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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
halbentwickelten Völker aus Worten des täglichen Gebrauchs zu-
sammengesetzt werden, so müssen für diese letzteren neue Aus-
drücke ersonnen werden. Als König Pomare auf Tahiti gestorben
war, verschwand des Wort po (Nacht) aus der Sprache. Den
nämlichen Gebrauch huldigen oder huldigten die Papuanen Neu-
Guinea's, die Australier, die Tasmanier, die ostafrikanischen Masai,
die Samojeden und die Feuerländer. Doch darf man die Trag-
weite dieser Gewohnheit bei Umwandlung der Sprache nicht über-
schätzen, denn wenn ein neues Geschlecht, welches den Verstor-
benen nicht mehr kannte oder nicht mehr fürchtete, heranwuchs1),
kehrte es wohl zu dem alten Worte zurück, oder wo das Verbot
sich nur über eine Horde erstreckte und das verpönte Wort in einer
andern Horde fortlebte, konnte es ebenfalls durch Zwischenheirathen
wieder eingeschleppt werden. Auch darf man nicht denken, dass
neue Lautgruppen ersonnen wurden, sondern man fügte aus den
Bestandtheilen des Sprachschatzes nur neue Worte zusammen. Bei
den Abiponen am westlichen Ufer des Paraguaystromes Südamerika's
war den alten Frauen das Geschäft anvertraut, die neuen Benen-
nungen festzustellen. Der Name des Tigers (Jaguars) wurde wegen
eingetretner Todesfälle drei Mal in sieben Jahren von ihnen abgeän-
dert, zuletzt in lapriretrae oder der "Fleckige", "Buntscheckige"2).

Weit bedenklicheren Umwandiungen ist die Sprache solcher
Menschenstämme ausgesetzt, die in Banden von wenigen Köpfen
oder auch wohl nur in Familien dünn bewohnte Jagdreviere durch-
streifen. Jeder Angehörige einer grossen Gesellschaft wird durch
das tägliche Bedürfniss streng zu einer deutlichen Aussprache ge-
nöthigt, damit er von Allen verstanden werde. Schlecht erzogene
Kinder ersinnen oft Lautgruppen, die eine Zeitlang innerhalb des
Hauses geduldet werden und die sich für immer festsetzen würden,
wenn der öffentliche Verkehr sie nicht wie unbekannte Münzen
zurückweisen würde. Die Kinderunart wird aber zur Mannesge-
wohnheit bei brasilianischen Jägern, deren einzelne Stämme nicht
blos durch rasche Entwicklung von Mundarten ihren ehemaligen
Sprachverwandten unverständlich werden, sondern bei denen aus

1) Pallas (Voyages dans l'empire de Russie. Paris 1793. tom IV. p. 101)
sagt ausdrücklich, dass die Samojeden den Namen eines Verstorbenen an-
fangs aufs strengste vermeiden, aber ihn dann einem Enkel oder Grossenkel
geben, damit das Andenken des Abgeschiedenen wieder aufgefrischt werde.
2) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 235. S. 361.

Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
halbentwickelten Völker aus Worten des täglichen Gebrauchs zu-
sammengesetzt werden, so müssen für diese letzteren neue Aus-
drücke ersonnen werden. Als König Pomare auf Tahiti gestorben
war, verschwand des Wort po (Nacht) aus der Sprache. Den
nämlichen Gebrauch huldigen oder huldigten die Papuanen Neu-
Guinea’s, die Australier, die Tasmanier, die ostafrikanischen Masai,
die Samojeden und die Feuerländer. Doch darf man die Trag-
weite dieser Gewohnheit bei Umwandlung der Sprache nicht über-
schätzen, denn wenn ein neues Geschlecht, welches den Verstor-
benen nicht mehr kannte oder nicht mehr fürchtete, heranwuchs1),
kehrte es wohl zu dem alten Worte zurück, oder wo das Verbot
sich nur über eine Horde erstreckte und das verpönte Wort in einer
andern Horde fortlebte, konnte es ebenfalls durch Zwischenheirathen
wieder eingeschleppt werden. Auch darf man nicht denken, dass
neue Lautgruppen ersonnen wurden, sondern man fügte aus den
Bestandtheilen des Sprachschatzes nur neue Worte zusammen. Bei
den Abiponen am westlichen Ufer des Paraguaystromes Südamerika’s
war den alten Frauen das Geschäft anvertraut, die neuen Benen-
nungen festzustellen. Der Name des Tigers (Jaguars) wurde wegen
eingetretner Todesfälle drei Mal in sieben Jahren von ihnen abgeän-
dert, zuletzt in lapriretrae oder der „Fleckige“, „Buntscheckige“2).

