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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Bekleidung und Obdach.
lichen Sprüngen des Schamgefühls gesellt sich noch der Wider-
spruch, dass wir Entblössungen als Zeichen der Ehrerbietung for-
dern. So ziehen wir den Hut zum Grusse auf der Strasse, in der
Kirche, überhaupt in jedem bedeckten Raume. Die britischen Be-
amten in Indien wiederum fordern aufs strengste von jedem Ein-
gebornen, welcher Kaste er auch angehöre, dass er ihre Amtszimmer
nur nach Ablegung seiner Schuhe betrete.

Brauch und Sitte entscheiden also über Verstattetes und An-
stössiges, und erst nachdem sich eine Ansicht befestigt hat, wird
irgend ein Verstoss zu einer verwerflichen Handlung. Das Scham-
gefühl hat sich noch gar nicht geregt, es herrscht also Nacktheit
beider Geschlechter bei den Australiern, bei den Andamanen, bei
etlichen Stämmen am weissen Nil, bei den rothen Negern des
Sudan und bei den Buschmännern. Auch die Guanchen oder die
alten Bewohner der Canarien, wenigstens die von Gomera und
Palma gehören auf diese Liste 1). Als gänzlich nackt werden von
den ersten spanischen Entdeckern die Bewohner der Bahamainseln,
der kleinen Antillen und eine Anzahl von Küstenstämmen des
heutigen Venezuela und Guayana bezeichnet, denen vielfach mit
Unrecht der Name Cariben beigelegt wird. Zu Eschwege's und
Martius' Zeiten war die Zahl der nackten Brasilianer wie der Puris,
Patachos, Coroados viel grösser als gegenwärtig, wo nur noch die
Botocuden keine Bekleidung angelegt haben 2).

Durchaus irrig wäre die Annahme, dass sich das Schamgefühl
früher beim weiblichen Geschlechte rege als beim männlichen, denn
die Zahl solcher Menschenstämme, bei denen die Männer allein
sich bekleiden, ist nicht unbeträchtlich. Am Orinoco versicherten
Missionäre unserm A. v. Humboldt 3), dass die Weiber weit weniger
Schamgefühl zeigten als die Männer. Bei den Obbo Negern, öst-
lich von dem Ausflusse des grossen Baker'schen Nilsees, besteht
die Bedeckung der Frauen in einem Laubbüschel, während die
Männer einen Fellschurz tragen 4). In dem merkwürdigen
Staate der Monbuttuneger am Uelle bedeckten sich die Männer

1) Kunstmann, Afrika vor den Entdeckungen der Portugiesen. Mün-
chen 1853. S. 46.
2) Ueber die heutige Bekleidung der Coroados s. Burmeister, Reise
nach Brasilien. Berlin 1853. S. 246.
3) Reisen in die Aequinoctialgegenden. Stuttgart 1860. Bd. 3. S. 95.
4) Baker, Albert Nyanza. Bd. 1. S. 273.

Bekleidung und Obdach.
lichen Sprüngen des Schamgefühls gesellt sich noch der Wider-
spruch, dass wir Entblössungen als Zeichen der Ehrerbietung for-
dern. So ziehen wir den Hut zum Grusse auf der Strasse, in der
Kirche, überhaupt in jedem bedeckten Raume. Die britischen Be-
amten in Indien wiederum fordern aufs strengste von jedem Ein-
gebornen, welcher Kaste er auch angehöre, dass er ihre Amtszimmer
nur nach Ablegung seiner Schuhe betrete.

Brauch und Sitte entscheiden also über Verstattetes und An-
stössiges, und erst nachdem sich eine Ansicht befestigt hat, wird
irgend ein Verstoss zu einer verwerflichen Handlung. Das Scham-
gefühl hat sich noch gar nicht geregt, es herrscht also Nacktheit
beider Geschlechter bei den Australiern, bei den Andamanen, bei
etlichen Stämmen am weissen Nil, bei den rothen Negern des
Sudan und bei den Buschmännern. Auch die Guanchen oder die
alten Bewohner der Canarien, wenigstens die von Gomera und
Palma gehören auf diese Liste 1). Als gänzlich nackt werden von
den ersten spanischen Entdeckern die Bewohner der Bahamainseln,
der kleinen Antillen und eine Anzahl von Küstenstämmen des
heutigen Venezuela und Guayana bezeichnet, denen vielfach mit
Unrecht der Name Cariben beigelegt wird. Zu Eschwege’s und
Martius’ Zeiten war die Zahl der nackten Brasilianer wie der Puris,
Patachos, Coroados viel grösser als gegenwärtig, wo nur noch die
Botocuden keine Bekleidung angelegt haben 2).

