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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
der von einer Anhöhe zuschaute, wie der Neubauer hinter seinem
Pfluge herging, nicht etwa um ihm seine Geheimnisse abzulauschen,
sondern um erst verwundert drein zu schauen, und dann bedauer-
lich ihm den Rücken zu kehren, als habe er im Stillen gedacht
wie der lateinische Dichter, dass unmöglich das Leben mehr werth
sein könne als die Lebensreize (non propter vitam vivendi perdere
causas). Dass diess der letzte Gedanke sei, können wir auch durch
eine andere Betrachtung inne werden. Die rothen Indianerstämme
Nordamerika's denken sich das Jenseits als eine Fortdauer des
irdischen Lebens. Der grosse Geist, so hoffen sie, werde sie in
wildreiche Gefilde versetzen 1). So stellen sich auch die streitbaren
Maori Neu-Seelands das Leben nach dem Tod als eine fortgesetzte
Reihe von Gefechten und Fehden vor, aus denen die Seligen immer
wieder erneuert als Sieger hervorgehen. Unsere germanischen Vor-
eltern hegten die gleichen Hoffnungen. Folglich erscheint dem
wenig cultivirten Menschen das Leben, welches er lebt, so genuss-
reich, dass er sich ein anderes nur als eine Steigerung zu denken
vermag. Fragen wir uns nun selbst, ob uns mit einem gesteigerten
Diesseits irgend wie gedient wäre, ob sich etwa ein Lohnarbeiter
das Leben nach dem Tode vorstellen möchte, als eine meilenlange
Garnmühle? Oder können wir glauben, dass ein Londoner Cockney,
der jährlich nur wenigemal, manches Jahr gar keinmal, in das
Freie gelangt, das Jenseits sich vorstellen könnte als ein ver-
grössertes London? Wir müssen also schliessen, dass das physische
Wohlbehagen auf den niedersten Gesittungsstufen viel grösser, der
Schätzungswerth des Lebens viel geringer sei, dass der sogenannte Wilde
lieber auf das Dasein verzichtet, als die Lasten der Gesittung sich
zuzuziehen. Wäre die Heimath der alten Deutschen, wie sie Ta-
citus schildert, in Nordamerika gelegen gewesen, allem Vermuthen
nach wären sie nach der Entdeckung durch die Europäer dem
nämlichen Verhängniss verfallen, wie die Algonquinen oder die
Fünf Nationen. Der Uebergang von Jagderwerb zum strengen
Ackerbau muss durch mehrere Geschlechter sich langsam voll-
ziehen, sonst stellt sich der Racentod ein. Wir sehen daher, dass
in der neuen Welt diejenigen Eingebornen, welche schon einen
höheren Culturgrad erreicht hatten, wie die Bewohner Mexico's,

1) Charlevoix, Nouvelle France. Paris 1744. tom. III. p. 352--353.

Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
der von einer Anhöhe zuschaute, wie der Neubauer hinter seinem
Pfluge herging, nicht etwa um ihm seine Geheimnisse abzulauschen,
sondern um erst verwundert drein zu schauen, und dann bedauer-
lich ihm den Rücken zu kehren, als habe er im Stillen gedacht
wie der lateinische Dichter, dass unmöglich das Leben mehr werth
sein könne als die Lebensreize (non propter vitam vivendi perdere
causas). Dass diess der letzte Gedanke sei, können wir auch durch
eine andere Betrachtung inne werden. Die rothen Indianerstämme
Nordamerika’s denken sich das Jenseits als eine Fortdauer des
irdischen Lebens. Der grosse Geist, so hoffen sie, werde sie in
wildreiche Gefilde versetzen 1). So stellen sich auch die streitbaren
Maori Neu-Seelands das Leben nach dem Tod als eine fortgesetzte
Reihe von Gefechten und Fehden vor, aus denen die Seligen immer
wieder erneuert als Sieger hervorgehen. Unsere germanischen Vor-
eltern hegten die gleichen Hoffnungen. Folglich erscheint dem
wenig cultivirten Menschen das Leben, welches er lebt, so genuss-
reich, dass er sich ein anderes nur als eine Steigerung zu denken
vermag. Fragen wir uns nun selbst, ob uns mit einem gesteigerten
Diesseits irgend wie gedient wäre, ob sich etwa ein Lohnarbeiter
das Leben nach dem Tode vorstellen möchte, als eine meilenlange
Garnmühle? Oder können wir glauben, dass ein Londoner Cockney,
der jährlich nur wenigemal, manches Jahr gar keinmal, in das
Freie gelangt, das Jenseits sich vorstellen könnte als ein ver-
grössertes London? Wir müssen also schliessen, dass das physische
Wohlbehagen auf den niedersten Gesittungsstufen viel grösser, der
Schätzungswerth des Lebens viel geringer sei, dass der sogenannte Wilde
lieber auf das Dasein verzichtet, als die Lasten der Gesittung sich
zuzuziehen. Wäre die Heimath der alten Deutschen, wie sie Ta-
citus schildert, in Nordamerika gelegen gewesen, allem Vermuthen
nach wären sie nach der Entdeckung durch die Europäer dem
nämlichen Verhängniss verfallen, wie die Algonquinen oder die
Fünf Nationen. Der Uebergang von Jagderwerb zum strengen
Ackerbau muss durch mehrere Geschlechter sich langsam voll-
ziehen, sonst stellt sich der Racentod ein. Wir sehen daher, dass
in der neuen Welt diejenigen Eingebornen, welche schon einen
höheren Culturgrad erreicht hatten, wie die Bewohner Mexico’s,

