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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Bekleidung und Obdach.
F. Jagor uns seinen Kutscher in Singapur, einen schwarzen Kling
von der indischen Koromandelküste, der nur mit Turban und
Lendentuch bekleidet war, mit dem bedeutsamen Zusatz: "er sah
nicht unanständig aus, da die dunkle Farbe den Eindruck des
Nackten fast aufhebt 1)." Bei der Mehrzahl der Indianer Amerikas
wird die Kleidung durch Hautmalerei ersetzt. Wo diess der Fall
ist, regt sich das Schamgefühl bei Frauen und Männern, wenn sie
unbemalt erblickt werden. A. v. Humboldt, dem wir diese Be-
merkung verdanken, fügt hinzu, dass man am Orinoco die grösste
Dürftigkeit mit den Worten ausdrücke: "der Mensch ist so elend,
dass er seinen Leib nicht einmal zur Hälfte bemalen kann" 2).
Einen andren Ersatz für die Bekleidung gewährt die Tätowirung,
die entweder durch Einspritzung bunter Farbstoffe unter die Haut
besteht oder die durch künstliche Narbenbildung erhabne Zeich-
nungen auf dem Leib hervorruft. Dass sie wirklich bis zu einem
hohen Grade den Eindruck der Nacktheit aufhebt, werden alle
bezeugen, welche den völlig tätowirten Albanesen zu sehen Ge-
legenheit hatten. Die Tätowirung ist mit Ausnahme Europas noch
jetzt in allen Welttheilen anzutreffen. Auf den Südseeinseln dient
sie nicht blos zur Verzierung, sondern hat auch da, wo sie sich
über verhüllte Körperräume erstreckt und wo die eingeätzten Zeich-
nungen Sinnbilder von Gottheiten vorstellen, eine religiöse Be-
deutung.

Dass die Bekleidung oft nur zur Zier oder zum Schutz gegen
Kälte getragen wird, zeigt sich an den gut verhüllten Maoris
Neuseelands, die von Schamhaftigkeit keinen Begriff haben 3).
Das gleiche gilt von den hochgestiegnen Japanesen, denen das
gemeinsame Baden beider Geschlechter in geschlossnen Räumen 4),
sowie im Freien, erst neuerlich von den Behörden untersagt worden
ist. Die Eskimo, zu Winterszeiten bis zum Gesicht in Pelze ge-
hüllt, legen gleichwohl in ihren unterirdischen Bauten, wie Kane
es so drastisch beschrieben hat, ihre Kleidung völlig ab, wie denn
auch das Benehmen der Frau des Eskimo Hans an Bord von
Hayes' Entdeckerschiff deutlich bekundet, dass ihr jede Scham
fremd war. Ja selbst die christliche, des Lesens durchweg kun-

1) Reiseskizzen. S. 14.
2) Reisen in die Aequinoctialgegenden. Bd. 3. S. 92.
3) Waitz, Anthropologie. Bd. 1. S. 357.
4) Wilhelm Heine, Japan. Bd. 2. S. 34.

Bekleidung und Obdach.
F. Jagor uns seinen Kutscher in Singapur, einen schwarzen Kling
von der indischen Koromandelküste, der nur mit Turban und
Lendentuch bekleidet war, mit dem bedeutsamen Zusatz: „er sah
nicht unanständig aus, da die dunkle Farbe den Eindruck des
Nackten fast aufhebt 1).“ Bei der Mehrzahl der Indianer Amerikas
wird die Kleidung durch Hautmalerei ersetzt. Wo diess der Fall
ist, regt sich das Schamgefühl bei Frauen und Männern, wenn sie
unbemalt erblickt werden. A. v. Humboldt, dem wir diese Be-
merkung verdanken, fügt hinzu, dass man am Orinoco die grösste
Dürftigkeit mit den Worten ausdrücke: „der Mensch ist so elend,
dass er seinen Leib nicht einmal zur Hälfte bemalen kann“ 2).
Einen andren Ersatz für die Bekleidung gewährt die Tätowirung,
die entweder durch Einspritzung bunter Farbstoffe unter die Haut
besteht oder die durch künstliche Narbenbildung erhabne Zeich-
nungen auf dem Leib hervorruft. Dass sie wirklich bis zu einem
hohen Grade den Eindruck der Nacktheit aufhebt, werden alle
bezeugen, welche den völlig tätowirten Albanesen zu sehen Ge-
legenheit hatten. Die Tätowirung ist mit Ausnahme Europas noch
jetzt in allen Welttheilen anzutreffen. Auf den Südseeinseln dient
sie nicht blos zur Verzierung, sondern hat auch da, wo sie sich
über verhüllte Körperräume erstreckt und wo die eingeätzten Zeich-
nungen Sinnbilder von Gottheiten vorstellen, eine religiöse Be-
deutung.

