Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
in jeder Stufe der Entwicklung, aufspringende und geschlossene
Knospen, Sprossen mit schwellenden Knoten und schliesslich in
in den Achselhöhlen der Blätter neue Augen entdecken. So liegt,
wenn er den allmähligen Uebergängen sorgsam nachgeht, der
Lebenslauf der Pflanze völlig aufgeschlossen vor ihm da: Ver-
gangenes, Gegenwärtiges und Künftiges folgt hier nicht nach, son-
dern nebeneinander. Behält man in diesem Falle nur die Reihen-
folge des Gestaltenwechsels im Auge, so lässt sich, wie seltsam es
auh klingen mag, behaupten, dass die Frucht jünger sei als die
Rose, und die Rose jünger als die Knospe; denn die Frucht folgte
nach der Blüthe und den Blumen ging die noch blattähnliche
Knospenanschwellung voraus, wie man auch im morphologischen
Sinne hinzusetzen darf, dass der Knabe jedenfalls eine ältere Er-
scheinung ist als der Greis. Auch im Knospenzustand werden wir
Völker nicht mehr anzutreffen erwarten dürfen, doch lässt sich
immer aussprechen, bei welchen Menschenstämmen die ältesten
oder vielmehr die alterthümlichsten Zustände sich noch jetzt be-
obachten lassen. Die niedrigsten Gesittungszustände suchte man bisher
gewöhnlich bei den Hottentotten und Buschmännern in Südafrika,
bei den Vedda auf Ceylon, bei den Mincopie auf den Andamanen,
bei den Australiern und den geschwisterlichen Tasmaniern, endlich
bei den Eskimo, sowie bei den Feuerländern und den Botocuden
Brasiliens. Mit Ausnahme der letzteren finden wir alle aufgezählten
Bevölkerungen am äussersten Rande der Festländer, vorzugsweise
an ihrer Südspitze, oder auf abgelegnen Inseln und Weltinseln, sei
es nun, dass sie als schwache Stämme bis in die Endglieder der
Ländermassen verdrängt wurden, oder dass sie sich vorzeitig von
dem andern Menschengeschlechte absonderten und von dem
wachsenden Cultursegen nicht mehr erreicht werden, ja vielleicht
erworbne Gesittungsschätze nicht länger wegen einer Verminderung
ihrer Kopfzahl festhalten konnten. Nur der Missgriff Unkundiger
konnte aber unter diese alterthümlich gebliebenen Menschen geistig so
hochstehende Völker wie die Hottentotten und die Eskimo mischen.
Ob die Australier sammt den Tasmaniern in das Musterbuch
der niedrigsten Menschengeschöpfe gehören, wird sich zur Genüge
aus einem späteren, ihnen gewidmeten Abschnitt ergeben. Aber
auch die übrigen vorher genannten Völker haben alle bei näherer
Bekanntschaft beträchtlich gewonnen.

Die Buschmänner oder San, um mit ihnen zu beginnen, dienten

Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
in jeder Stufe der Entwicklung, aufspringende und geschlossene
Knospen, Sprossen mit schwellenden Knoten und schliesslich in
in den Achselhöhlen der Blätter neue Augen entdecken. So liegt,
wenn er den allmähligen Uebergängen sorgsam nachgeht, der
Lebenslauf der Pflanze völlig aufgeschlossen vor ihm da: Ver-
gangenes, Gegenwärtiges und Künftiges folgt hier nicht nach, son-
dern nebeneinander. Behält man in diesem Falle nur die Reihen-
folge des Gestaltenwechsels im Auge, so lässt sich, wie seltsam es
auh klingen mag, behaupten, dass die Frucht jünger sei als die
Rose, und die Rose jünger als die Knospe; denn die Frucht folgte
nach der Blüthe und den Blumen ging die noch blattähnliche
Knospenanschwellung voraus, wie man auch im morphologischen
Sinne hinzusetzen darf, dass der Knabe jedenfalls eine ältere Er-
scheinung ist als der Greis. Auch im Knospenzustand werden wir
Völker nicht mehr anzutreffen erwarten dürfen, doch lässt sich