Durchaus irrig wäre die Annahme, dass sich das Schamgefühl
früher beim weiblichen Geschlechte rege als beim männlichen, denn
die Zahl solcher Menschenstämme, bei denen die Männer allein
sich bekleiden, ist nicht unbeträchtlich. Am Orinoco versicherten
Missionäre unserm A. v. Humboldt 3), dass die Weiber weit weniger
Schamgefühl zeigten als die Männer. Bei den Obbo Negern, öst-
lich von dem Ausflusse des grossen Baker’schen Nilsees, besteht
die Bedeckung der Frauen in einem Laubbüschel, während die
Männer einen Fellschurz tragen 4). In dem merkwürdigen
Staate der Monbuttuneger am Uëlle bedeckten sich die Männer

1) Kunstmann, Afrika vor den Entdeckungen der Portugiesen. Mün-
chen 1853. S. 46.
2) Ueber die heutige Bekleidung der Coroados s. Burmeister, Reise
nach Brasilien. Berlin 1853. S. 246.
3) Reisen in die Aequinoctialgegenden. Stuttgart 1860. Bd. 3. S. 95.
4) Baker, Albert Nyanza. Bd. 1. S. 273.
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[178/0196] Bekleidung und Obdach. lichen Sprüngen des Schamgefühls gesellt sich noch der Wider- spruch, dass wir Entblössungen als Zeichen der Ehrerbietung for- dern. So ziehen wir den Hut zum Grusse auf der Strasse, in der Kirche, überhaupt in jedem bedeckten Raume. Die britischen Be- amten in Indien wiederum fordern aufs strengste von jedem Ein- gebornen, welcher Kaste er auch angehöre, dass er ihre Amtszimmer nur nach Ablegung seiner Schuhe betrete. Brauch und Sitte entscheiden also über Verstattetes und An- stössiges, und erst nachdem sich eine Ansicht befestigt hat, wird irgend ein Verstoss zu einer verwerflichen Handlung. Das Scham- gefühl hat sich noch gar nicht geregt, es herrscht also Nacktheit beider Geschlechter bei den Australiern, bei den Andamanen, bei etlichen Stämmen am weissen Nil, bei den rothen Negern des Sudan und bei den Buschmännern. Auch die Guanchen oder die alten Bewohner der Canarien, wenigstens die von Gomera und Palma gehören auf diese Liste 1). Als gänzlich nackt werden von den ersten spanischen Entdeckern die Bewohner der Bahamainseln, der kleinen Antillen und eine Anzahl von Küstenstämmen des heutigen Venezuela und Guayana bezeichnet, denen vielfach mit Unrecht der Name Cariben beigelegt wird. Zu Eschwege’s und Martius’ Zeiten war die Zahl der nackten Brasilianer wie der Puris, Patachos, Coroados viel grösser als gegenwärtig, wo nur noch die Botocuden keine Bekleidung angelegt haben 2). Durchaus irrig wäre die Annahme, dass sich das Schamgefühl früher beim weiblichen Geschlechte rege als beim männlichen, denn die Zahl solcher Menschenstämme, bei denen die Männer allein sich bekleiden, ist nicht unbeträchtlich. Am Orinoco versicherten Missionäre unserm A. v. Humboldt 3), dass die Weiber weit weniger Schamgefühl zeigten als die Männer. Bei den Obbo Negern, öst- lich von dem Ausflusse des grossen Baker’schen Nilsees, besteht die Bedeckung der Frauen in einem Laubbüschel, während die Männer einen Fellschurz tragen 4). In dem merkwürdigen Staate der Monbuttuneger am Uëlle bedeckten sich die Männer 1) Kunstmann, Afrika vor den Entdeckungen der Portugiesen. Mün- chen 1853. S. 46. 2) Ueber die heutige Bekleidung der Coroados s. Burmeister, Reise nach Brasilien. Berlin 1853. S. 246. 3) Reisen in die Aequinoctialgegenden. Stuttgart 1860. Bd. 3. S. 95. 4) Baker, Albert Nyanza. Bd. 1. S. 273.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/196>, abgerufen am 19.03.2024.