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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
sterben der Bisonheerden und der noch übrigen Reste von India-
nern ausserordentlich beschleunigen, und das neue Jahrhundert in
den Vereinigten Staaten nicht mehr für Rothhäute anbrechen oder
es werden sich höchstens einzelne als bezähmte Merkwürdigkeiten
noch ein paar Jahre hinschleppen. Dieser paläontologische Process
sollte für uns nichts geheimnissvolles besitzen.

Vor allen Dingen ist nicht etwa an eine blutige Unterdrückung
zu denken. Oft genug wird den Spaniern besondere Grausamkeit
vorgeworfen. Wir wollen durchaus nicht abläugnen, dass sie sich
reichlich mit Indianerblut befleckt haben, es geschah diess aber
nur aus Habsucht, nicht aus Mordlust; die Ausrottung wurde auch
stets beklagt und durch milde, wenn auch ohnmächtige, Gesetze ihr
entgegengewirkt. Die überseeische Geschichte Spaniens kennt keinen
Fall, der sich an Verworfenheit mit dem messen könnte, dass Portugiesen
in Brasilien die Kleider von Scharlach- oder Blatterkranken auf die
Reviere der Eingebornen abgelegt haben 1), um die Pest künstlich
unter ihnen zu verbreiten, oder dass die Brunnen in den Wüsten
Utahs, welche von den Rothhäuten besucht zu werden pflegten, von
Nordamerikanern, mit Strychnin vergiftet wurden 2), oder wie in Austra-
lien, wo zu Hungerszeiten die Frauen von Ansiedlern Arsenik
unter das Mehl mischten 3), mit dem sie die bettelnden Eingebornen
beschenkten, oder endlich wie in Tasmanien, wo englische Ansiedler
die Eingebornen niederschossen, wenn sie kein besseres Futter für ihre
Hunde fanden 4). Doch haben nicht Grausamkeit oder Bedrückung
irgendwo einen Menschenstamm völlig ausgerottet, selbst neue Krank-
heiten, die Pocken mit eingeschlossen, haben nicht Völker vertilgt, und
noch weniger die Branntweinseuche, sondern ein viel seltsamerer
Todesengel berührt jetzt einst fröhliche und glückliche Menschen-
stämme, nämlich der Lebensüberdruss. Die unglücklichen Bewohner
der Antillen tödteten sich auf Verabredung gemeindeweise theils
durch Gift, theils durch den Strick 5). Ein Missionär in Oaxaca
vertraute dem spanischen Historiker Zurita, dass sich Horden der

1) Prinz zu Neuwied, Reise nach Brasilien. Bd. 2. S. 64. v. Tschudi,
Reisen durch Südamerika. Bd. 2. S. 262.
2) R. Burton, The city of the Saints. London 1862, p. 576.
3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 824 und Eyre, Central
Australia. London 1845. tom. II, 175.
4) Bonwick, The last oft the Tasmanians. London 1870. p. 58.
5) Las Casas, Hist. de las Indias, lib. III. cap. 81.

Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
sterben der Bisonheerden und der noch übrigen Reste von India-
nern ausserordentlich beschleunigen, und das neue Jahrhundert in
den Vereinigten Staaten nicht mehr für Rothhäute anbrechen oder
es werden sich höchstens einzelne als bezähmte Merkwürdigkeiten
noch ein paar Jahre hinschleppen. Dieser paläontologische Process
sollte für uns nichts geheimnissvolles besitzen.

Vor allen Dingen ist nicht etwa an eine blutige Unterdrückung
zu denken. Oft genug wird den Spaniern besondere Grausamkeit
vorgeworfen. Wir wollen durchaus nicht abläugnen, dass sie sich
reichlich mit Indianerblut befleckt haben, es geschah diess aber
nur aus Habsucht, nicht aus Mordlust; die Ausrottung wurde auch
stets beklagt und durch milde, wenn auch ohnmächtige, Gesetze ihr
entgegengewirkt. Die überseeische Geschichte Spaniens kennt keinen
Fall, der sich an Verworfenheit mit dem messen könnte, dass Portugiesen
in Brasilien die Kleider von Scharlach- oder Blatterkranken auf die
Reviere der Eingebornen abgelegt haben 1), um die Pest künstlich
unter ihnen zu verbreiten, oder dass die Brunnen in den Wüsten
Utahs, welche von den Rothhäuten besucht zu werden pflegten, von
Nordamerikanern, mit Strychnin vergiftet wurden 2), oder wie in Austra-
lien, wo zu Hungerszeiten die Frauen von Ansiedlern Arsenik
unter das Mehl mischten 3), mit dem sie die bettelnden Eingebornen
beschenkten, oder endlich wie in Tasmanien, wo englische Ansiedler
die Eingebornen niederschossen, wenn sie kein besseres Futter für ihre
Hunde fanden 4). Doch haben nicht Grausamkeit oder Bedrückung
irgendwo einen Menschenstamm völlig ausgerottet, selbst neue Krank-
heiten, die Pocken mit eingeschlossen, haben nicht Völker vertilgt, und
noch weniger die Branntweinseuche, sondern ein viel seltsamerer
Todesengel berührt jetzt einst fröhliche und glückliche Menschen-
stämme, nämlich der Lebensüberdruss. Die unglücklichen Bewohner
der Antillen tödteten sich auf Verabredung gemeindeweise theils
durch Gift, theils durch den Strick 5). Ein Missionär in Oaxaca
vertraute dem spanischen Historiker Zurita, dass sich Horden der