Dass die Bekleidung oft nur zur Zier oder zum Schutz gegen
Kälte getragen wird, zeigt sich an den gut verhüllten Maoris
Neuseelands, die von Schamhaftigkeit keinen Begriff haben 3).
Das gleiche gilt von den hochgestiegnen Japanesen, denen das
gemeinsame Baden beider Geschlechter in geschlossnen Räumen 4),
sowie im Freien, erst neuerlich von den Behörden untersagt worden
ist. Die Eskimo, zu Winterszeiten bis zum Gesicht in Pelze ge-
hüllt, legen gleichwohl in ihren unterirdischen Bauten, wie Kane
es so drastisch beschrieben hat, ihre Kleidung völlig ab, wie denn
auch das Benehmen der Frau des Eskimo Hans an Bord von
Hayes’ Entdeckerschiff deutlich bekundet, dass ihr jede Scham
fremd war. Ja selbst die christliche, des Lesens durchweg kun-

1) Reiseskizzen. S. 14.
2) Reisen in die Aequinoctialgegenden. Bd. 3. S. 92.
3) Waitz, Anthropologie. Bd. 1. S. 357.
4) Wilhelm Heine, Japan. Bd. 2. S. 34.
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[180/0198] Bekleidung und Obdach. F. Jagor uns seinen Kutscher in Singapur, einen schwarzen Kling von der indischen Koromandelküste, der nur mit Turban und Lendentuch bekleidet war, mit dem bedeutsamen Zusatz: „er sah nicht unanständig aus, da die dunkle Farbe den Eindruck des Nackten fast aufhebt 1).“ Bei der Mehrzahl der Indianer Amerikas wird die Kleidung durch Hautmalerei ersetzt. Wo diess der Fall ist, regt sich das Schamgefühl bei Frauen und Männern, wenn sie unbemalt erblickt werden. A. v. Humboldt, dem wir diese Be- merkung verdanken, fügt hinzu, dass man am Orinoco die grösste Dürftigkeit mit den Worten ausdrücke: „der Mensch ist so elend, dass er seinen Leib nicht einmal zur Hälfte bemalen kann“ 2). Einen andren Ersatz für die Bekleidung gewährt die Tätowirung, die entweder durch Einspritzung bunter Farbstoffe unter die Haut besteht oder die durch künstliche Narbenbildung erhabne Zeich- nungen auf dem Leib hervorruft. Dass sie wirklich bis zu einem hohen Grade den Eindruck der Nacktheit aufhebt, werden alle bezeugen, welche den völlig tätowirten Albanesen zu sehen Ge- legenheit hatten. Die Tätowirung ist mit Ausnahme Europas noch jetzt in allen Welttheilen anzutreffen. Auf den Südseeinseln dient sie nicht blos zur Verzierung, sondern hat auch da, wo sie sich über verhüllte Körperräume erstreckt und wo die eingeätzten Zeich- nungen Sinnbilder von Gottheiten vorstellen, eine religiöse Be- deutung. Dass die Bekleidung oft nur zur Zier oder zum Schutz gegen Kälte getragen wird, zeigt sich an den gut verhüllten Maoris Neuseelands, die von Schamhaftigkeit keinen Begriff haben 3). Das gleiche gilt von den hochgestiegnen Japanesen, denen das gemeinsame Baden beider Geschlechter in geschlossnen Räumen 4), sowie im Freien, erst neuerlich von den Behörden untersagt worden ist. Die Eskimo, zu Winterszeiten bis zum Gesicht in Pelze ge- hüllt, legen gleichwohl in ihren unterirdischen Bauten, wie Kane es so drastisch beschrieben hat, ihre Kleidung völlig ab, wie denn auch das Benehmen der Frau des Eskimo Hans an Bord von Hayes’ Entdeckerschiff deutlich bekundet, dass ihr jede Scham fremd war. Ja selbst die christliche, des Lesens durchweg kun- 1) Reiseskizzen. S. 14. 2) Reisen in die Aequinoctialgegenden. Bd. 3. S. 92. 3) Waitz, Anthropologie. Bd. 1. S. 357. 4) Wilhelm Heine, Japan. Bd. 2. S. 34.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/198>, abgerufen am 19.03.2024.