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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
die Regeln der Racezüchtung 1). Leider tödten sie aber auch bei Hungers-
nöthen die alten Frauen vor den Hunden, weil diese, sagen sie, See-
ottern fangen, jene aber nicht 2). Daran wollen wir noch die Bemer-
kung eines der besten Beobachter unsrer Tage knüpfen. "Als ich,
am Bord des Beagle, versichert Charles Darwin, mit den Feuer-
ländern zusammenlebte, ward ich unaufhörlich überrascht von
kleinen Charakterzügen, welche zeigten, wie ähnlich ihre geistigen
Eigenschaften den unsrigen waren" 3). Fitzroy endlich schreibt
ihnen den Glauben an eine gerechte Gottheit zu, welche Unheil
sendet, als Strafe für begangene Verbrechen 4).

Unter allen Bewohnern der Erde stehen vielleicht die Boto-
cuden Brasiliens dem Urzustande noch am nächsten. Wohnen sie
auch nicht an der Südspitze eines Festlandes, so ist doch ihre
Heimath unwirthlich und am spätesten von allen Küstenstrichen
Brasiliens durch Europäer besiedelt worden. Die Botocuden leben
in gänzlicher Nacktheit und entstellen sich durch Lippen- und
Wangenhölzer, wodurch sie sich ihren Namen zugezogen haben,
der von dem portugiesischen botoque (Stöpsel) abzuleiten ist, denn
unter sich heissen sie Engkeräkmung. Ihre Nahrung erwerben sie
sich mit dem Pfeil, tragen übrigens, was andere Horden versäumen,
die linke Hand mit einer Schnur umwickelt, um sie vor Verletzung
durch die zurückschnellende Sehne zu schützen. Sie leben im
Zeitalter der geschliffnen aber undurchbohrten Steingeräthe, bauen
Hütten, schlafen auf Bastmatten, kochen in Thongeschirren und
sollen im Monde den Urheber der Schöpfung verehren 5). Die
Nutzung der Jagdreviere wird nur den Eigenthümern verstattet und
Wildfrevel durch duellartige Zweikämpfe gerächt 6). Auf ihren Ge-
bieten sorgen sie für Verkehrsmittel, denn sie erbauen schwebende
Seilbrücken aus Schlingreben (cipo) 7). Setzen wir noch hinzu, dass
ihre Sprache einen Ausdruck für Schamröthe besitzt 8), sowie dass

gelauscht, welche sich nach europäischer Art des Feuersteines und Stahles
bedienen. Musters im Journal of the Anthropol. Institute. vol. I. p. 198.
1) Darwin, Domestication. tom. II, p. 207.
2) Darwin, Journal of Researches. London 1845. p. 214.
3) Abstammung des Menschen. Bd. 1. S. 209.
4) W. P. Snow, l. c. tom. II, p. 358.
5) Prinz zu Neuwied, Reise nach Brasilien. Bd. 2. S. 18, 21, 27, 35.
6) l. c. Bd. 1. S. 368.
7) l. c. Bd. 2. S. 37.
8) l. c. Bd. 2. S. 312.

Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
die Regeln der Racezüchtung 1). Leider tödten sie aber auch bei Hungers-
nöthen die alten Frauen vor den Hunden, weil diese, sagen sie, See-
ottern fangen, jene aber nicht 2). Daran wollen wir noch die Bemer-
kung eines der besten Beobachter unsrer Tage knüpfen. „Als ich,
am Bord des Beagle, versichert Charles Darwin, mit den Feuer-
ländern zusammenlebte, ward ich unaufhörlich überrascht von
kleinen Charakterzügen, welche zeigten, wie ähnlich ihre geistigen
Eigenschaften den unsrigen waren“ 3). Fitzroy endlich schreibt
ihnen den Glauben an eine gerechte Gottheit zu, welche Unheil
sendet, als Strafe für begangene Verbrechen 4).

