwandten wurden sogar als ein verdienstliches Werk
angesehen4), endlich ist es ja bekannt, dass die Hellenen die Ver-
mählung von Halbgeschwistern zuliessen, wenn auch nicht billigten.
Während diese hochgestiegenen Völker vor solchen Verbindungen
nicht zurückschauderten, empfanden gerade die zurückgebliebenen
eine wahrscheinlich heilsame Furcht und es ist geradezu auffallend,
wenn ausnahmsweise die Vedda auf Ceylon dem Bruder verstatten,
seine jüngere Schwester zu ehelichen5). Viel weniger befremdet
es, dass bei den Aleuten und Konjaken wahrscheinlich auch bei
andern Anwohnern des Beringsmeeres jegliche Blutschande als er-
laubt gilt6), da alle diese Völkerschaften durch ihre Ausschweifungen
berüchtigt sind.

Die Australier dagegen hielten streng an dem Verbot, dass
kein Mann eine Frau heirathen durfte, die mit ihm auch nur den
gleichen Familiennamen führte7). Ehen unter Leuten von gleichen
Geschlechtsnamen wurden ebenso bei Samojeden und Ostjaken
streng vermieden8). Die Huronen und Irokesen duldeten gleich-

1) Garcilasso, Commentarios reales, tom I. libro IV, cap. 9. p. 86b. Nur
in Ermangelung einer Schwester kamen die nächsten weiblichen Verwandten
an die Reihe.
2) Ebers, Von Gosen zum Sinai. S. 82.
3) Duncker, Gesch. d. Alterthums. Bd. 2, S. 356.
4) Martin Haug in der Beil. zur Allgem. Ztg. 1872. No. 364. S. 5573.
5) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 51.
6) v. Langsdorff, Reise um die Welt. Bd. 2. S. 58.
7) Capt. Gray bei Eyre, Central Australia. tom. II, p. 330.
8) Castrén, Vorlesungen. S. 107.
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[233/0251] Ehe und väterliche Gewalt. Allein solche Erfahrungen, die langwierige Beobachtung voraus- setzen, konnten unstäte und kindlich sorglose Menschenstämme nicht gewinnen und gerade bei ihnen ist der Abscheu vor Blut- schande am schärfsten entwickelt. Gewiss sollten wir in diesem Sinne nichts strenger vermeiden als die Ehe mit der Schwester, die uns, was die Blutmischung anbetrifft, ganz gleich und noch einmal so nahe steht, als Mutter oder Tochter, mit denen unser Organismus, seiner Ableitung nach, doch nur zur Hälfte über- einstimmt. Dennoch war gerade diese Ehe dem Inca im peruanischen Reiche vorgeschrieben 1), und ebenso konnte der Pharao in Aegypten keine schicklichere Gemahlin erwählen, als seine Schwester 2). Bei den Altpersern war die Ehe mit der Schwester oder der Mutter nicht nur erlaubt 3), sondern die Hei- rathen unter Verwandten wurden sogar als ein verdienstliches Werk angesehen 4), endlich ist es ja bekannt, dass die Hellenen die Ver- mählung von Halbgeschwistern zuliessen, wenn auch nicht billigten. Während diese hochgestiegenen Völker vor solchen Verbindungen nicht zurückschauderten, empfanden gerade die zurückgebliebenen eine wahrscheinlich heilsame Furcht und es ist geradezu auffallend, wenn ausnahmsweise die Vedda auf Ceylon dem Bruder verstatten, seine jüngere Schwester zu ehelichen 5). Viel weniger befremdet es, dass bei den Aleuten und Konjaken wahrscheinlich auch bei andern Anwohnern des Beringsmeeres jegliche Blutschande als er- laubt gilt 6), da alle diese Völkerschaften durch ihre Ausschweifungen berüchtigt sind. Die Australier dagegen hielten streng an dem Verbot, dass kein Mann eine Frau heirathen durfte, die mit ihm auch nur den gleichen Familiennamen führte 7). Ehen unter Leuten von gleichen Geschlechtsnamen wurden ebenso bei Samojeden und Ostjaken streng vermieden 8). Die Huronen und Irokesen duldeten gleich- 1) Garcilasso, Commentarios reales, tom I. libro IV, cap. 9. p. 86b. Nur in Ermangelung einer Schwester kamen die nächsten weiblichen Verwandten an die Reihe. 2) Ebers, Von Gosen zum Sinai. S. 82. 3) Duncker, Gesch. d. Alterthums. Bd. 2, S. 356. 4) Martin Haug in der Beil. zur Allgem. Ztg. 1872. No. 364. S. 5573. 5) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 1. S. 51. 6) v. Langsdorff, Reise um die Welt. Bd. 2. S. 58. 7) Capt. Gray bei Eyre, Central Australia. tom. II, p. 330. 8) Castrén, Vorlesungen. S. 107.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/251>, abgerufen am 25.04.2024.