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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
des classischen oder biblischen Alterthums, bei diesen nicht grösser
als es zur Eiszeit gewesen ist. Uebersehen darf bei einer solchen
Erwägung nicht werden, dass in den Zeiten der mittelalterlichen
Scholastiker eine Abnahme des menschlichen Fassungsvermögens
eingestanden wurde, insofern damals die geistigen Grössen der
Griechen und Römer selbst auf dem Gebiete der strengen Wissen-
schaften als nicht mehr erreichbare Vorbilder galten. Gegenwärtig
werden die Chinesen, deren geistige Entwickelung neuerdings nur
sehr träge fortschreitet, von der Anschauung beherrscht, dass die
geistigen Kräfte der Denker ihrer Vorzeit den heutigen Maasstab
weit überschritten hatten. Die Vermuthung eines Wachsthumes
oder einer Abnahme des menschlichen Fassungsvermögens wird
daher schwanken mit dem Selbstgefühl oder dem Mangel an
Selbstgefühl der einzelnen Zeiträume, und in der Gegenwart, wo
durch die ausgebildete Gliederung der Gesellschaft jedes geistige
Licht, methodisch ernährt, viel leichter dazu gelangt, Klarheit um
sich zu verbreiten, werden wir uns zu der Annahme neigen, dass
der menschliche Scharfsinn in der Mittagshöhe schwebe.

Der goldenen Regel eingedenk, dass nur aus dem Bekannten
auf das Unbekannte geschlossen werden dürfe, müssen wir aber
eingestehen, dass die Culturanfänge unseres Geschlechtes noch viel
zu dunkel vor uns liegen, um nicht auch die Vermuthung gelten
zu lassen, dass ein gnädiger Zufall die Erzeugung leuchtender
Wärme durch Reibung offenbart habe. Wir denken dabei nicht
wie Adalbert Kuhn, dass ein dürrer Rankenschoss in einer Ast-
höhlung vom Sturme so lange gepeitscht worden wäre, bis er Feuer
gefangen habe. Wir zweifeln sogar an der physischen Möglichkeit,
dass nach Aussage der Wogulen im Ural ein umgeknickter Baum
gegen einen Nachbarstamm bis zur Entzündung gerieben werde
und Waldbrände verursachen könne. Da bei allen Völkern beider
Welten ursprünglich die nämliche Art der Feuerbereitung und das
nämliche Entzündungsgeräth angetroffen worden sind, so musste die
zufällige Entdeckung bei einem Bohrversuche erfolgt sein und
durchbohrten Werkzeugen -- freilich nur aus Horn -- begegnen
wir schon unter den Resten der Bewohner Europa's zur Eiszeit.
Nur bliebe immerhin unerklärt, da die Ermüdung des Einzelnen
früher eintreten musste, als die Entzündung, während jeder Unter-
brechung aber die Wärme wieder entwich, wesshalb der Bohrver-
such ohne Pause fortgesetzt wurde. Das Reich der Möglichkeiten

Peschel, Völkerkunde. 10

Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
des classischen oder biblischen Alterthums, bei diesen nicht grösser
als es zur Eiszeit gewesen ist. Uebersehen darf bei einer solchen
Erwägung nicht werden, dass in den Zeiten der mittelalterlichen
Scholastiker eine Abnahme des menschlichen Fassungsvermögens
eingestanden wurde, insofern damals die geistigen Grössen der
Griechen und Römer selbst auf dem Gebiete der strengen Wissen-
schaften als nicht mehr erreichbare Vorbilder galten. Gegenwärtig
werden die Chinesen, deren geistige Entwickelung neuerdings nur
sehr träge fortschreitet, von der Anschauung beherrscht, dass die
geistigen Kräfte der Denker ihrer Vorzeit den heutigen Maasstab
weit überschritten hatten. Die Vermuthung eines Wachsthumes
oder einer Abnahme des menschlichen Fassungsvermögens wird
daher schwanken mit dem Selbstgefühl oder dem Mangel an
Selbstgefühl der einzelnen Zeiträume, und in der Gegenwart, wo
durch die ausgebildete Gliederung der Gesellschaft jedes geistige
Licht, methodisch ernährt, viel leichter dazu gelangt, Klarheit um
sich zu verbreiten, werden wir uns zu der Annahme neigen, dass
der menschliche Scharfsinn in der Mittagshöhe schwebe.

