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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
Eigensinn jeder an seiner Sonderaussprache festhält. Der Reisende
Martius klagte daher, dass unter seinen Begleitern, obgleich sie
der nämlichen Horde angehörten, ein jeder kleine dialektische Ver-
schiedenheiten in Betonung und Lautumwandlung festhielt. Seine
Genossen verstanden ihn, wie er seine Genossen verstand1). Bei
einem solchen Hange verändern sich natürlich die Lautgruppen in
der kürzesten Zeit.

Wenig Mühe kostet es unserm Nachdenken, sich das all-
mähliche Wachsthum der Sprachen auszumalen, sobald nur der
erste grosse Sprung ausgeführt war, dass durch irgend einen be-
stimmten Schallausdruck die Mittheilung eines Gedankens oder nur
eines Bedürfnisses von dem Sprechenden beabsichtigt und von
einem Mitgeschöpfe erkannt worden war. Dieser erste Sprung
bleibt aber noch immer von tiefem Dunkel umhüllt, denn die An-
knüpfung irgend eines Gedankens mit einem Laute der mensch-
lichen Stimme beruht auf einem Vertrage des Sprechers und des
Hörers, und wie liess sich der erste Vertrag oder die erste Ver-
ständigung über das erste Wort schliessen, wenn es eben noch
keine Verständigungsmittel gab? Nach der ältesten Vermuthung
hätte sich der Vorgang auf dem Wege der Tonmalerei vollzogen
und durch die Wahl der nachahmenden Laute sei die Aufmerk-
samkeit des Zuhörers auf irgend einen Gegenstand von Sinnes-
wahrnehmungen gelenkt worden. Da nun alle Sprachen reich sind
an Lautbildungen, die uns, was sie ausdrücken sollen, gleichsam
musikalisch schildern, so dachte man sich den ersten Anfang als
einen onomatopoetischen Versuch. Es wurde indessen in Folge
der raschen Lautveränderungen den Gegnern dieser Ansicht sehr
leicht, sie dadurch zu widerlegen, dass den älteren Formen der
gegenwärtigen Nachahmungsworte jede Absicht einer Tonschilde-
rung mangelt. Wie leicht lassen wir uns täuschen, dass unser
Wort rollen, besonders wenn wir dabei an den rollenden Donner
denken, aus dem Versuche einer Geräuschschilderung ent-
sprungen sei? Dennoch fiel es L. Geiger2) nicht schwer, dieses
Zeitwort von dem französischen rouler, dieses vom lateinischen
rotulare und das letztere endlich von rota (Rad) abzuleiten, bei
dem die Schallnachahmung völlig erlischt. Allein jener geist-
reiche Sprachzergliederer übersah gerade hier einen wichtigen Um-

1) Ausland 1869. S. 891. Nach einer mündlichen Mittheilung des Reisenden.
2) Ursprung der Sprache. S. 27.

Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
Eigensinn jeder an seiner Sonderaussprache festhält. Der Reisende
Martius klagte daher, dass unter seinen Begleitern, obgleich sie
der nämlichen Horde angehörten, ein jeder kleine dialektische Ver-
schiedenheiten in Betonung und Lautumwandlung festhielt. Seine
Genossen verstanden ihn, wie er seine Genossen verstand1). Bei
einem solchen Hange verändern sich natürlich die Lautgruppen in
der kürzesten Zeit.

