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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der Bau der menschlichen Sprache.
Sinnbegrenzungen entbehrt. Ihr fehlen alle Beugungen, jede Unter-
scheidung von Hauptwort und Zeitwort, jede Wortbildung über-
haupt. Die Lautgruppe sin kann Ehrlichkeit, ehrlich, ehrlich sein,
ehrlich handeln, ja sogar trauen bedeuten. Was es in einem ge-
gebenen Falle bedeuten solle, entscheidet die Stellung im Satze
und der Sinn der ganzen Rede 1). Durch die Berührung von Wurzel
mit Wurzel wird der Sinn begrenzt und es entsteht auf diese Weise
ein ähnliches Verständniss bei den Hörenden wie bei der Wort-
bildung. Der Deutlichkeit wegen werden auch im Englischen bis-
weilen Synonymen wie way-path gehäuft oder Classificationszusätze
wie maple-tree angewendet 2). Auch im Deutschen sagen wir
Haifisch, Tannenbaum, Elenthier. Doch gewähren diese Beispiele
nur entfernte Analogien, denn Wortzusammenfügungen dürfen streng
genommen nie mit Wurzelgruppirungen verglichen werden. Die
lateinische Sprache schreibt keine Wortstellung im Satzbau vor,
oder sie überlässt die Stellung der Redetheile der künstlerischen
Absicht des Sprechers, das Chinesische dagegen folgt den strengsten
Vorschriften im Satzbau. Alle Wurzeln, die für eine nähere Be-
stimmung (Attribut) dienen sollen, sei es als Eigenschaftswort oder
Genitiv, müssen dem zu Bestimmenden, sei es nun ein Subject
oder ein Zeitwort, vorausgehen. Alle Ergänzungen (Objecte) aber
müssen hinter dem zu ergänzenden (Zeitwort) nachfolgen. Wie
fast zu errathen, lässt die Gruppirung zweier Wurzeln in unzähl-
baren Fällen einen Doppelsinn zu. Werden tschung treu und kyün
Fürst vereinigt, so könnte ein Europäer zweifeln, ob damit Fürsten-
treue oder Unterthanentreue gemeint sei. In allen solchen Fällen
hat aber längst der Redebrauch fest entschieden, in welchem Sinne
ausschliesslich eine solche Gruppirung statthaft ist und da der
Chinese überhaupt nur Unterthanenpflichten kennt, so bedeutet
jene Gruppe Loyalität. Die chinesischen Wurzelgruppen bestehen
oft aus mehreren Gliedern. Für nicht übereinstimmen sagt der
Chinese: ich Ost, du West ni tung wo si und für plaudern: du
fragen, ich antworten ni wen wo ta. Gewicht heisst leicht schwer

1) Steinthal, Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprach-
baues. Berlin 1860. S. 117. Ueberhaupt ist der obige Abschnitt, wo nicht
andere Nachweise beigebracht werden, diesem nicht hoch genug zu schätzen-
den Buche entlehnt worden.
2) Whitney, Study of Language. p. 335.

Der Bau der menschlichen Sprache.
Sinnbegrenzungen entbehrt. Ihr fehlen alle Beugungen, jede Unter-
scheidung von Hauptwort und Zeitwort, jede Wortbildung über-
haupt. Die Lautgruppe sin kann Ehrlichkeit, ehrlich, ehrlich sein,
ehrlich handeln, ja sogar trauen bedeuten. Was es in einem ge-
gebenen Falle bedeuten solle, entscheidet die Stellung im Satze
und der Sinn der ganzen Rede 1). Durch die Berührung von Wurzel
mit Wurzel wird der Sinn begrenzt und es entsteht auf diese Weise
ein ähnliches Verständniss bei den Hörenden wie bei der Wort-
bildung. Der Deutlichkeit wegen werden auch im Englischen bis-
weilen Synonymen wie way-path gehäuft oder Classificationszusätze
wie maple-tree angewendet 2). Auch im Deutschen sagen wir
Haifisch, Tannenbaum, Elenthier. Doch gewähren diese Beispiele
nur entfernte Analogien, denn Wortzusammenfügungen dürfen streng
genommen nie mit Wurzelgruppirungen verglichen werden. Die
lateinische Sprache schreibt keine Wortstellung im Satzbau vor,
oder sie überlässt die Stellung der Redetheile der künstlerischen
Absicht des Sprechers, das Chinesische dagegen folgt den strengsten
Vorschriften im Satzbau. Alle Wurzeln, die für eine nähere Be-
stimmung (Attribut) dienen sollen, sei es als Eigenschaftswort oder
Genitiv, müssen dem zu Bestimmenden, sei es nun ein Subject
oder ein Zeitwort, vorausgehen. Alle Ergänzungen (Objecte) aber
müssen hinter dem zu ergänzenden (Zeitwort) nachfolgen. Wie
fast zu errathen, lässt die Gruppirung zweier Wurzeln in unzähl-
baren Fällen einen Doppelsinn zu. Werden tschung treu und kyün
Fürst vereinigt, so könnte ein Europäer zweifeln, ob damit Fürsten-
treue oder Unterthanentreue gemeint sei. In allen solchen Fällen
hat aber längst der Redebrauch fest entschieden, in welchem Sinne
ausschliesslich eine solche Gruppirung statthaft ist und da der
Chinese überhaupt nur Unterthanenpflichten kennt, so bedeutet
jene Gruppe Loyalität. Die chinesischen Wurzelgruppen bestehen
oft aus mehreren Gliedern. Für nicht übereinstimmen sagt der
Chinese: ich Ost, du West ni tung wo si und für plaudern: du
fragen, ich antworten ni wen wo ta. Gewicht heisst leicht schwer

