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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
sie ihre Gelage durch Gesänge beleben, die freilich roh und ge-
dankenarm sein mögen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-
derts waren die Engkeräkmung noch so kräftig, dass sie drei
Hafenplätze zerstören und die Portugiesen völlig aus der Provinz
Porto Seguro vertreiben konnten, was ihnen doch niemals ohne
ein nationales Gemeingefühl und ein Bündniss der verschiednen
Zweige ihres Stammes gelungen wäre. Als ihre höchste Leistung
lässt sich noch mittheilen, dass die Nakenuk, eine ihrer Horden,
drei Jahre nach einander genau am 6. Sptbr. bei einer brasilia-
nischen Niederlassung sich einstellte, um dort vertragsmässig mit
einem jährlichen Festschmaus bewirthet zu werden, so dass sie also
irgend eine Zeitrechnung sich angeeignet haben müssen 1).

Vielleicht haben wir nur Missgriffe begangen, jene eben ge-
schilderten Menschenstämme unter alle andren zu erniedrigen.
Ihre Sprachen sind nur sehr unvollkommen gekannt und ehe dies
nicht der Fall ist, wird Niemand in den Kreis ihrer geistigen Vor-
stellungen eindringen können. Flüchtige Reisende sind stets die-
jenigen gewesen, welche uns die traurigsten Gemälde der soge-
nannten wilden Völker entworfen und namentlich die Beschränktheit
ihrer Sprache behauptet haben. So war es auch beispielsweise dem
Caribischen ergangen, bis Alexander v. Humboldt aussprach: "Es
verbindet Reichthum, Anmuth, Kraft und Zartheit. Es fehlt ihm
nicht an Ausdrücken für abstracte Begriffe, es kann von Zukunft,
Ewigkeit, Existenz reden und hat Zahlwörter genug, um alle mög-
lichen Combinationen unsrer Zahlzeichen anzugeben 2)."

Die oben genannten Völker leben von Jagd oder Fischerei,
sie bewohnen auch meistens Inseln und werden aus allen diesen
Gründen im Kurzen dem Racentode verfallen. Damit wollen wir
nicht ausschliessen, dass nicht auch Hirtenstämme aussterben sollten,
wie es das sichere Loos der Hottentotten und sämmtlicher nord-
sibirischer Nomaden sein wird. In Nordamerika haben sich bis
jetzt auf den Gebieten der Hudsonsbaigesellschaft durch gute Schutz-
gesetze die Jäger gesund erhalten, jetzt wo die Privilegien jener
Gesellschaft erloschen sind, droht auch ihnen das Verhängniss. Die
Eröffnung der grossen Westbahnen nach Californien wird das Aus-

1) J. J. v. Tschudi, Reisen durch Südamerika. Leipzig 1860. Bd. 2.
S. 285.
2) Alexander v. Humboldt. Eine wissenschaftl. Biographie. Heraus-
gegeben von Karl Bruhns. Leipzig 1872. Bd. 1. S. 379.

Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
sie ihre Gelage durch Gesänge beleben, die freilich roh und ge-
dankenarm sein mögen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-
derts waren die Engkeräkmung noch so kräftig, dass sie drei
Hafenplätze zerstören und die Portugiesen völlig aus der Provinz
Porto Seguro vertreiben konnten, was ihnen doch niemals ohne
ein nationales Gemeingefühl und ein Bündniss der verschiednen
Zweige ihres Stammes gelungen wäre. Als ihre höchste Leistung
lässt sich noch mittheilen, dass die Nakenuk, eine ihrer Horden,
drei Jahre nach einander genau am 6. Sptbr. bei einer brasilia-
nischen Niederlassung sich einstellte, um dort vertragsmässig mit
einem jährlichen Festschmaus bewirthet zu werden, so dass sie also
irgend eine Zeitrechnung sich angeeignet haben müssen 1).

