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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts bewährt, die wie Georg
Forster, erfüllt von Rousseau'schen Träumereien, die Südseebevöl-
kerungen als ein glückliches, dem Naturzustande treues, von Cultur-
verirrungen noch nicht um das Menschenideal betrogenes Ge-
schlecht beneideten. Lamanon, der Begleiter La Perouse's be-
hauptete eines Abends im Gespräche mit seinen Begleitern, dass
die Wilden viel besser seien, als wir Culturmenschen. Am andern
Tage wurde er von ihnen erschlagen 2). Die oft gerühmten Kör-
perreize zwanglos einherschreitender Naturkinder werden gewöhn-
lich auf den photographischen Nachbildungen vermisst, die jetzt so
reichlich in unsere Hände gelangen. Selbst dort, wo sie wirklich
vorhanden sind und den hässlichen Bedrohungen entgehen, die
ein irre geleiteter Geschmack ihnen auferlegt, fehlt sehr häufig die
beste Pflege des menschlichen Körpers, nämlich die Sauberkeit.
Das Haar bleibt ungeordnet und die Zähne ungereinigt. Gewisse
Laster suchen wir nur bei hochgestiegenen und tief gesunkenen
Völkern, bei den Hellenen und im späteren Rom. Wer aber ein wenig
vertraut ist mit den älteren spanischen Berichten über amerikanische
Stämme, der weiss recht gut, dass sie Verfeinerungen kannten, an die
weder die Römer, als Tiberius auf Capri weilte, noch die Byzan-
tiner gedacht haben, als Theodora, die spätere Gemahlin des
Kaisers Justinian, mit Schauspielerbanden umherzog 3). Fügen wir
noch hinzu, dass fast allen diesen Bevölkerungen die Gifte bekannt
waren, die den befruchteten Menschenkeim zerstören und dass sie
mit gedankenloser Leichtfertigkeit gebraucht wurden 4). Aus allen
diesen Nachtseiten unmündiger Völker haben rohe und lieblose
Ansiedler in überseeischen Gebieten sich das Recht angemasst,

1) Ethnographie. Bd. 1. S. 5. S. 375.
2) Schaaffhausen im Archiv für Anthropologie. Bd. 1. S. 166. Genau
ebenso schrieb Helfer einen Tag, bevor ihn die Andamanen ermordeten, in
sein Tagebuch: "Das also sind die so gefürchteten Wilden! Sie sind furcht-
same Kinder der Natur, froh, wenn ihnen nichts Böses zugefügt wird". Joh.
Wilh. Helfers
Reisen in Vorderasien und Indien. Leipzig 1873. Bd. 2. S. 260.
3) Vespucci, Quattuor Navigationes, passim. Geschlechtliche Verirrungen
der Aleuten bei Erman, Zeitschrift für Ethnologie. 1871. Heft 3. S. 164; der
Tschuktschen, bei Wrangell, Reise in Sibirien, Bd. 2, S. 227; der Itelmen,
bei Steller, Kamtschatka. S. 289.
4) Eine Musterung über die Völker, bei denen dieses Verbrechen ge-
duldet wird, ist unlängst im Archiv für Anthropologie (Braunschweig 1872.
Bd, 5. S. 452) abgehalten worden.

Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts bewährt, die wie Georg
Forster, erfüllt von Rousseau’schen Träumereien, die Südseebevöl-
kerungen als ein glückliches, dem Naturzustande treues, von Cultur-
verirrungen noch nicht um das Menschenideal betrogenes Ge-
schlecht beneideten. Lamanon, der Begleiter La Perouse’s be-
hauptete eines Abends im Gespräche mit seinen Begleitern, dass
die Wilden viel besser seien, als wir Culturmenschen. Am andern
Tage wurde er von ihnen erschlagen 2). Die oft gerühmten Kör-
perreize zwanglos einherschreitender Naturkinder werden gewöhn-
lich auf den photographischen Nachbildungen vermisst, die jetzt so
reichlich in unsere Hände gelangen. Selbst dort, wo sie wirklich
vorhanden sind und den hässlichen Bedrohungen entgehen, die
ein irre geleiteter Geschmack ihnen auferlegt, fehlt sehr häufig die
beste Pflege des menschlichen Körpers, nämlich die Sauberkeit.
Das Haar bleibt ungeordnet und die Zähne ungereinigt. Gewisse
Laster suchen wir nur bei hochgestiegenen und tief gesunkenen
Völkern, bei den Hellenen und im späteren Rom. Wer aber ein wenig
vertraut ist mit den älteren spanischen Berichten über amerikanische
Stämme, der weiss recht gut, dass sie Verfeinerungen kannten, an die
weder die Römer, als Tiberius auf Capri weilte, noch die Byzan-
tiner gedacht haben, als Theodora, die spätere Gemahlin des
Kaisers Justinian, mit Schauspielerbanden umherzog 3). Fügen wir
noch hinzu, dass fast allen diesen Bevölkerungen die Gifte bekannt
waren, die den befruchteten Menschenkeim zerstören und dass sie
mit gedankenloser Leichtfertigkeit gebraucht wurden 4). Aus allen
diesen Nachtseiten unmündiger Völker haben rohe und lieblose
Ansiedler in überseeischen Gebieten sich das Recht angemasst,

