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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Ehe und väterliche Gewalt.
und Amerikanern, nämlich bei den Eskimo, den Aleuten, Konjaken
und Koluschen 1), bei denen auch andere geschlechtliche Verirrungen
nicht mangeln. Sonst werden in Amerika die Irokesen und etliche
Stämme am Orinoco der Vielmännerei von Sir John Lubbock be-
schuldigt. In der Südsee soll sie bei den Maori Neu-Seelands und
auf etlichen kleinen Inseln angetroffen worden sein. Häufiger kommt
sie im südlichen Indien unter einzelnen Stämmen der Neilgherri-
gebirge vor, bei welchen letzteren die Sitte verstattet, dass alle
Brüder, wenn sie erwachsen, die Männer der Frau des ältesten
Bruders 2), und umgekehrt die jüngeren Schwestern der Gemahlin
die Frauen der Ehegenossenschaft werden. Fast genau so hielten
es auch die alten Bewohner Britanniens zu Cäsar's Zeiten 3). Auf
Brüder und andere Verwandte beschränkt sich die Frauengemein-
schaft in Tübet, und dort sind es Sparsamkeitsrücksichten, welche
diese Widernatürlichkeit uns erklären 4). Auch bei den Herero in
Südafrika verursacht es Armuth, dass Vielmännerei bisweilen vor-
kommt 5).

Zu den dunkelsten aber auch lehrreichsten Fragen der Völker-
kunde gehört es, wie es Brauch geworden sei, Ehen zwischen Blut-
verwandten zu vermeiden. Wohl dürfen wir auf neue Erkenntnisse
gestützt, die Schädlichkeit solcher Mischungen vermuthen, denn
wenn beide Gatten unter demselben körperlichen Mangel leiden,
so werden sie ihn gesteigert ihren Nachkommen vererben. Taubheit,
Augenschwäche, Unfruchtbarkeit, Blödsinn und Geistesstörungen
müssen sich bei Kindern von Eltern, welche die Keime zu diesen
Störungen geerbt haben, früh einstellen oder heftiger ausbrechen 6).

1) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 308. S. 313.
2) Baierlein, Nach und aus Indien. S. 249.
3) De bello gallico, lib. V. cap. 14.
4) v. Schlagintweit, Indien. Bd. 2. S. 47.
5) G. Fritsch, Die Eingebornen Südafrikas. S. 227.
6) Selbst diese Vermuthung ist nicht vor allen Zweifeln gesichert. In der
Gemeinde Batz (3300 Einwohner), nördlich von der Loiremündung auf einer
Halbinsel gelegen und auf die Ausbeutung natürlicher Salzpfannen angewiesen,
gehörten von jeher Heirathen zwischen Blutsverwandten zu den hergebrachten
Dingen. So mussten im Jahre 1865 nicht weniger als 15 Kirchendispense für
Heirathen von Geschwisterkindern erwirkt werden. Dennoch fand Voisin, der
einen ganzen Monat dort zubrachte, bei 40 Ehen unter Blutsverwandten, deren
volle Stammtafeln er sammelte, nicht einen einzigen Fall der Uebel, mit denen
herkömmlich solche Vermählungen bedroht werden. Anthropological Review.
London 1868. tom. VI. p. 231--232.

Ehe und väterliche Gewalt.
und Amerikanern, nämlich bei den Eskimo, den Aleuten, Konjaken
und Koluschen 1), bei denen auch andere geschlechtliche Verirrungen
nicht mangeln. Sonst werden in Amerika die Irokesen und etliche
Stämme am Orinoco der Vielmännerei von Sir John Lubbock be-
schuldigt. In der Südsee soll sie bei den Maori Neu-Seelands und
auf etlichen kleinen Inseln angetroffen worden sein. Häufiger kommt
sie im südlichen Indien unter einzelnen Stämmen der Neilgherri-
gebirge vor, bei welchen letzteren die Sitte verstattet, dass alle
Brüder, wenn sie erwachsen, die Männer der Frau des ältesten
Bruders 2), und umgekehrt die jüngeren Schwestern der Gemahlin
die Frauen der Ehegenossenschaft werden. Fast genau so hielten
es auch die alten Bewohner Britanniens zu Cäsar’s Zeiten 3). Auf
Brüder und andere Verwandte beschränkt sich die Frauengemein-
schaft in Tübet, und dort sind es Sparsamkeitsrücksichten, welche
diese Widernatürlichkeit uns erklären 4). Auch bei den Herero in
Südafrika verursacht es Armuth, dass Vielmännerei bisweilen vor-
kommt 5).

