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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Ehe und väterliche Gewalt.
Vorfahren ihren späten Eheschliessungen zuschreibt 1). Wo also
durch Gewohnheit oder Satzung eine Verspätung des Heirathsalters
gefordert wird, da müssen wir einen grossen Fortschritt in der
Selbsterziehung der Völker anerkennen. Im alten Peru wurde den
Männern erst im 24., den Frauen im 18. Lebensjahr die Begrün-
dung eines Hausstandes gestattet 2). Die sittenstrengen Abiponen,
welche die südliche Hälfte des Gran Chaco am Paraguaystrome
innehatten, duldeten ebenfalls Ehen nur in reifem Alter.

Es darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass sehr
viele Menschenstämme grosse Gleichgiltigkeit gegen jugendliche
Unkeuschheit zeigen und erst mit der Ehe den Frauen strengen
Wandel auflegen. Als unberechtigt müssen wir es aber bezeichnen,
wenn man aus Mangel eines sprachlichen Ausdruckes, durch wel-
chen Jungfrau und Frau unterschieden werden, auf eine Gleich-
giltigkeit gegen geschlechtliche Reinheit geschlossen hat, wie es von
Lichtenstein 3) in Bezug auf die Buschmänner gewagt wurde, während
Chapman gerade ihre Sittsamkeit rühmt und hinzufügt, dass bei
ihnen Ehen nur aus Neigung geschlossen werden. Auch die Abi-
ponen besitzen kein eignes Wort für das jungfräuliche Weib 4) und
doch rühmt Dobrizhoffer beständig ihre Sittenstrenge und Unver-
dorbenheit. Eher lässt sich der gleiche sprachliche Mangel un-
günstig bei den Comantschen deuten, da sie Gastfreunden ihre
Frauen überlassen 5). Diesen schnöden Gebrauch treffen wir in
Nordamerika noch bei den Aleuten 6), die auch sonst durch ihre
widernatürlichen Ausschweifungen berüchtigt sind, dann bei Eskimo,
und endlich erzählt Adolf Erman, dass er bei seinen Wanderungen
durch Kamtschatka auf die nämliche Sitte gestossen sei 7). Sucht
man nach einem Fall, der die tiefste Verworfenheit in dieser Rich-

1) Sera juvenum Venus, eoque inexhausta pubertas, nec virgines festi-
nantur. Germ. cap. 20.
2) Prescott, Conquest of Peru. tom. I. p. 113.
3) Reisen im südlichen Afrika. Bd. 2. S. 81.
4) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 218.
5) Waitz, Anthropologie. Bd. 4. S. 216.
6) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 314.
7) Marco Polo I, cap. 37. berichtet dasselbe von der Oase Kamul
(Hamil) in der Gobi. Dort wie in der ebenfalls von Karawanen berührten
Oase Fezzan beruht jedoch diese Sittenlosigkeit auf einer gewerbsmässigen
Prostitution. A. Erman, Reise um die Erde. Bd. 3. S. 426.

Ehe und väterliche Gewalt.
Vorfahren ihren späten Eheschliessungen zuschreibt 1). Wo also
durch Gewohnheit oder Satzung eine Verspätung des Heirathsalters
gefordert wird, da müssen wir einen grossen Fortschritt in der
Selbsterziehung der Völker anerkennen. Im alten Peru wurde den
Männern erst im 24., den Frauen im 18. Lebensjahr die Begrün-
dung eines Hausstandes gestattet 2). Die sittenstrengen Abiponen,
welche die südliche Hälfte des Gran Chaco am Paraguaystrome
innehatten, duldeten ebenfalls Ehen nur in reifem Alter.

Es darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass sehr
viele Menschenstämme grosse Gleichgiltigkeit gegen jugendliche
Unkeuschheit zeigen und erst mit der Ehe den Frauen strengen
Wandel auflegen. Als unberechtigt müssen wir es aber bezeichnen,
wenn man aus Mangel eines sprachlichen Ausdruckes, durch wel-
chen Jungfrau und Frau unterschieden werden, auf eine Gleich-
giltigkeit gegen geschlechtliche Reinheit geschlossen hat, wie es von
Lichtenstein 3) in Bezug auf die Buschmänner gewagt wurde, während
Chapman gerade ihre Sittsamkeit rühmt und hinzufügt, dass bei
ihnen Ehen nur aus Neigung geschlossen werden. Auch die Abi-
ponen besitzen kein eignes Wort für das jungfräuliche Weib 4) und
doch rühmt Dobrizhoffer beständig ihre Sittenstrenge und Unver-
dorbenheit. Eher lässt sich der gleiche sprachliche Mangel un-
günstig bei den Comantschen deuten, da sie Gastfreunden ihre
Frauen überlassen 5). Diesen schnöden Gebrauch treffen wir in
Nordamerika noch bei den Aleuten 6), die auch sonst durch ihre
widernatürlichen Ausschweifungen berüchtigt sind, dann bei Eskimo,
und endlich erzählt Adolf Erman, dass er bei seinen Wanderungen
durch Kamtschatka auf die nämliche Sitte gestossen sei 7). Sucht
man nach einem Fall, der die tiefste Verworfenheit in dieser Rich-