1) Charlevoix, Nouvelle France. Paris 1744. tom. III. p. 352—353.
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[157/0175] Die Urzustände des Menschengeschlechtes. der von einer Anhöhe zuschaute, wie der Neubauer hinter seinem Pfluge herging, nicht etwa um ihm seine Geheimnisse abzulauschen, sondern um erst verwundert drein zu schauen, und dann bedauer- lich ihm den Rücken zu kehren, als habe er im Stillen gedacht wie der lateinische Dichter, dass unmöglich das Leben mehr werth sein könne als die Lebensreize (non propter vitam vivendi perdere causas). Dass diess der letzte Gedanke sei, können wir auch durch eine andere Betrachtung inne werden. Die rothen Indianerstämme Nordamerika’s denken sich das Jenseits als eine Fortdauer des irdischen Lebens. Der grosse Geist, so hoffen sie, werde sie in wildreiche Gefilde versetzen 1). So stellen sich auch die streitbaren Maori Neu-Seelands das Leben nach dem Tod als eine fortgesetzte Reihe von Gefechten und Fehden vor, aus denen die Seligen immer wieder erneuert als Sieger hervorgehen. Unsere germanischen Vor- eltern hegten die gleichen Hoffnungen. Folglich erscheint dem wenig cultivirten Menschen das Leben, welches er lebt, so genuss- reich, dass er sich ein anderes nur als eine Steigerung zu denken vermag. Fragen wir uns nun selbst, ob uns mit einem gesteigerten Diesseits irgend wie gedient wäre, ob sich etwa ein Lohnarbeiter das Leben nach dem Tode vorstellen möchte, als eine meilenlange Garnmühle? Oder können wir glauben, dass ein Londoner Cockney, der jährlich nur wenigemal, manches Jahr gar keinmal, in das Freie gelangt, das Jenseits sich vorstellen könnte als ein ver- grössertes London? Wir müssen also schliessen, dass das physische Wohlbehagen auf den niedersten Gesittungsstufen viel grösser, der Schätzungswerth des Lebens viel geringer sei, dass der sogenannte Wilde lieber auf das Dasein verzichtet, als die Lasten der Gesittung sich zuzuziehen. Wäre die Heimath der alten Deutschen, wie sie Ta- citus schildert, in Nordamerika gelegen gewesen, allem Vermuthen nach wären sie nach der Entdeckung durch die Europäer dem nämlichen Verhängniss verfallen, wie die Algonquinen oder die Fünf Nationen. Der Uebergang von Jagderwerb zum strengen Ackerbau muss durch mehrere Geschlechter sich langsam voll- ziehen, sonst stellt sich der Racentod ein. Wir sehen daher, dass in der neuen Welt diejenigen Eingebornen, welche schon einen höheren Culturgrad erreicht hatten, wie die Bewohner Mexico’s, 1) Charlevoix, Nouvelle France. Paris 1744. tom. III. p. 352—353.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/175>, abgerufen am 19.03.2024.