Zu den dunkelsten aber auch lehrreichsten Fragen der Völker-
kunde gehört es, wie es Brauch geworden sei, Ehen zwischen Blut-
verwandten zu vermeiden. Wohl dürfen wir auf neue Erkenntnisse
gestützt, die Schädlichkeit solcher Mischungen vermuthen, denn
wenn beide Gatten unter demselben körperlichen Mangel leiden,
so werden sie ihn gesteigert ihren Nachkommen vererben. Taubheit,
Augenschwäche, Unfruchtbarkeit, Blödsinn und Geistesstörungen
müssen sich bei Kindern von Eltern, welche die Keime zu diesen
Störungen geerbt haben, früh einstellen oder heftiger ausbrechen 6).

1) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 308. S. 313.
2) Baierlein, Nach und aus Indien. S. 249.
3) De bello gallico, lib. V. cap. 14.
4) v. Schlagintweit, Indien. Bd. 2. S. 47.
5) G. Fritsch, Die Eingebornen Südafrikas. S. 227.
6) Selbst diese Vermuthung ist nicht vor allen Zweifeln gesichert. In der
Gemeinde Batz (3300 Einwohner), nördlich von der Loiremündung auf einer
Halbinsel gelegen und auf die Ausbeutung natürlicher Salzpfannen angewiesen,
gehörten von jeher Heirathen zwischen Blutsverwandten zu den hergebrachten
Dingen. So mussten im Jahre 1865 nicht weniger als 15 Kirchendispense für
Heirathen von Geschwisterkindern erwirkt werden. Dennoch fand Voisin, der
einen ganzen Monat dort zubrachte, bei 40 Ehen unter Blutsverwandten, deren
volle Stammtafeln er sammelte, nicht einen einzigen Fall der Uebel, mit denen
herkömmlich solche Vermählungen bedroht werden. Anthropological Review.
London 1868. tom. VI. p. 231—232.
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[232/0250] Ehe und väterliche Gewalt. und Amerikanern, nämlich bei den Eskimo, den Aleuten, Konjaken und Koluschen 1), bei denen auch andere geschlechtliche Verirrungen nicht mangeln. Sonst werden in Amerika die Irokesen und etliche Stämme am Orinoco der Vielmännerei von Sir John Lubbock be- schuldigt. In der Südsee soll sie bei den Maori Neu-Seelands und auf etlichen kleinen Inseln angetroffen worden sein. Häufiger kommt sie im südlichen Indien unter einzelnen Stämmen der Neilgherri- gebirge vor, bei welchen letzteren die Sitte verstattet, dass alle Brüder, wenn sie erwachsen, die Männer der Frau des ältesten Bruders 2), und umgekehrt die jüngeren Schwestern der Gemahlin die Frauen der Ehegenossenschaft werden. Fast genau so hielten es auch die alten Bewohner Britanniens zu Cäsar’s Zeiten 3). Auf Brüder und andere Verwandte beschränkt sich die Frauengemein- schaft in Tübet, und dort sind es Sparsamkeitsrücksichten, welche diese Widernatürlichkeit uns erklären 4). Auch bei den Herero in Südafrika verursacht es Armuth, dass Vielmännerei bisweilen vor- kommt 5). Zu den dunkelsten aber auch lehrreichsten Fragen der Völker- kunde gehört es, wie es Brauch geworden sei, Ehen zwischen Blut- verwandten zu vermeiden. Wohl dürfen wir auf neue Erkenntnisse gestützt, die Schädlichkeit solcher Mischungen vermuthen, denn wenn beide Gatten unter demselben körperlichen Mangel leiden, so werden sie ihn gesteigert ihren Nachkommen vererben. Taubheit, Augenschwäche, Unfruchtbarkeit, Blödsinn und Geistesstörungen müssen sich bei Kindern von Eltern, welche die Keime zu diesen Störungen geerbt haben, früh einstellen oder heftiger ausbrechen 6). 1) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 308. S. 313. 2) Baierlein, Nach und aus Indien. S. 249. 3) De bello gallico, lib. V. cap. 14. 4) v. Schlagintweit, Indien. Bd. 2. S. 47. 5) G. Fritsch, Die Eingebornen Südafrikas. S. 227. 6) Selbst diese Vermuthung ist nicht vor allen Zweifeln gesichert. In der Gemeinde Batz (3300 Einwohner), nördlich von der Loiremündung auf einer Halbinsel gelegen und auf die Ausbeutung natürlicher Salzpfannen angewiesen, gehörten von jeher Heirathen zwischen Blutsverwandten zu den hergebrachten Dingen. So mussten im Jahre 1865 nicht weniger als 15 Kirchendispense für Heirathen von Geschwisterkindern erwirkt werden. Dennoch fand Voisin, der einen ganzen Monat dort zubrachte, bei 40 Ehen unter Blutsverwandten, deren volle Stammtafeln er sammelte, nicht einen einzigen Fall der Uebel, mit denen herkömmlich solche Vermählungen bedroht werden. Anthropological Review. London 1868. tom. VI. p. 231—232.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/250>, abgerufen am 18.04.2024.