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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Bewaffnung.
dem wir die erste Ueberschau gegeben haben 1), weil die Unter-
drückung dieses Frevels uns zugleich einen der seltnen Fälle ge-
währt, dass der Mensch nicht blos seinen Geselligkeitstrieb zur
sittlichen Richtschnur erhoben hat, sondern dass er über diesen
hinaus nach Veredlung strebt, denn der rohe Selbsterhaltungstrieb
würde sicherlich auch den Gebrauch vergifteter Waffen verstatten.
Dass aber die Völker anfingen sich einer solchen Wehr zu schämen
und sie unvereinbar hielten mit ihrer Würde, lässt uns eine Stelle
bei Homer erkennen. Odysseus will nämlich von Ilos in Ephyra
ein tödtliches Pfeilgift einhandeln, der es ihm jedoch aus Scheu
vor den ewigen Göttern verweigert 2). Der Grund dieser Weigerung
lässt uns ahnen, woher es komme, dass wir die Giftwaffen jetzt
nur noch unter den Tropen oder in ihrer Nähe finden, weil eben
dort die rohesten Menschenstämme sitzen, die sich noch nicht um
den Zorn der ewigen Götter kümmern.

Ein anderes Wurfgeschoss, die Schleuder, kann gewiss nur
dort erfunden worden sein, wo es Steine gibt. Steine gibt es nicht
überall. Sobald der Amazonas oder seine gewaltigen Nebenströme
aus den Abhängen der Cordilleren heraustreten, durchziehen sie
eine Niederung, eben wie eine Tafel mit fast unmerklichem Ge-
fäll, wo sich kein Geschiebe mehr findet, denn Modererde lagert
klaftertief über fein zermalmtem Lehm oder Thon 3). Könnten wir
uns also denken, dass alle Erdvesten jenen südamerikanischen
Ebenen glichen, so hätten die Menschen nie zum Steinzeitalter
sich erheben können, sondern bei Holz und Horn verharren
müssen. Auch werden wir uns im voraus sagen, dass in einem
amazonischen Waldland ohnehin die Schleuder nicht anwendbar
wäre. Wir finden Schleudern nicht in Nordamerika, ausser bei den
Eskimos. Sehr häufig sind sie dagegen auf den Südseeinseln, so
bei den Bewohnern der Marianen 4), auf der Samoagruppe 5), auf
Tahiti und den Sandwichinseln 6). Die papuanischen Bewohner der

1) Ausland 1870. No. 19. Ueber den Einfluss der Ortsbeschaffenheit auf
einige Arten der Bewaffnung. S. 432. flg.
2) Odyss. I, 259 flg. Ephyra muss entweder in Epirus oder in einer
nsel des argolischen Meerbusens gesucht werden.
3) Ed. Pöppig, Chile, Peru und der Amazonenstrom. Bd. 2. S. 340.
4) Waitz, Anthropologie. Bd. 5. II. Abth. S. 130.
5) Fr. Müller, Reise der Fregatte Novara. Anthropol. Bd. 3. S. 39.
6) Heinr. Zimmermann, Reise um die Welt mit Capt. Cook. Mann-
heim 1781. S. 75.

Die Bewaffnung.
dem wir die erste Ueberschau gegeben haben 1), weil die Unter-
drückung dieses Frevels uns zugleich einen der seltnen Fälle ge-
währt, dass der Mensch nicht blos seinen Geselligkeitstrieb zur
sittlichen Richtschnur erhoben hat, sondern dass er über diesen
hinaus nach Veredlung strebt, denn der rohe Selbsterhaltungstrieb
würde sicherlich auch den Gebrauch vergifteter Waffen verstatten.
Dass aber die Völker anfingen sich einer solchen Wehr zu schämen
und sie unvereinbar hielten mit ihrer Würde, lässt uns eine Stelle
bei Homer erkennen. Odysseus will nämlich von Ilos in Ephyra
ein tödtliches Pfeilgift einhandeln, der es ihm jedoch aus Scheu
vor den ewigen Göttern verweigert 2). Der Grund dieser Weigerung
lässt uns ahnen, woher es komme, dass wir die Giftwaffen jetzt
nur noch unter den Tropen oder in ihrer Nähe finden, weil eben
dort die rohesten Menschenstämme sitzen, die sich noch nicht um
den Zorn der ewigen Götter kümmern.

