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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
werkzeugen nachzuahmen und Thiere fast ausschliesslich mit den
Thierlauten zu bezeichnen pflegen. Der Kreis der Wahrnehmun-
gen, die sich durch Tonmalerei ausdrücken lassen, ist aber be-
schränkt auf diejenigen Vorgänge, welche mit Schallerregungen
verknüpft sind, denn es gibt ja keine Tonmalerei für das, was
wir durch das Gesicht oder den Tastsinn wahrnehmen.

Erleichtert dachte man sich die ersten Anfänge der Sprach-
bildung durch die unwillkürlichen Thätigkeiten unsrer Stimmwerk-
zeuge bei starker innerer Erregung. Der Schrei der Freude und
des Entsetzens ist noch jetzt Eigenthum selbst der gebildeten
Völker. Wir bringen den Schrei bei der Geburt mit auf die
Welt, denn das erste Lebenszeichen eines Kindes besteht in einer
Thätigkeit seiner Stimmwerkzeuge. Der Schrei ist uns allen ver-
ständlich, obgleich nie Unterricht oder Uebung stattfindet, ja das
Schreien genügt in den ersten Monaten des Lebens vollständig
zur Ankündigung der verschiedenen Bedürfnisse. Ohne dass eine
Absicht des Sprechens vorhanden ist, wird doch das Schreien ver-
standen und Kinder bedienen sich noch eine Zeit lang, ja noch
lange Zeit, sehr bald mit Bewusstsein und Absichtlichkeit des
Schreiens zur Verständigung. Ebenso mag das Schreien der Er-
wachsenen in den ersten Anfängen der Sprachbildung noch lange
Zeit das Sprechen vertreten haben und Schreilaute haben sich als
Ausrufungen noch bis in die Gegenwart erhalten. Nur muss auch
hier wieder gewarnt werden, dass wir unser Ach! und Weh! nicht
ableiten dürfen aus der Zeit der ersten Sprachursprünge, denn es
ist unzählige Male schon gelungen, solche Rufe, die scheinbar
unwillkürlich sich dem gepressten Herzen entringen, als abge-
kürzte Worte, ja Redensarten zu entlarven. Das englische zounds
entsprang aus by God's wounds! und alas aus Oh me lasso!1)
Der westafrikanische Neger ruft vor Furcht oder Staunen mama
mama
, der Indianer Neucaliforniens ana! Beides bedeutet Mutter
und wie unerwachsene Kinder rufen sie also die Schützerin ihrer
Jugend zu Hilfe2). Bedeutsam ist nur, dass solche Lautausbrüche
noch in keiner gebildeten Sprache völlig entbehrt werden können.
Die Sprache der Thiere ist aus Nichts zusammengesetzt als aus

1) Whitney, Language and the study of language. London 1867, p. 277.
2) Tylor, Anfänge der Cultur. I, 176--77.

Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
werkzeugen nachzuahmen und Thiere fast ausschliesslich mit den
Thierlauten zu bezeichnen pflegen. Der Kreis der Wahrnehmun-
gen, die sich durch Tonmalerei ausdrücken lassen, ist aber be-
schränkt auf diejenigen Vorgänge, welche mit Schallerregungen
verknüpft sind, denn es gibt ja keine Tonmalerei für das, was
wir durch das Gesicht oder den Tastsinn wahrnehmen.