1) Prinz zu Neuwied, Reise nach Brasilien. Bd. 2. S. 64. v. Tschudi,
Reisen durch Südamerika. Bd. 2. S. 262.
2) R. Burton, The city of the Saints. London 1862, p. 576.
3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 824 und Eyre, Central
Australia. London 1845. tom. II, 175.
4) Bonwick, The last oft the Tasmanians. London 1870. p. 58.
5) Las Casas, Hist. de las Indias, lib. III. cap. 81.
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[154/0172] Die Urzustände des Menschengeschlechtes. sterben der Bisonheerden und der noch übrigen Reste von India- nern ausserordentlich beschleunigen, und das neue Jahrhundert in den Vereinigten Staaten nicht mehr für Rothhäute anbrechen oder es werden sich höchstens einzelne als bezähmte Merkwürdigkeiten noch ein paar Jahre hinschleppen. Dieser paläontologische Process sollte für uns nichts geheimnissvolles besitzen. Vor allen Dingen ist nicht etwa an eine blutige Unterdrückung zu denken. Oft genug wird den Spaniern besondere Grausamkeit vorgeworfen. Wir wollen durchaus nicht abläugnen, dass sie sich reichlich mit Indianerblut befleckt haben, es geschah diess aber nur aus Habsucht, nicht aus Mordlust; die Ausrottung wurde auch stets beklagt und durch milde, wenn auch ohnmächtige, Gesetze ihr entgegengewirkt. Die überseeische Geschichte Spaniens kennt keinen Fall, der sich an Verworfenheit mit dem messen könnte, dass Portugiesen in Brasilien die Kleider von Scharlach- oder Blatterkranken auf die Reviere der Eingebornen abgelegt haben 1), um die Pest künstlich unter ihnen zu verbreiten, oder dass die Brunnen in den Wüsten Utahs, welche von den Rothhäuten besucht zu werden pflegten, von Nordamerikanern, mit Strychnin vergiftet wurden 2), oder wie in Austra- lien, wo zu Hungerszeiten die Frauen von Ansiedlern Arsenik unter das Mehl mischten 3), mit dem sie die bettelnden Eingebornen beschenkten, oder endlich wie in Tasmanien, wo englische Ansiedler die Eingebornen niederschossen, wenn sie kein besseres Futter für ihre Hunde fanden 4). Doch haben nicht Grausamkeit oder Bedrückung irgendwo einen Menschenstamm völlig ausgerottet, selbst neue Krank- heiten, die Pocken mit eingeschlossen, haben nicht Völker vertilgt, und noch weniger die Branntweinseuche, sondern ein viel seltsamerer Todesengel berührt jetzt einst fröhliche und glückliche Menschen- stämme, nämlich der Lebensüberdruss. Die unglücklichen Bewohner der Antillen tödteten sich auf Verabredung gemeindeweise theils durch Gift, theils durch den Strick 5). Ein Missionär in Oaxaca vertraute dem spanischen Historiker Zurita, dass sich Horden der 1) Prinz zu Neuwied, Reise nach Brasilien. Bd. 2. S. 64. v. Tschudi, Reisen durch Südamerika. Bd. 2. S. 262. 2) R. Burton, The city of the Saints. London 1862, p. 576. 3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 824 und Eyre, Central Australia. London 1845. tom. II, 175. 4) Bonwick, The last oft the Tasmanians. London 1870. p. 58. 5) Las Casas, Hist. de las Indias, lib. III. cap. 81.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/172>, abgerufen am 19.04.2024.