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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
Basutonegern ein glücklicher Volksredner durch Zischen belohnt,
also von den Zuhörern nicht ausgezischt, sondern bezischt1). Viele
Gebärden haben vielmehr nur durch gegenseitige Verständigung
ihren Sinn erhalten. Unter anderm bejahen die Türken durch
Kopfschütteln und verneinen durch Nicken. Im alten Griechen-
land wurde ein Bittender durch Zurückwerfen des Hauptes (ana-
neuein)
abgewiesen und in Süditalien winkt man heran, wenn die
Hand mit dem Rücken an die Brust gelegt wird und die Finger
nach dem Herbeizuziehenden spielen2). Dennoch schlummert in
jedem Menschen die Gabe, sich durch Zeichen zu verständigen.
Alle Seefahrer, die ein fremdes Gestade betraten, eröffneten mit
den Eingebornen einen Verkehr durch diese Mittel und es gelang
ihnen dann immer, Wasser oder Nahrung zu erhalten. Ueberall
auf Erden ist der Mensch auf dieselbe Gebärdenmalerei zum Aus-
druck seines Gedankens gefallen. Die Taubstummen sind die
Erfinder ihrer eignen Zeichensprache gewesen, woraus wir den
schönen Satz gewinnen, dass der Mensch auch ohne Sprechwerk-
zeuge zu einem Verständigungsmittel gelangt wäre. Die Mehrzahl
ihrer Sprachzeichen, vor allen die Luftzeichnungen, bedürfen zum
Verständniss keiner weiteren Erklärung, so dass man sagen durfte,
die Taubstummen bedienten sich derselben Gebärden, die im
stummen Verkehr der Indianer von der Hudsonsbai bis zum mexi-
kanischen Golfe üblich waren. Auch konnte sich schon ein taub-
stummer Engländer durch seine tagesgewohnten Zeichen mit den
Lappländern in einer Schaubude verständigen. Endlich soll sich
die unglückliche Laura Bridgman, eine blinde Taubstumme, bei
welcher jede äussere Anleitung hinwegfiel, was freilich gerechten
Zweifeln unterliegt, derselben pantomimischen Bewegungen bedient
haben, wie sie bei anderen Menschen gesehen werden3).

So gab es denn in der Zeit der ersten Sprachentwickelung
eine Anzahl von Hilfsmitteln zur Mittheilung des Gedankens, zu-
gleich aber, da der Mensch von allen Geschöpfen am stärksten
zur Geselligkeit sich neigt, trieb ihn das Bedürfniss, sich irgendwie
mit seinem Nächsten zu verständigen. Trotzdem ist es noch

1) Casalis, Les Bassoutos. Paris 1859. p. 247.
2) Kleinpaul, zur Theorie der Gebärdensprache. Zeitschr. f. Völker-
psychologie. Berlin 1869. Bd. 6. S. 362.
3) Tylor, Urgeschichte der Menschheit. S. 21. S. 44. S. 69. S. 86.

Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
Basutonegern ein glücklicher Volksredner durch Zischen belohnt,
also von den Zuhörern nicht ausgezischt, sondern bezischt1). Viele
Gebärden haben vielmehr nur durch gegenseitige Verständigung
ihren Sinn erhalten. Unter anderm bejahen die Türken durch
Kopfschütteln und verneinen durch Nicken. Im alten Griechen-
land wurde ein Bittender durch Zurückwerfen des Hauptes (ἀνα-
νεύειν)
abgewiesen und in Süditalien winkt man heran, wenn die
Hand mit dem Rücken an die Brust gelegt wird und die Finger
nach dem Herbeizuziehenden spielen2). Dennoch schlummert in
jedem Menschen die Gabe, sich durch Zeichen zu verständigen.
Alle Seefahrer, die ein fremdes Gestade betraten, eröffneten mit
den Eingebornen einen Verkehr durch diese Mittel und es gelang
ihnen dann immer, Wasser oder Nahrung zu erhalten. Ueberall
auf Erden ist der Mensch auf dieselbe Gebärdenmalerei zum Aus-
druck seines Gedankens gefallen. Die Taubstummen sind die
Erfinder ihrer eignen Zeichensprache gewesen, woraus wir den
schönen Satz gewinnen, dass der Mensch auch ohne Sprechwerk-
zeuge zu einem Verständigungsmittel gelangt wäre. Die Mehrzahl
ihrer Sprachzeichen, vor allen die Luftzeichnungen, bedürfen zum
Verständniss keiner weiteren Erklärung, so dass man sagen durfte,
die Taubstummen bedienten sich derselben Gebärden, die im
stummen Verkehr der Indianer von der Hudsonsbai bis zum mexi-
kanischen Golfe üblich waren. Auch konnte sich schon ein taub-
stummer Engländer durch seine tagesgewohnten Zeichen mit den
Lappländern in einer Schaubude verständigen. Endlich soll sich
die unglückliche Laura Bridgman, eine blinde Taubstumme, bei
welcher jede äussere Anleitung hinwegfiel, was freilich gerechten
Zweifeln unterliegt, derselben pantomimischen Bewegungen bedient
haben, wie sie bei anderen Menschen gesehen werden3).