Unter allen Bewohnern der Erde stehen vielleicht die Boto-
cuden Brasiliens dem Urzustande noch am nächsten. Wohnen sie
auch nicht an der Südspitze eines Festlandes, so ist doch ihre
Heimath unwirthlich und am spätesten von allen Küstenstrichen
Brasiliens durch Europäer besiedelt worden. Die Botocuden leben
in gänzlicher Nacktheit und entstellen sich durch Lippen- und
Wangenhölzer, wodurch sie sich ihren Namen zugezogen haben,
der von dem portugiesischen botoque (Stöpsel) abzuleiten ist, denn
unter sich heissen sie Engkeräkmung. Ihre Nahrung erwerben sie
sich mit dem Pfeil, tragen übrigens, was andere Horden versäumen,
die linke Hand mit einer Schnur umwickelt, um sie vor Verletzung
durch die zurückschnellende Sehne zu schützen. Sie leben im
Zeitalter der geschliffnen aber undurchbohrten Steingeräthe, bauen
Hütten, schlafen auf Bastmatten, kochen in Thongeschirren und
sollen im Monde den Urheber der Schöpfung verehren 5). Die
Nutzung der Jagdreviere wird nur den Eigenthümern verstattet und
Wildfrevel durch duellartige Zweikämpfe gerächt 6). Auf ihren Ge-
bieten sorgen sie für Verkehrsmittel, denn sie erbauen schwebende
Seilbrücken aus Schlingreben (çipo) 7). Setzen wir noch hinzu, dass
ihre Sprache einen Ausdruck für Schamröthe besitzt 8), sowie dass

gelauscht, welche sich nach europäischer Art des Feuersteines und Stahles
bedienen. Musters im Journal of the Anthropol. Institute. vol. I. p. 198.
1) Darwin, Domestication. tom. II, p. 207.
2) Darwin, Journal of Researches. London 1845. p. 214.
3) Abstammung des Menschen. Bd. 1. S. 209.
4) W. P. Snow, l. c. tom. II, p. 358.
5) Prinz zu Neuwied, Reise nach Brasilien. Bd. 2. S. 18, 21, 27, 35.
6) l. c. Bd. 1. S. 368.
7) l. c. Bd. 2. S. 37.
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[152/0170] Die Urzustände des Menschengeschlechtes. die Regeln der Racezüchtung 1). Leider tödten sie aber auch bei Hungers- nöthen die alten Frauen vor den Hunden, weil diese, sagen sie, See- ottern fangen, jene aber nicht 2). Daran wollen wir noch die Bemer- kung eines der besten Beobachter unsrer Tage knüpfen. „Als ich, am Bord des Beagle, versichert Charles Darwin, mit den Feuer- ländern zusammenlebte, ward ich unaufhörlich überrascht von kleinen Charakterzügen, welche zeigten, wie ähnlich ihre geistigen Eigenschaften den unsrigen waren“ 3). Fitzroy endlich schreibt ihnen den Glauben an eine gerechte Gottheit zu, welche Unheil sendet, als Strafe für begangene Verbrechen 4). Unter allen Bewohnern der Erde stehen vielleicht die Boto- cuden Brasiliens dem Urzustande noch am nächsten. Wohnen sie auch nicht an der Südspitze eines Festlandes, so ist doch ihre Heimath unwirthlich und am spätesten von allen Küstenstrichen Brasiliens durch Europäer besiedelt worden. Die Botocuden leben in gänzlicher Nacktheit und entstellen sich durch Lippen- und Wangenhölzer, wodurch sie sich ihren Namen zugezogen haben, der von dem portugiesischen botoque (Stöpsel) abzuleiten ist, denn unter sich heissen sie Engkeräkmung. Ihre Nahrung erwerben sie sich mit dem Pfeil, tragen übrigens, was andere Horden versäumen, die linke Hand mit einer Schnur umwickelt, um sie vor Verletzung durch die zurückschnellende Sehne zu schützen. Sie leben im Zeitalter der geschliffnen aber undurchbohrten Steingeräthe, bauen Hütten, schlafen auf Bastmatten, kochen in Thongeschirren und sollen im Monde den Urheber der Schöpfung verehren 5). Die Nutzung der Jagdreviere wird nur den Eigenthümern verstattet und Wildfrevel durch duellartige Zweikämpfe gerächt 6). Auf ihren Ge- bieten sorgen sie für Verkehrsmittel, denn sie erbauen schwebende Seilbrücken aus Schlingreben (çipo) 7). Setzen wir noch hinzu, dass ihre Sprache einen Ausdruck für Schamröthe besitzt 8), sowie dass 4) 1) Darwin, Domestication. tom. II, p. 207. 2) Darwin, Journal of Researches. London 1845. p. 214. 3) Abstammung des Menschen. Bd. 1. S. 209. 4) W. P. Snow, l. c. tom. II, p. 358. 5) Prinz zu Neuwied, Reise nach Brasilien. Bd. 2. S. 18, 21, 27, 35. 6) l. c. Bd. 1. S. 368. 7) l. c. Bd. 2. S. 37. 8) l. c. Bd. 2. S. 312. 4) gelauscht, welche sich nach europäischer Art des Feuersteines und Stahles bedienen. Musters im Journal of the Anthropol. Institute. vol. I. p. 198.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/170>, abgerufen am 19.03.2024.