Erleichtert dachte man sich die ersten Anfänge der Sprach-
bildung durch die unwillkürlichen Thätigkeiten unsrer Stimmwerk-
zeuge bei starker innerer Erregung. Der Schrei der Freude und
des Entsetzens ist noch jetzt Eigenthum selbst der gebildeten
Völker. Wir bringen den Schrei bei der Geburt mit auf die
Welt, denn das erste Lebenszeichen eines Kindes besteht in einer
Thätigkeit seiner Stimmwerkzeuge. Der Schrei ist uns allen ver-
ständlich, obgleich nie Unterricht oder Uebung stattfindet, ja das
Schreien genügt in den ersten Monaten des Lebens vollständig
zur Ankündigung der verschiedenen Bedürfnisse. Ohne dass eine
Absicht des Sprechens vorhanden ist, wird doch das Schreien ver-
standen und Kinder bedienen sich noch eine Zeit lang, ja noch
lange Zeit, sehr bald mit Bewusstsein und Absichtlichkeit des
Schreiens zur Verständigung. Ebenso mag das Schreien der Er-
wachsenen in den ersten Anfängen der Sprachbildung noch lange
Zeit das Sprechen vertreten haben und Schreilaute haben sich als
Ausrufungen noch bis in die Gegenwart erhalten. Nur muss auch
hier wieder gewarnt werden, dass wir unser Ach! und Weh! nicht
ableiten dürfen aus der Zeit der ersten Sprachursprünge, denn es
ist unzählige Male schon gelungen, solche Rufe, die scheinbar
unwillkürlich sich dem gepressten Herzen entringen, als abge-
kürzte Worte, ja Redensarten zu entlarven. Das englische zounds
entsprang aus by God’s wounds! und alas aus Oh me lasso!1)
Der westafrikanische Neger ruft vor Furcht oder Staunen mámá
mámá
, der Indianer Neucaliforniens aná! Beides bedeutet Mutter
und wie unerwachsene Kinder rufen sie also die Schützerin ihrer
Jugend zu Hilfe2). Bedeutsam ist nur, dass solche Lautausbrüche
noch in keiner gebildeten Sprache völlig entbehrt werden können.
Die Sprache der Thiere ist aus Nichts zusammengesetzt als aus

1) Whitney, Language and the study of language. London 1867, p. 277.
2) Tylor, Anfänge der Cultur. I, 176—77.
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[110/0128] Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. werkzeugen nachzuahmen und Thiere fast ausschliesslich mit den Thierlauten zu bezeichnen pflegen. Der Kreis der Wahrnehmun- gen, die sich durch Tonmalerei ausdrücken lassen, ist aber be- schränkt auf diejenigen Vorgänge, welche mit Schallerregungen verknüpft sind, denn es gibt ja keine Tonmalerei für das, was wir durch das Gesicht oder den Tastsinn wahrnehmen. Erleichtert dachte man sich die ersten Anfänge der Sprach- bildung durch die unwillkürlichen Thätigkeiten unsrer Stimmwerk- zeuge bei starker innerer Erregung. Der Schrei der Freude und des Entsetzens ist noch jetzt Eigenthum selbst der gebildeten Völker. Wir bringen den Schrei bei der Geburt mit auf die Welt, denn das erste Lebenszeichen eines Kindes besteht in einer Thätigkeit seiner Stimmwerkzeuge. Der Schrei ist uns allen ver- ständlich, obgleich nie Unterricht oder Uebung stattfindet, ja das Schreien genügt in den ersten Monaten des Lebens vollständig zur Ankündigung der verschiedenen Bedürfnisse. Ohne dass eine Absicht des Sprechens vorhanden ist, wird doch das Schreien ver- standen und Kinder bedienen sich noch eine Zeit lang, ja noch lange Zeit, sehr bald mit Bewusstsein und Absichtlichkeit des Schreiens zur Verständigung. Ebenso mag das Schreien der Er- wachsenen in den ersten Anfängen der Sprachbildung noch lange Zeit das Sprechen vertreten haben und Schreilaute haben sich als Ausrufungen noch bis in die Gegenwart erhalten. Nur muss auch hier wieder gewarnt werden, dass wir unser Ach! und Weh! nicht ableiten dürfen aus der Zeit der ersten Sprachursprünge, denn es ist unzählige Male schon gelungen, solche Rufe, die scheinbar unwillkürlich sich dem gepressten Herzen entringen, als abge- kürzte Worte, ja Redensarten zu entlarven. Das englische zounds entsprang aus by God’s wounds! und alas aus Oh me lasso! 1) Der westafrikanische Neger ruft vor Furcht oder Staunen mámá mámá, der Indianer Neucaliforniens aná! Beides bedeutet Mutter und wie unerwachsene Kinder rufen sie also die Schützerin ihrer Jugend zu Hilfe 2). Bedeutsam ist nur, dass solche Lautausbrüche noch in keiner gebildeten Sprache völlig entbehrt werden können. Die Sprache der Thiere ist aus Nichts zusammengesetzt als aus 1) Whitney, Language and the study of language. London 1867, p. 277. 2) Tylor, Anfänge der Cultur. I, 176—77.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/128>, abgerufen am 29.03.2024.