Ein anderes Wurfgeschoss, die Schleuder, kann gewiss nur
dort erfunden worden sein, wo es Steine gibt. Steine gibt es nicht
überall. Sobald der Amazonas oder seine gewaltigen Nebenströme
aus den Abhängen der Cordilleren heraustreten, durchziehen sie
eine Niederung, eben wie eine Tafel mit fast unmerklichem Ge-
fäll, wo sich kein Geschiebe mehr findet, denn Modererde lagert
klaftertief über fein zermalmtem Lehm oder Thon 3). Könnten wir
uns also denken, dass alle Erdvesten jenen südamerikanischen
Ebenen glichen, so hätten die Menschen nie zum Steinzeitalter
sich erheben können, sondern bei Holz und Horn verharren
müssen. Auch werden wir uns im voraus sagen, dass in einem
amazonischen Waldland ohnehin die Schleuder nicht anwendbar
wäre. Wir finden Schleudern nicht in Nordamerika, ausser bei den
Eskimos. Sehr häufig sind sie dagegen auf den Südseeinseln, so
bei den Bewohnern der Marianen 4), auf der Samoagruppe 5), auf
Tahiti und den Sandwichinseln 6). Die papuanischen Bewohner der

1) Ausland 1870. No. 19. Ueber den Einfluss der Ortsbeschaffenheit auf
einige Arten der Bewaffnung. S. 432. flg.
2) Odyss. I, 259 flg. Ephyra muss entweder in Epirus oder in einer
nsel des argolischen Meerbusens gesucht werden.
3) Ed. Pöppig, Chile, Peru und der Amazonenstrom. Bd. 2. S. 340.
4) Waitz, Anthropologie. Bd. 5. II. Abth. S. 130.
5) Fr. Müller, Reise der Fregatte Novara. Anthropol. Bd. 3. S. 39.
6) Heinr. Zimmermann, Reise um die Welt mit Capt. Cook. Mann-
heim 1781. S. 75.
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[197/0215] Die Bewaffnung. dem wir die erste Ueberschau gegeben haben 1), weil die Unter- drückung dieses Frevels uns zugleich einen der seltnen Fälle ge- währt, dass der Mensch nicht blos seinen Geselligkeitstrieb zur sittlichen Richtschnur erhoben hat, sondern dass er über diesen hinaus nach Veredlung strebt, denn der rohe Selbsterhaltungstrieb würde sicherlich auch den Gebrauch vergifteter Waffen verstatten. Dass aber die Völker anfingen sich einer solchen Wehr zu schämen und sie unvereinbar hielten mit ihrer Würde, lässt uns eine Stelle bei Homer erkennen. Odysseus will nämlich von Ilos in Ephyra ein tödtliches Pfeilgift einhandeln, der es ihm jedoch aus Scheu vor den ewigen Göttern verweigert 2). Der Grund dieser Weigerung lässt uns ahnen, woher es komme, dass wir die Giftwaffen jetzt nur noch unter den Tropen oder in ihrer Nähe finden, weil eben dort die rohesten Menschenstämme sitzen, die sich noch nicht um den Zorn der ewigen Götter kümmern. Ein anderes Wurfgeschoss, die Schleuder, kann gewiss nur dort erfunden worden sein, wo es Steine gibt. Steine gibt es nicht überall. Sobald der Amazonas oder seine gewaltigen Nebenströme aus den Abhängen der Cordilleren heraustreten, durchziehen sie eine Niederung, eben wie eine Tafel mit fast unmerklichem Ge- fäll, wo sich kein Geschiebe mehr findet, denn Modererde lagert klaftertief über fein zermalmtem Lehm oder Thon 3). Könnten wir uns also denken, dass alle Erdvesten jenen südamerikanischen Ebenen glichen, so hätten die Menschen nie zum Steinzeitalter sich erheben können, sondern bei Holz und Horn verharren müssen. Auch werden wir uns im voraus sagen, dass in einem amazonischen Waldland ohnehin die Schleuder nicht anwendbar wäre. Wir finden Schleudern nicht in Nordamerika, ausser bei den Eskimos. Sehr häufig sind sie dagegen auf den Südseeinseln, so bei den Bewohnern der Marianen 4), auf der Samoagruppe 5), auf Tahiti und den Sandwichinseln 6). Die papuanischen Bewohner der 1) Ausland 1870. No. 19. Ueber den Einfluss der Ortsbeschaffenheit auf einige Arten der Bewaffnung. S. 432. flg. 2) Odyss. I, 259 flg. Ephyra muss entweder in Epirus oder in einer nsel des argolischen Meerbusens gesucht werden. 3) Ed. Pöppig, Chile, Peru und der Amazonenstrom. Bd. 2. S. 340. 4) Waitz, Anthropologie. Bd. 5. II. Abth. S. 130. 5) Fr. Müller, Reise der Fregatte Novara. Anthropol. Bd. 3. S. 39. 6) Heinr. Zimmermann, Reise um die Welt mit Capt. Cook. Mann- heim 1781. S. 75.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/215>, abgerufen am 23.04.2024.