immer aussprechen, bei welchen Menschenstämmen die ältesten
oder vielmehr die alterthümlichsten Zustände sich noch jetzt be-
obachten lassen. Die niedrigsten Gesittungszustände suchte man bisher
gewöhnlich bei den Hottentotten und Buschmännern in Südafrika,
bei den Vedda auf Ceylon, bei den Mincopie auf den Andamanen,
bei den Australiern und den geschwisterlichen Tasmaniern, endlich
bei den Eskimo, sowie bei den Feuerländern und den Botocuden
Brasiliens. Mit Ausnahme der letzteren finden wir alle aufgezählten
Bevölkerungen am äussersten Rande der Festländer, vorzugsweise
an ihrer Südspitze, oder auf abgelegnen Inseln und Weltinseln, sei
es nun, dass sie als schwache Stämme bis in die Endglieder der
Ländermassen verdrängt wurden, oder dass sie sich vorzeitig von
dem andern Menschengeschlechte absonderten und von dem
wachsenden Cultursegen nicht mehr erreicht werden, ja vielleicht
erworbne Gesittungsschätze nicht länger wegen einer Verminderung
ihrer Kopfzahl festhalten konnten. Nur der Missgriff Unkundiger
konnte aber unter diese alterthümlich gebliebenen Menschen geistig so
hochstehende Völker wie die Hottentotten und die Eskimo mischen.
Ob die Australier sammt den Tasmaniern in das Musterbuch
der niedrigsten Menschengeschöpfe gehören, wird sich zur Genüge
aus einem späteren, ihnen gewidmeten Abschnitt ergeben. Aber
auch die übrigen vorher genannten Völker haben alle bei näherer
Bekanntschaft beträchtlich gewonnen.

Die Buschmänner oder Sān, um mit ihnen zu beginnen, dienten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0166" n="148"/><fw place="top" type="header">Die Urzustände des Menschengeschlechtes.</fw><lb/>
in jeder Stufe der Entwicklung, aufspringende und geschlossene<lb/>
Knospen, Sprossen mit schwellenden Knoten und schliesslich in<lb/>
in den Achselhöhlen der Blätter neue Augen entdecken. So liegt,<lb/>
wenn er den allmähligen Uebergängen sorgsam nachgeht, der<lb/>
Lebenslauf der Pflanze völlig aufgeschlossen vor ihm da: Ver-<lb/>
gangenes, Gegenwärtiges und Künftiges folgt hier nicht nach, son-<lb/>
dern nebeneinander. Behält man in diesem Falle nur die Reihen-<lb/>
folge des Gestaltenwechsels im Auge, so lässt sich, wie seltsam es<lb/>
auh klingen mag, behaupten, dass die Frucht jünger sei als die<lb/>
Rose, und die Rose jünger als die Knospe; denn die Frucht folgte<lb/>
nach der Blüthe und den Blumen ging die noch blattähnliche<lb/>
Knospenanschwellung voraus, wie man auch im morphologischen<lb/>
Sinne hinzusetzen darf, dass der Knabe jedenfalls eine ältere Er-<lb/>
scheinung ist als der Greis. Auch im Knospenzustand werden wir<lb/>
Völker nicht mehr anzutreffen erwarten dürfen, doch lässt sich<lb/>
immer aussprechen, bei welchen Menschenstämmen die ältesten<lb/>
oder vielmehr die alterthümlichsten Zustände sich noch jetzt be-<lb/>
obachten lassen. Die niedrigsten Gesittungszustände suchte man bisher<lb/>
gewöhnlich bei den Hottentotten und Buschmännern in Südafrika,<lb/>
bei den Vedda auf Ceylon, bei den Mincopie auf den Andamanen,<lb/>
bei den Australiern und den geschwisterlichen Tasmaniern, endlich<lb/>
bei den Eskimo, sowie bei den Feuerländern und den Botocuden<lb/>
Brasiliens. Mit Ausnahme der letzteren finden wir alle aufgezählten<lb/>
Bevölkerungen am äussersten Rande der Festländer, vorzugsweise<lb/>
an ihrer Südspitze, oder auf abgelegnen Inseln und Weltinseln, sei<lb/>
es nun, dass sie als schwache Stämme bis in die Endglieder der<lb/>
Ländermassen verdrängt wurden, oder dass sie sich vorzeitig von<lb/>