Vielleicht haben wir nur Missgriffe begangen, jene eben ge-
schilderten Menschenstämme unter alle andren zu erniedrigen.
Ihre Sprachen sind nur sehr unvollkommen gekannt und ehe dies
nicht der Fall ist, wird Niemand in den Kreis ihrer geistigen Vor-
stellungen eindringen können. Flüchtige Reisende sind stets die-
jenigen gewesen, welche uns die traurigsten Gemälde der soge-
nannten wilden Völker entworfen und namentlich die Beschränktheit
ihrer Sprache behauptet haben. So war es auch beispielsweise dem
Caribischen ergangen, bis Alexander v. Humboldt aussprach: „Es
verbindet Reichthum, Anmuth, Kraft und Zartheit. Es fehlt ihm
nicht an Ausdrücken für abstracte Begriffe, es kann von Zukunft,
Ewigkeit, Existenz reden und hat Zahlwörter genug, um alle mög-
lichen Combinationen unsrer Zahlzeichen anzugeben 2).“

Die oben genannten Völker leben von Jagd oder Fischerei,
sie bewohnen auch meistens Inseln und werden aus allen diesen
Gründen im Kurzen dem Racentode verfallen. Damit wollen wir
nicht ausschliessen, dass nicht auch Hirtenstämme aussterben sollten,
wie es das sichere Loos der Hottentotten und sämmtlicher nord-
sibirischer Nomaden sein wird. In Nordamerika haben sich bis
jetzt auf den Gebieten der Hudsonsbaigesellschaft durch gute Schutz-
gesetze die Jäger gesund erhalten, jetzt wo die Privilegien jener
Gesellschaft erloschen sind, droht auch ihnen das Verhängniss. Die
Eröffnung der grossen Westbahnen nach Californien wird das Aus-

1) J. J. v. Tschudi, Reisen durch Südamerika. Leipzig 1860. Bd. 2.
S. 285.
2) Alexander v. Humboldt. Eine wissenschaftl. Biographie. Heraus-
gegeben von Karl Bruhns. Leipzig 1872. Bd. 1. S. 379.
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[153/0171] Die Urzustände des Menschengeschlechtes. sie ihre Gelage durch Gesänge beleben, die freilich roh und ge- dankenarm sein mögen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun- derts waren die Engkeräkmung noch so kräftig, dass sie drei Hafenplätze zerstören und die Portugiesen völlig aus der Provinz Porto Seguro vertreiben konnten, was ihnen doch niemals ohne ein nationales Gemeingefühl und ein Bündniss der verschiednen Zweige ihres Stammes gelungen wäre. Als ihre höchste Leistung lässt sich noch mittheilen, dass die Nakenuk, eine ihrer Horden, drei Jahre nach einander genau am 6. Sptbr. bei einer brasilia- nischen Niederlassung sich einstellte, um dort vertragsmässig mit einem jährlichen Festschmaus bewirthet zu werden, so dass sie also irgend eine Zeitrechnung sich angeeignet haben müssen 1). Vielleicht haben wir nur Missgriffe begangen, jene eben ge- schilderten Menschenstämme unter alle andren zu erniedrigen. Ihre Sprachen sind nur sehr unvollkommen gekannt und ehe dies nicht der Fall ist, wird Niemand in den Kreis ihrer geistigen Vor- stellungen eindringen können. Flüchtige Reisende sind stets die- jenigen gewesen, welche uns die traurigsten Gemälde der soge- nannten wilden Völker entworfen und namentlich die Beschränktheit ihrer Sprache behauptet haben. So war es auch beispielsweise dem Caribischen ergangen, bis Alexander v. Humboldt aussprach: „Es verbindet Reichthum, Anmuth, Kraft und Zartheit. Es fehlt ihm nicht an Ausdrücken für abstracte Begriffe, es kann von Zukunft, Ewigkeit, Existenz reden und hat Zahlwörter genug, um alle mög- lichen Combinationen unsrer Zahlzeichen anzugeben 2).“ Die oben genannten Völker leben von Jagd oder Fischerei, sie bewohnen auch meistens Inseln und werden aus allen diesen Gründen im Kurzen dem Racentode verfallen. Damit wollen wir nicht ausschliessen, dass nicht auch Hirtenstämme aussterben sollten, wie es das sichere Loos der Hottentotten und sämmtlicher nord- sibirischer Nomaden sein wird. In Nordamerika haben sich bis jetzt auf den Gebieten der Hudsonsbaigesellschaft durch gute Schutz- gesetze die Jäger gesund erhalten, jetzt wo die Privilegien jener Gesellschaft erloschen sind, droht auch ihnen das Verhängniss. Die Eröffnung der grossen Westbahnen nach Californien wird das Aus- 1) J. J. v. Tschudi, Reisen durch Südamerika. Leipzig 1860. Bd. 2. S. 285. 2) Alexander v. Humboldt. Eine wissenschaftl. Biographie. Heraus- gegeben von Karl Bruhns. Leipzig 1872. Bd. 1. S. 379.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/171>, abgerufen am 19.03.2024.