1) Ethnographie. Bd. 1. S. 5. S. 375.
2) Schaaffhausen im Archiv für Anthropologie. Bd. 1. S. 166. Genau
ebenso schrieb Helfer einen Tag, bevor ihn die Andamanen ermordeten, in
sein Tagebuch: „Das also sind die so gefürchteten Wilden! Sie sind furcht-
same Kinder der Natur, froh, wenn ihnen nichts Böses zugefügt wird“. Joh.
Wilh. Helfers
Reisen in Vorderasien und Indien. Leipzig 1873. Bd. 2. S. 260.
3) Vespucci, Quattuor Navigationes, passim. Geschlechtliche Verirrungen
der Aleuten bei Erman, Zeitschrift für Ethnologie. 1871. Heft 3. S. 164; der
Tschuktschen, bei Wrangell, Reise in Sibirien, Bd. 2, S. 227; der Itelmen,
bei Steller, Kamtschatka. S. 289.
4) Eine Musterung über die Völker, bei denen dieses Verbrechen ge-
duldet wird, ist unlängst im Archiv für Anthropologie (Braunschweig 1872.
Bd, 5. S. 452) abgehalten worden.
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[138/0156] Die Urzustände des Menschengeschlechtes. aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts bewährt, die wie Georg Forster, erfüllt von Rousseau’schen Träumereien, die Südseebevöl- kerungen als ein glückliches, dem Naturzustande treues, von Cultur- verirrungen noch nicht um das Menschenideal betrogenes Ge- schlecht beneideten. Lamanon, der Begleiter La Perouse’s be- hauptete eines Abends im Gespräche mit seinen Begleitern, dass die Wilden viel besser seien, als wir Culturmenschen. Am andern Tage wurde er von ihnen erschlagen 2). Die oft gerühmten Kör- perreize zwanglos einherschreitender Naturkinder werden gewöhn- lich auf den photographischen Nachbildungen vermisst, die jetzt so reichlich in unsere Hände gelangen. Selbst dort, wo sie wirklich vorhanden sind und den hässlichen Bedrohungen entgehen, die ein irre geleiteter Geschmack ihnen auferlegt, fehlt sehr häufig die beste Pflege des menschlichen Körpers, nämlich die Sauberkeit. Das Haar bleibt ungeordnet und die Zähne ungereinigt. Gewisse Laster suchen wir nur bei hochgestiegenen und tief gesunkenen Völkern, bei den Hellenen und im späteren Rom. Wer aber ein wenig vertraut ist mit den älteren spanischen Berichten über amerikanische Stämme, der weiss recht gut, dass sie Verfeinerungen kannten, an die weder die Römer, als Tiberius auf Capri weilte, noch die Byzan- tiner gedacht haben, als Theodora, die spätere Gemahlin des Kaisers Justinian, mit Schauspielerbanden umherzog 3). Fügen wir noch hinzu, dass fast allen diesen Bevölkerungen die Gifte bekannt waren, die den befruchteten Menschenkeim zerstören und dass sie mit gedankenloser Leichtfertigkeit gebraucht wurden 4). Aus allen diesen Nachtseiten unmündiger Völker haben rohe und lieblose Ansiedler in überseeischen Gebieten sich das Recht angemasst, 1) 2) Schaaffhausen im Archiv für Anthropologie. Bd. 1. S. 166. Genau ebenso schrieb Helfer einen Tag, bevor ihn die Andamanen ermordeten, in sein Tagebuch: „Das also sind die so gefürchteten Wilden! Sie sind furcht- same Kinder der Natur, froh, wenn ihnen nichts Böses zugefügt wird“. Joh. Wilh. Helfers Reisen in Vorderasien und Indien. Leipzig 1873. Bd. 2. S. 260. 3) Vespucci, Quattuor Navigationes, passim. Geschlechtliche Verirrungen der Aleuten bei Erman, Zeitschrift für Ethnologie. 1871. Heft 3. S. 164; der Tschuktschen, bei Wrangell, Reise in Sibirien, Bd. 2, S. 227; der Itelmen, bei Steller, Kamtschatka. S. 289. 4) Eine Musterung über die Völker, bei denen dieses Verbrechen ge- duldet wird, ist unlängst im Archiv für Anthropologie (Braunschweig 1872. Bd, 5. S. 452) abgehalten worden. 1) 1) Ethnographie. Bd. 1. S. 5. S. 375.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/156>, abgerufen am 19.03.2024.