Der goldenen Regel eingedenk, dass nur aus dem Bekannten
auf das Unbekannte geschlossen werden dürfe, müssen wir aber
eingestehen, dass die Culturanfänge unseres Geschlechtes noch viel
zu dunkel vor uns liegen, um nicht auch die Vermuthung gelten
zu lassen, dass ein gnädiger Zufall die Erzeugung leuchtender
Wärme durch Reibung offenbart habe. Wir denken dabei nicht
wie Adalbert Kuhn, dass ein dürrer Rankenschoss in einer Ast-
höhlung vom Sturme so lange gepeitscht worden wäre, bis er Feuer
gefangen habe. Wir zweifeln sogar an der physischen Möglichkeit,
dass nach Aussage der Wogulen im Ural ein umgeknickter Baum
gegen einen Nachbarstamm bis zur Entzündung gerieben werde
und Waldbrände verursachen könne. Da bei allen Völkern beider
Welten ursprünglich die nämliche Art der Feuerbereitung und das
nämliche Entzündungsgeräth angetroffen worden sind, so musste die
zufällige Entdeckung bei einem Bohrversuche erfolgt sein und
durchbohrten Werkzeugen — freilich nur aus Horn — begegnen
wir schon unter den Resten der Bewohner Europa’s zur Eiszeit.
Nur bliebe immerhin unerklärt, da die Ermüdung des Einzelnen
früher eintreten musste, als die Entzündung, während jeder Unter-
brechung aber die Wärme wieder entwich, wesshalb der Bohrver-
such ohne Pause fortgesetzt wurde. Das Reich der Möglichkeiten

Peschel, Völkerkunde. 10
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[145/0163] Die Urzustände des Menschengeschlechtes. des classischen oder biblischen Alterthums, bei diesen nicht grösser als es zur Eiszeit gewesen ist. Uebersehen darf bei einer solchen Erwägung nicht werden, dass in den Zeiten der mittelalterlichen Scholastiker eine Abnahme des menschlichen Fassungsvermögens eingestanden wurde, insofern damals die geistigen Grössen der Griechen und Römer selbst auf dem Gebiete der strengen Wissen- schaften als nicht mehr erreichbare Vorbilder galten. Gegenwärtig werden die Chinesen, deren geistige Entwickelung neuerdings nur sehr träge fortschreitet, von der Anschauung beherrscht, dass die geistigen Kräfte der Denker ihrer Vorzeit den heutigen Maasstab weit überschritten hatten. Die Vermuthung eines Wachsthumes oder einer Abnahme des menschlichen Fassungsvermögens wird daher schwanken mit dem Selbstgefühl oder dem Mangel an Selbstgefühl der einzelnen Zeiträume, und in der Gegenwart, wo durch die ausgebildete Gliederung der Gesellschaft jedes geistige Licht, methodisch ernährt, viel leichter dazu gelangt, Klarheit um sich zu verbreiten, werden wir uns zu der Annahme neigen, dass der menschliche Scharfsinn in der Mittagshöhe schwebe. Der goldenen Regel eingedenk, dass nur aus dem Bekannten auf das Unbekannte geschlossen werden dürfe, müssen wir aber eingestehen, dass die Culturanfänge unseres Geschlechtes noch viel zu dunkel vor uns liegen, um nicht auch die Vermuthung gelten zu lassen, dass ein gnädiger Zufall die Erzeugung leuchtender Wärme durch Reibung offenbart habe. Wir denken dabei nicht wie Adalbert Kuhn, dass ein dürrer Rankenschoss in einer Ast- höhlung vom Sturme so lange gepeitscht worden wäre, bis er Feuer gefangen habe. Wir zweifeln sogar an der physischen Möglichkeit, dass nach Aussage der Wogulen im Ural ein umgeknickter Baum gegen einen Nachbarstamm bis zur Entzündung gerieben werde und Waldbrände verursachen könne. Da bei allen Völkern beider Welten ursprünglich die nämliche Art der Feuerbereitung und das nämliche Entzündungsgeräth angetroffen worden sind, so musste die zufällige Entdeckung bei einem Bohrversuche erfolgt sein und durchbohrten Werkzeugen — freilich nur aus Horn — begegnen wir schon unter den Resten der Bewohner Europa’s zur Eiszeit. Nur bliebe immerhin unerklärt, da die Ermüdung des Einzelnen früher eintreten musste, als die Entzündung, während jeder Unter- brechung aber die Wärme wieder entwich, wesshalb der Bohrver- such ohne Pause fortgesetzt wurde. Das Reich der Möglichkeiten Peschel, Völkerkunde. 10

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/163>, abgerufen am 25.04.2024.