1) Sera juvenum Venus, eoque inexhausta pubertas, nec virgines festi-
nantur. Germ. cap. 20.
2) Prescott, Conquest of Peru. tom. I. p. 113.
3) Reisen im südlichen Afrika. Bd. 2. S. 81.
4) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 218.
5) Waitz, Anthropologie. Bd. 4. S. 216.
6) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 314.
7) Marco Polo I, cap. 37. berichtet dasselbe von der Oase Kamul
(Hamil) in der Gobi. Dort wie in der ebenfalls von Karawanen berührten
Oase Fezzan beruht jedoch diese Sittenlosigkeit auf einer gewerbsmässigen
Prostitution. A. Erman, Reise um die Erde. Bd. 3. S. 426.
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[229/0247] Ehe und väterliche Gewalt. Vorfahren ihren späten Eheschliessungen zuschreibt 1). Wo also durch Gewohnheit oder Satzung eine Verspätung des Heirathsalters gefordert wird, da müssen wir einen grossen Fortschritt in der Selbsterziehung der Völker anerkennen. Im alten Peru wurde den Männern erst im 24., den Frauen im 18. Lebensjahr die Begrün- dung eines Hausstandes gestattet 2). Die sittenstrengen Abiponen, welche die südliche Hälfte des Gran Chaco am Paraguaystrome innehatten, duldeten ebenfalls Ehen nur in reifem Alter. Es darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass sehr viele Menschenstämme grosse Gleichgiltigkeit gegen jugendliche Unkeuschheit zeigen und erst mit der Ehe den Frauen strengen Wandel auflegen. Als unberechtigt müssen wir es aber bezeichnen, wenn man aus Mangel eines sprachlichen Ausdruckes, durch wel- chen Jungfrau und Frau unterschieden werden, auf eine Gleich- giltigkeit gegen geschlechtliche Reinheit geschlossen hat, wie es von Lichtenstein 3) in Bezug auf die Buschmänner gewagt wurde, während Chapman gerade ihre Sittsamkeit rühmt und hinzufügt, dass bei ihnen Ehen nur aus Neigung geschlossen werden. Auch die Abi- ponen besitzen kein eignes Wort für das jungfräuliche Weib 4) und doch rühmt Dobrizhoffer beständig ihre Sittenstrenge und Unver- dorbenheit. Eher lässt sich der gleiche sprachliche Mangel un- günstig bei den Comantschen deuten, da sie Gastfreunden ihre Frauen überlassen 5). Diesen schnöden Gebrauch treffen wir in Nordamerika noch bei den Aleuten 6), die auch sonst durch ihre widernatürlichen Ausschweifungen berüchtigt sind, dann bei Eskimo, und endlich erzählt Adolf Erman, dass er bei seinen Wanderungen durch Kamtschatka auf die nämliche Sitte gestossen sei 7). Sucht man nach einem Fall, der die tiefste Verworfenheit in dieser Rich- 1) Sera juvenum Venus, eoque inexhausta pubertas, nec virgines festi- nantur. Germ. cap. 20. 2) Prescott, Conquest of Peru. tom. I. p. 113. 3) Reisen im südlichen Afrika. Bd. 2. S. 81. 4) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 218. 5) Waitz, Anthropologie. Bd. 4. S. 216. 6) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 314. 7) Marco Polo I, cap. 37. berichtet dasselbe von der Oase Kamul (Hamil) in der Gobi. Dort wie in der ebenfalls von Karawanen berührten Oase Fezzan beruht jedoch diese Sittenlosigkeit auf einer gewerbsmässigen Prostitution. A. Erman, Reise um die Erde. Bd. 3. S. 426.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/247>, abgerufen am 25.04.2024.