dem andern Menschengeschlechte absonderten und von dem<lb/>
wachsenden Cultursegen nicht mehr erreicht werden, ja vielleicht<lb/>
erworbne Gesittungsschätze nicht länger wegen einer Verminderung<lb/>
ihrer Kopfzahl festhalten konnten. Nur der Missgriff Unkundiger<lb/>
konnte aber unter diese alterthümlich gebliebenen Menschen geistig so<lb/>
hochstehende Völker wie die Hottentotten und die Eskimo mischen.<lb/>
Ob die Australier sammt den Tasmaniern in das Musterbuch<lb/>
der niedrigsten Menschengeschöpfe gehören, wird sich zur Genüge<lb/>
aus einem späteren, ihnen gewidmeten Abschnitt ergeben. Aber<lb/>
auch die übrigen vorher genannten Völker haben alle bei näherer<lb/>
Bekanntschaft beträchtlich gewonnen.</p><lb/>
          <p>Die Buschmänner oder S&#x0101;n, um mit ihnen zu beginnen, dienten<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[148/0166] Die Urzustände des Menschengeschlechtes. in jeder Stufe der Entwicklung, aufspringende und geschlossene Knospen, Sprossen mit schwellenden Knoten und schliesslich in in den Achselhöhlen der Blätter neue Augen entdecken. So liegt, wenn er den allmähligen Uebergängen sorgsam nachgeht, der Lebenslauf der Pflanze völlig aufgeschlossen vor ihm da: Ver- gangenes, Gegenwärtiges und Künftiges folgt hier nicht nach, son- dern nebeneinander. Behält man in diesem Falle nur die Reihen- folge des Gestaltenwechsels im Auge, so lässt sich, wie seltsam es auh klingen mag, behaupten, dass die Frucht jünger sei als die Rose, und die Rose jünger als die Knospe; denn die Frucht folgte nach der Blüthe und den Blumen ging die noch blattähnliche Knospenanschwellung voraus, wie man auch im morphologischen Sinne hinzusetzen darf, dass der Knabe jedenfalls eine ältere Er- scheinung ist als der Greis. Auch im Knospenzustand werden wir Völker nicht mehr anzutreffen erwarten dürfen, doch lässt sich immer aussprechen, bei welchen Menschenstämmen die ältesten oder vielmehr die alterthümlichsten Zustände sich noch jetzt be- obachten lassen. Die niedrigsten Gesittungszustände suchte man bisher gewöhnlich bei den Hottentotten und Buschmännern in Südafrika, bei den Vedda auf Ceylon, bei den Mincopie auf den Andamanen, bei den Australiern und den geschwisterlichen Tasmaniern, endlich bei den Eskimo, sowie bei den Feuerländern und den Botocuden Brasiliens. Mit Ausnahme der letzteren finden wir alle aufgezählten Bevölkerungen am äussersten Rande der Festländer, vorzugsweise an ihrer Südspitze, oder auf abgelegnen Inseln und Weltinseln, sei es nun, dass sie als schwache Stämme bis in die Endglieder der Ländermassen verdrängt wurden, oder dass sie sich vorzeitig von dem andern Menschengeschlechte absonderten und von dem wachsenden Cultursegen nicht mehr erreicht werden, ja vielleicht erworbne Gesittungsschätze nicht länger wegen einer Verminderung ihrer Kopfzahl festhalten konnten. Nur der Missgriff Unkundiger konnte aber unter diese alterthümlich gebliebenen Menschen geistig so hochstehende Völker wie die Hottentotten und die Eskimo mischen. Ob die Australier sammt den Tasmaniern in das Musterbuch der niedrigsten Menschengeschöpfe gehören, wird sich zur Genüge aus einem späteren, ihnen gewidmeten Abschnitt ergeben. Aber auch die übrigen vorher genannten Völker haben alle bei näherer Bekanntschaft beträchtlich gewonnen. Die Buschmänner oder Sān, um mit ihnen zu beginnen, dienten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/166
Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/166>, abgerufen am 19.03.2024.