1) Steinthal, Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprach-
baues. Berlin 1860. S. 117. Ueberhaupt ist der obige Abschnitt, wo nicht
andere Nachweise beigebracht werden, diesem nicht hoch genug zu schätzen-
den Buche entlehnt worden.
2) Whitney, Study of Language. p. 335.
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[119/0137] Der Bau der menschlichen Sprache. Sinnbegrenzungen entbehrt. Ihr fehlen alle Beugungen, jede Unter- scheidung von Hauptwort und Zeitwort, jede Wortbildung über- haupt. Die Lautgruppe sin kann Ehrlichkeit, ehrlich, ehrlich sein, ehrlich handeln, ja sogar trauen bedeuten. Was es in einem ge- gebenen Falle bedeuten solle, entscheidet die Stellung im Satze und der Sinn der ganzen Rede 1). Durch die Berührung von Wurzel mit Wurzel wird der Sinn begrenzt und es entsteht auf diese Weise ein ähnliches Verständniss bei den Hörenden wie bei der Wort- bildung. Der Deutlichkeit wegen werden auch im Englischen bis- weilen Synonymen wie way-path gehäuft oder Classificationszusätze wie maple-tree angewendet 2). Auch im Deutschen sagen wir Haifisch, Tannenbaum, Elenthier. Doch gewähren diese Beispiele nur entfernte Analogien, denn Wortzusammenfügungen dürfen streng genommen nie mit Wurzelgruppirungen verglichen werden. Die lateinische Sprache schreibt keine Wortstellung im Satzbau vor, oder sie überlässt die Stellung der Redetheile der künstlerischen Absicht des Sprechers, das Chinesische dagegen folgt den strengsten Vorschriften im Satzbau. Alle Wurzeln, die für eine nähere Be- stimmung (Attribut) dienen sollen, sei es als Eigenschaftswort oder Genitiv, müssen dem zu Bestimmenden, sei es nun ein Subject oder ein Zeitwort, vorausgehen. Alle Ergänzungen (Objecte) aber müssen hinter dem zu ergänzenden (Zeitwort) nachfolgen. Wie fast zu errathen, lässt die Gruppirung zweier Wurzeln in unzähl- baren Fällen einen Doppelsinn zu. Werden tschung treu und kyün Fürst vereinigt, so könnte ein Europäer zweifeln, ob damit Fürsten- treue oder Unterthanentreue gemeint sei. In allen solchen Fällen hat aber längst der Redebrauch fest entschieden, in welchem Sinne ausschliesslich eine solche Gruppirung statthaft ist und da der Chinese überhaupt nur Unterthanenpflichten kennt, so bedeutet jene Gruppe Loyalität. Die chinesischen Wurzelgruppen bestehen oft aus mehreren Gliedern. Für nicht übereinstimmen sagt der Chinese: ich Ost, du West ni tung wo si und für plaudern: du fragen, ich antworten ni wen wo ta. Gewicht heisst leicht schwer 1) Steinthal, Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprach- baues. Berlin 1860. S. 117. Ueberhaupt ist der obige Abschnitt, wo nicht andere Nachweise beigebracht werden, diesem nicht hoch genug zu schätzen- den Buche entlehnt worden. 2) Whitney, Study of Language. p. 335.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/137>, abgerufen am 29.03.2024.