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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Bekleidung und Obdach.
dige Bevölkerung Islands ist nach den Erlebnissen G. G. Winklers 1)
noch nicht bis zu der Erkenntniss gelangt, welche die biblischen
Eltern des Menschengeschlechtes (Gen. III, 7) schon im Eden
sich erwarben.

Diese Reihe von Thatsachen sollte uns zur höchsten Vorsicht
stimmen, den sittlichen Werth irgend eines Volkes nur nach dem
Bedürfniss seiner Körperverhüllung abzuschätzen. Obgleich aber,
wie wir gezeigt haben, Keuschheit und Sittsamkeit ganz unabhängig
sind von dem Mangel oder der leichten Erregbarkeit des sexuellen
Schamgefühles, so bezeichnet doch das Erwachen des Letzteren
eine Erhebung bei jeder Völkerschaft. Bevor irgend ein Mensch
auf den Einfall gerieth sich zu bedecken, muss von ihm Schönes
und Hässliches unterschieden worden sein. Die Bekleidung ver-
danken wir daher den ältesten ästhetischen Regungen des mensch-
lichen Geschlechtes und insofern die Verehrung des Schönen
veredelnd auf uns wirkt, förderten auch jene Regungen die
Erziehung des Menschen. Umgekehrt stellte sich mit dem
Verfall strenger Sitten im alten Rom eine Missachtung der
Anstandsvorschriften ein. Das Bedürfniss sich zu kleiden er-
wacht erst mit dem Bewusstsein einer höheren Würde und
verkündet uns das Bestreben die Scheidewand zwischen Mensch
und Thier zu erhöhen. Nicht blos Eitelkeit ist es, die etwa den
Verlust von Jugendreizen in höherem Alter den Blicken zu ent-
ziehen sucht, sondern noch viel früher regt sich der Wunsch einen
Schleier zu werfen über alle gleichsam unverdienten Erniedrigungen,
die uns der Haushalt unsres thierischen Leibes auferlegt und vor
Andern zu erscheinen als seien wir so rein und sehenswürdig wie
die Lilien in der Sprache der Evangelien. Trotz aller oben auf-
gezählten Sonderbarkeiten des Schamgefühles, hat doch die
überwältigende Mehrzahl der Völker immer genau gewusst, was
einer Hülle am meisten bedürfe. Wie leicht verletzt im alten Ly-
dien die Frauen waren, ist aus Herodots Erzählung von der Ge-
mahlin des Candaules hinlänglich bekannt 2) und wie sorgsam die
Schamhaftigkeit des weiblichen Geschlechtes in Nordamerika von
den Mandanen geschützt wurde, rühmt uns der Maler Catlin 3).

1) Island. S. 107--111.
2) Lib. I, 8--12.
3) Die Indianer Nordamerikas. 2. Aufl. S. 70.

Bekleidung und Obdach.
dige Bevölkerung Islands ist nach den Erlebnissen G. G. Winklers 1)
noch nicht bis zu der Erkenntniss gelangt, welche die biblischen
Eltern des Menschengeschlechtes (Gen. III, 7) schon im Eden
sich erwarben.