So gab es denn in der Zeit der ersten Sprachentwickelung
eine Anzahl von Hilfsmitteln zur Mittheilung des Gedankens, zu-
gleich aber, da der Mensch von allen Geschöpfen am stärksten
zur Geselligkeit sich neigt, trieb ihn das Bedürfniss, sich irgendwie
mit seinem Nächsten zu verständigen. Trotzdem ist es noch

1) Casalis, Les Bassoutos. Paris 1859. p. 247.
2) Kleinpaul, zur Theorie der Gebärdensprache. Zeitschr. f. Völker-
psychologie. Berlin 1869. Bd. 6. S. 362.
3) Tylor, Urgeschichte der Menschheit. S. 21. S. 44. S. 69. S. 86.
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[112/0130] Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. Basutonegern ein glücklicher Volksredner durch Zischen belohnt, also von den Zuhörern nicht ausgezischt, sondern bezischt 1). Viele Gebärden haben vielmehr nur durch gegenseitige Verständigung ihren Sinn erhalten. Unter anderm bejahen die Türken durch Kopfschütteln und verneinen durch Nicken. Im alten Griechen- land wurde ein Bittender durch Zurückwerfen des Hauptes (ἀνα- νεύειν) abgewiesen und in Süditalien winkt man heran, wenn die Hand mit dem Rücken an die Brust gelegt wird und die Finger nach dem Herbeizuziehenden spielen 2). Dennoch schlummert in jedem Menschen die Gabe, sich durch Zeichen zu verständigen. Alle Seefahrer, die ein fremdes Gestade betraten, eröffneten mit den Eingebornen einen Verkehr durch diese Mittel und es gelang ihnen dann immer, Wasser oder Nahrung zu erhalten. Ueberall auf Erden ist der Mensch auf dieselbe Gebärdenmalerei zum Aus- druck seines Gedankens gefallen. Die Taubstummen sind die Erfinder ihrer eignen Zeichensprache gewesen, woraus wir den schönen Satz gewinnen, dass der Mensch auch ohne Sprechwerk- zeuge zu einem Verständigungsmittel gelangt wäre. Die Mehrzahl ihrer Sprachzeichen, vor allen die Luftzeichnungen, bedürfen zum Verständniss keiner weiteren Erklärung, so dass man sagen durfte, die Taubstummen bedienten sich derselben Gebärden, die im stummen Verkehr der Indianer von der Hudsonsbai bis zum mexi- kanischen Golfe üblich waren. Auch konnte sich schon ein taub- stummer Engländer durch seine tagesgewohnten Zeichen mit den Lappländern in einer Schaubude verständigen. Endlich soll sich die unglückliche Laura Bridgman, eine blinde Taubstumme, bei welcher jede äussere Anleitung hinwegfiel, was freilich gerechten Zweifeln unterliegt, derselben pantomimischen Bewegungen bedient haben, wie sie bei anderen Menschen gesehen werden 3). So gab es denn in der Zeit der ersten Sprachentwickelung eine Anzahl von Hilfsmitteln zur Mittheilung des Gedankens, zu- gleich aber, da der Mensch von allen Geschöpfen am stärksten zur Geselligkeit sich neigt, trieb ihn das Bedürfniss, sich irgendwie mit seinem Nächsten zu verständigen. Trotzdem ist es noch 1) Casalis, Les Bassoutos. Paris 1859. p. 247. 2) Kleinpaul, zur Theorie der Gebärdensprache. Zeitschr. f. Völker- psychologie. Berlin 1869. Bd. 6. S. 362. 3) Tylor, Urgeschichte der Menschheit. S. 21. S. 44. S. 69. S. 86.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/130>, abgerufen am 24.04.2024.