Wenig Mühe kostet es unserm Nachdenken, sich das all-
mähliche Wachsthum der Sprachen auszumalen, sobald nur der
erste grosse Sprung ausgeführt war, dass durch irgend einen be-
stimmten Schallausdruck die Mittheilung eines Gedankens oder nur
eines Bedürfnisses von dem Sprechenden beabsichtigt und von
einem Mitgeschöpfe erkannt worden war. Dieser erste Sprung
bleibt aber noch immer von tiefem Dunkel umhüllt, denn die An-
knüpfung irgend eines Gedankens mit einem Laute der mensch-
lichen Stimme beruht auf einem Vertrage des Sprechers und des
Hörers, und wie liess sich der erste Vertrag oder die erste Ver-
ständigung über das erste Wort schliessen, wenn es eben noch
keine Verständigungsmittel gab? Nach der ältesten Vermuthung
hätte sich der Vorgang auf dem Wege der Tonmalerei vollzogen
und durch die Wahl der nachahmenden Laute sei die Aufmerk-
samkeit des Zuhörers auf irgend einen Gegenstand von Sinnes-
wahrnehmungen gelenkt worden. Da nun alle Sprachen reich sind
an Lautbildungen, die uns, was sie ausdrücken sollen, gleichsam
musikalisch schildern, so dachte man sich den ersten Anfang als
einen onomatopoetischen Versuch. Es wurde indessen in Folge
der raschen Lautveränderungen den Gegnern dieser Ansicht sehr
leicht, sie dadurch zu widerlegen, dass den älteren Formen der
gegenwärtigen Nachahmungsworte jede Absicht einer Tonschilde-
rung mangelt. Wie leicht lassen wir uns täuschen, dass unser
Wort rollen, besonders wenn wir dabei an den rollenden Donner
denken, aus dem Versuche einer Geräuschschilderung ent-
sprungen sei? Dennoch fiel es L. Geiger2) nicht schwer, dieses
Zeitwort von dem französischen rouler, dieses vom lateinischen
rotulare und das letztere endlich von rota (Rad) abzuleiten, bei
dem die Schallnachahmung völlig erlischt. Allein jener geist-
reiche Sprachzergliederer übersah gerade hier einen wichtigen Um-

1) Ausland 1869. S. 891. Nach einer mündlichen Mittheilung des Reisenden.
2) Ursprung der Sprache. S. 27.
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[108/0126] Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. Eigensinn jeder an seiner Sonderaussprache festhält. Der Reisende Martius klagte daher, dass unter seinen Begleitern, obgleich sie der nämlichen Horde angehörten, ein jeder kleine dialektische Ver- schiedenheiten in Betonung und Lautumwandlung festhielt. Seine Genossen verstanden ihn, wie er seine Genossen verstand 1). Bei einem solchen Hange verändern sich natürlich die Lautgruppen in der kürzesten Zeit. Wenig Mühe kostet es unserm Nachdenken, sich das all- mähliche Wachsthum der Sprachen auszumalen, sobald nur der erste grosse Sprung ausgeführt war, dass durch irgend einen be- stimmten Schallausdruck die Mittheilung eines Gedankens oder nur eines Bedürfnisses von dem Sprechenden beabsichtigt und von einem Mitgeschöpfe erkannt worden war. Dieser erste Sprung bleibt aber noch immer von tiefem Dunkel umhüllt, denn die An- knüpfung irgend eines Gedankens mit einem Laute der mensch- lichen Stimme beruht auf einem Vertrage des Sprechers und des Hörers, und wie liess sich der erste Vertrag oder die erste Ver- ständigung über das erste Wort schliessen, wenn es eben noch keine Verständigungsmittel gab? Nach der ältesten Vermuthung hätte sich der Vorgang auf dem Wege der Tonmalerei vollzogen und durch die Wahl der nachahmenden Laute sei die Aufmerk- samkeit des Zuhörers auf irgend einen Gegenstand von Sinnes- wahrnehmungen gelenkt worden. Da nun alle Sprachen reich sind an Lautbildungen, die uns, was sie ausdrücken sollen, gleichsam musikalisch schildern, so dachte man sich den ersten Anfang als einen onomatopoetischen Versuch. Es wurde indessen in Folge der raschen Lautveränderungen den Gegnern dieser Ansicht sehr leicht, sie dadurch zu widerlegen, dass den älteren Formen der gegenwärtigen Nachahmungsworte jede Absicht einer Tonschilde- rung mangelt. Wie leicht lassen wir uns täuschen, dass unser Wort rollen, besonders wenn wir dabei an den rollenden Donner denken, aus dem Versuche einer Geräuschschilderung ent- sprungen sei? Dennoch fiel es L. Geiger 2) nicht schwer, dieses Zeitwort von dem französischen rouler, dieses vom lateinischen rotulare und das letztere endlich von rota (Rad) abzuleiten, bei dem die Schallnachahmung völlig erlischt. Allein jener geist- reiche Sprachzergliederer übersah gerade hier einen wichtigen Um- 1) Ausland 1869. S. 891. Nach einer mündlichen Mittheilung des Reisenden. 2) Ursprung der Sprache. S. 27.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/126>, abgerufen am 25.04.2024.