Weit bedenklicheren Umwandiungen ist die Sprache solcher
Menschenstämme ausgesetzt, die in Banden von wenigen Köpfen
oder auch wohl nur in Familien dünn bewohnte Jagdreviere durch-
streifen. Jeder Angehörige einer grossen Gesellschaft wird durch
das tägliche Bedürfniss streng zu einer deutlichen Aussprache ge-
nöthigt, damit er von Allen verstanden werde. Schlecht erzogene
Kinder ersinnen oft Lautgruppen, die eine Zeitlang innerhalb des
Hauses geduldet werden und die sich für immer festsetzen würden,
wenn der öffentliche Verkehr sie nicht wie unbekannte Münzen
zurückweisen würde. Die Kinderunart wird aber zur Mannesge-
wohnheit bei brasilianischen Jägern, deren einzelne Stämme nicht
blos durch rasche Entwicklung von Mundarten ihren ehemaligen
Sprachverwandten unverständlich werden, sondern bei denen aus

1) Pallas (Voyages dans l’empire de Russie. Paris 1793. tom IV. p. 101)
sagt ausdrücklich, dass die Samojeden den Namen eines Verstorbenen an-
fangs aufs strengste vermeiden, aber ihn dann einem Enkel oder Grossenkel
geben, damit das Andenken des Abgeschiedenen wieder aufgefrischt werde.
2) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 235. S. 361.
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[107/0125] Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. halbentwickelten Völker aus Worten des täglichen Gebrauchs zu- sammengesetzt werden, so müssen für diese letzteren neue Aus- drücke ersonnen werden. Als König Pomare auf Tahiti gestorben war, verschwand des Wort po (Nacht) aus der Sprache. Den nämlichen Gebrauch huldigen oder huldigten die Papuanen Neu- Guinea’s, die Australier, die Tasmanier, die ostafrikanischen Masai, die Samojeden und die Feuerländer. Doch darf man die Trag- weite dieser Gewohnheit bei Umwandlung der Sprache nicht über- schätzen, denn wenn ein neues Geschlecht, welches den Verstor- benen nicht mehr kannte oder nicht mehr fürchtete, heranwuchs 1), kehrte es wohl zu dem alten Worte zurück, oder wo das Verbot sich nur über eine Horde erstreckte und das verpönte Wort in einer andern Horde fortlebte, konnte es ebenfalls durch Zwischenheirathen wieder eingeschleppt werden. Auch darf man nicht denken, dass neue Lautgruppen ersonnen wurden, sondern man fügte aus den Bestandtheilen des Sprachschatzes nur neue Worte zusammen. Bei den Abiponen am westlichen Ufer des Paraguaystromes Südamerika’s war den alten Frauen das Geschäft anvertraut, die neuen Benen- nungen festzustellen. Der Name des Tigers (Jaguars) wurde wegen eingetretner Todesfälle drei Mal in sieben Jahren von ihnen abgeän- dert, zuletzt in lapriretrae oder der „Fleckige“, „Buntscheckige“ 2). Weit bedenklicheren Umwandiungen ist die Sprache solcher Menschenstämme ausgesetzt, die in Banden von wenigen Köpfen oder auch wohl nur in Familien dünn bewohnte Jagdreviere durch- streifen. Jeder Angehörige einer grossen Gesellschaft wird durch das tägliche Bedürfniss streng zu einer deutlichen Aussprache ge- nöthigt, damit er von Allen verstanden werde. Schlecht erzogene Kinder ersinnen oft Lautgruppen, die eine Zeitlang innerhalb des Hauses geduldet werden und die sich für immer festsetzen würden, wenn der öffentliche Verkehr sie nicht wie unbekannte Münzen zurückweisen würde. Die Kinderunart wird aber zur Mannesge- wohnheit bei brasilianischen Jägern, deren einzelne Stämme nicht blos durch rasche Entwicklung von Mundarten ihren ehemaligen Sprachverwandten unverständlich werden, sondern bei denen aus 1) Pallas (Voyages dans l’empire de Russie. Paris 1793. tom IV. p. 101) sagt ausdrücklich, dass die Samojeden den Namen eines Verstorbenen an- fangs aufs strengste vermeiden, aber ihn dann einem Enkel oder Grossenkel geben, damit das Andenken des Abgeschiedenen wieder aufgefrischt werde. 2) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 235. S. 361.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/125>, abgerufen am 23.04.2024.