Diese Reihe von Thatsachen sollte uns zur höchsten Vorsicht
stimmen, den sittlichen Werth irgend eines Volkes nur nach dem
Bedürfniss seiner Körperverhüllung abzuschätzen. Obgleich aber,
wie wir gezeigt haben, Keuschheit und Sittsamkeit ganz unabhängig
sind von dem Mangel oder der leichten Erregbarkeit des sexuellen
Schamgefühles, so bezeichnet doch das Erwachen des Letzteren
eine Erhebung bei jeder Völkerschaft. Bevor irgend ein Mensch
auf den Einfall gerieth sich zu bedecken, muss von ihm Schönes
und Hässliches unterschieden worden sein. Die Bekleidung ver-
danken wir daher den ältesten ästhetischen Regungen des mensch-
lichen Geschlechtes und insofern die Verehrung des Schönen
veredelnd auf uns wirkt, förderten auch jene Regungen die
Erziehung des Menschen. Umgekehrt stellte sich mit dem
Verfall strenger Sitten im alten Rom eine Missachtung der
Anstandsvorschriften ein. Das Bedürfniss sich zu kleiden er-
wacht erst mit dem Bewusstsein einer höheren Würde und
verkündet uns das Bestreben die Scheidewand zwischen Mensch
und Thier zu erhöhen. Nicht blos Eitelkeit ist es, die etwa den
Verlust von Jugendreizen in höherem Alter den Blicken zu ent-
ziehen sucht, sondern noch viel früher regt sich der Wunsch einen
Schleier zu werfen über alle gleichsam unverdienten Erniedrigungen,
die uns der Haushalt unsres thierischen Leibes auferlegt und vor
Andern zu erscheinen als seien wir so rein und sehenswürdig wie
die Lilien in der Sprache der Evangelien. Trotz aller oben auf-
gezählten Sonderbarkeiten des Schamgefühles, hat doch die
überwältigende Mehrzahl der Völker immer genau gewusst, was
einer Hülle am meisten bedürfe. Wie leicht verletzt im alten Ly-
dien die Frauen waren, ist aus Herodots Erzählung von der Ge-
mahlin des Candaules hinlänglich bekannt 2) und wie sorgsam die
Schamhaftigkeit des weiblichen Geschlechtes in Nordamerika von
den Mandanen geschützt wurde, rühmt uns der Maler Catlin 3).

1) Island. S. 107—111.
2) Lib. I, 8—12.
3) Die Indianer Nordamerikas. 2. Aufl. S. 70.
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[181/0199] Bekleidung und Obdach. dige Bevölkerung Islands ist nach den Erlebnissen G. G. Winklers 1) noch nicht bis zu der Erkenntniss gelangt, welche die biblischen Eltern des Menschengeschlechtes (Gen. III, 7) schon im Eden sich erwarben. Diese Reihe von Thatsachen sollte uns zur höchsten Vorsicht stimmen, den sittlichen Werth irgend eines Volkes nur nach dem Bedürfniss seiner Körperverhüllung abzuschätzen. Obgleich aber, wie wir gezeigt haben, Keuschheit und Sittsamkeit ganz unabhängig sind von dem Mangel oder der leichten Erregbarkeit des sexuellen Schamgefühles, so bezeichnet doch das Erwachen des Letzteren eine Erhebung bei jeder Völkerschaft. Bevor irgend ein Mensch auf den Einfall gerieth sich zu bedecken, muss von ihm Schönes und Hässliches unterschieden worden sein. Die Bekleidung ver- danken wir daher den ältesten ästhetischen Regungen des mensch- lichen Geschlechtes und insofern die Verehrung des Schönen veredelnd auf uns wirkt, förderten auch jene Regungen die Erziehung des Menschen. Umgekehrt stellte sich mit dem Verfall strenger Sitten im alten Rom eine Missachtung der Anstandsvorschriften ein. Das Bedürfniss sich zu kleiden er- wacht erst mit dem Bewusstsein einer höheren Würde und verkündet uns das Bestreben die Scheidewand zwischen Mensch und Thier zu erhöhen. Nicht blos Eitelkeit ist es, die etwa den Verlust von Jugendreizen in höherem Alter den Blicken zu ent- ziehen sucht, sondern noch viel früher regt sich der Wunsch einen Schleier zu werfen über alle gleichsam unverdienten Erniedrigungen, die uns der Haushalt unsres thierischen Leibes auferlegt und vor Andern zu erscheinen als seien wir so rein und sehenswürdig wie die Lilien in der Sprache der Evangelien. Trotz aller oben auf- gezählten Sonderbarkeiten des Schamgefühles, hat doch die überwältigende Mehrzahl der Völker immer genau gewusst, was einer Hülle am meisten bedürfe. Wie leicht verletzt im alten Ly- dien die Frauen waren, ist aus Herodots Erzählung von der Ge- mahlin des Candaules hinlänglich bekannt 2) und wie sorgsam die Schamhaftigkeit des weiblichen Geschlechtes in Nordamerika von den Mandanen geschützt wurde, rühmt uns der Maler Catlin 3). 1) Island. S. 107—111. 2) Lib. I, 8—12. 3) Die Indianer Nordamerikas. 2. Aufl. S. 70.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/199>, abgerufen am 19.03.2024.