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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
des Gedankens, so müsste dieser überall durch dieselben Schall-
erregungen sich uns offenbaren1).

So müssen wir also das Begegnen eines gewissen Sinnes mit
einer gewissen Lautgruppe nur als etwas flüchtiges betrachten.
Sprachforscher, welche die Entwickelung der indoeuropäischen
Sprachen rückwärts so weit verfolgt haben, als überhaupt Urkunden
es verstatteten, konnten schliesslich einen Schatz von Wurzeln zu-
sammenlesen, den wir als den ältesten erreichbaren Stoff der Sprach-
forschung betrachten müssen. Gleichwohl haben wir keine Ge-
wissheit, dass diese Wurzeln das Uranfängliche gewesen seien, wir
dürfen wohl eher annehmen, dass auch sie schon lautliche Um-
wandlungen erlitten, ehe sie auf uns gelangten. Zwar haben
manche Völker die Gabe, die Lautgruppe länger und schärfer
festzuhalten, während andre viel unstäter mit dem Werkzeuge des
Gedankenausdruckes wechseln, dennoch lässt sich wohl als allge-
mein giltig behaupten, dass die Befestigung einer Sprache mit der
Zahl der Sprechenden und zugleich mit der strengeren Gliederung
der Gesellschaft wächst. Die ausserordentliche Vielheit der Sprachen
in Amerika hängt genau zusammen mit der unstäten Lebensweise
wandernder Jägerstämme. Wo dagegen wohlgeordnete Gesell-
schaften bestanden wie im alten Peru, da konnte auch die herr-
schende Ketschuasprache sich über mehr als zwanzig Breitengrade
erstrecken.

Es ist von früheren Schriftstellern bereits erläutert worden,
dass der Glaube an eine Fortdauer nach dem Tode die Umbil-
dung der Sprache beschleunigt hat. Die Namen der Abgeschie-
denen werden nicht mehr genannt aus Furcht, das Gespenst des
Gerufenen herbeizuziehen. Viele Völker wagen nicht einmal, den
wahren Namen ihrer Gottheit auszusprechen und etwas Aehnliches
wenigstens verordnet das zweite sinaitische Gebot. Als unter den
Dayaken Borneo's die schwarzen Blattern ausbrachen, floh Alles
erschreckt in die Waldeinsamkeiten. Die Krankheit wagte man
nicht mehr beim Namen zu nennen, sondern man hiess sie
Dschengelblatt oder Datu (Häuptling) oder sagte schlechtweg: ist
er abgezogen2). Da nun die Eigennamen bei der Mehrzahl der

1) Steinthal, Psychologie u. Sprachwissenschaft. Berlin 1871. Bd. 1.
S. 54. S. 361. Whitney, Language and the study of language. London
1867. p. 413--420.
2) Spenser St. John. Far East. London. 1862. tom. I. p. 61--62.

Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
des Gedankens, so müsste dieser überall durch dieselben Schall-
erregungen sich uns offenbaren1).

So müssen wir also das Begegnen eines gewissen Sinnes mit
einer gewissen Lautgruppe nur als etwas flüchtiges betrachten.
Sprachforscher, welche die Entwickelung der indoeuropäischen
Sprachen rückwärts so weit verfolgt haben, als überhaupt Urkunden
es verstatteten, konnten schliesslich einen Schatz von Wurzeln zu-
sammenlesen, den wir als den ältesten erreichbaren Stoff der Sprach-
forschung betrachten müssen. Gleichwohl haben wir keine Ge-
wissheit, dass diese Wurzeln das Uranfängliche gewesen seien, wir
dürfen wohl eher annehmen, dass auch sie schon lautliche Um-
wandlungen erlitten, ehe sie auf uns gelangten. Zwar haben
manche Völker die Gabe, die Lautgruppe länger und schärfer
festzuhalten, während andre viel unstäter mit dem Werkzeuge des
Gedankenausdruckes wechseln, dennoch lässt sich wohl als allge-
mein giltig behaupten, dass die Befestigung einer Sprache mit der
Zahl der Sprechenden und zugleich mit der strengeren Gliederung
der Gesellschaft wächst. Die ausserordentliche Vielheit der Sprachen
in Amerika hängt genau zusammen mit der unstäten Lebensweise
wandernder Jägerstämme. Wo dagegen wohlgeordnete Gesell-
schaften bestanden wie im alten Peru, da konnte auch die herr-
schende Ketschuasprache sich über mehr als zwanzig Breitengrade
erstrecken.

Es ist von früheren Schriftstellern bereits erläutert worden,
dass der Glaube an eine Fortdauer nach dem Tode die Umbil-
dung der Sprache beschleunigt hat. Die Namen der Abgeschie-
denen werden nicht mehr genannt aus Furcht, das Gespenst des
Gerufenen herbeizuziehen. Viele Völker wagen nicht einmal, den
wahren Namen ihrer Gottheit auszusprechen und etwas Aehnliches
wenigstens verordnet das zweite sinaitische Gebot. Als unter den
Dayaken Borneo’s die schwarzen Blattern ausbrachen, floh Alles
erschreckt in die Waldeinsamkeiten. Die Krankheit wagte man
nicht mehr beim Namen zu nennen, sondern man hiess sie
Dschengelblatt oder Datu (Häuptling) oder sagte schlechtweg: ist
er abgezogen2). Da nun die Eigennamen bei der Mehrzahl der

1) Steinthal, Psychologie u. Sprachwissenschaft. Berlin 1871. Bd. 1.
S. 54. S. 361. Whitney, Language and the study of language. London
1867. p. 413—420.
2) Spenser St. John. Far East. London. 1862. tom. I. p. 61—62.
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[106/0124] Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. des Gedankens, so müsste dieser überall durch dieselben Schall- erregungen sich uns offenbaren 1). So müssen wir also das Begegnen eines gewissen Sinnes mit einer gewissen Lautgruppe nur als etwas flüchtiges betrachten. Sprachforscher, welche die Entwickelung der indoeuropäischen Sprachen rückwärts so weit verfolgt haben, als überhaupt Urkunden es verstatteten, konnten schliesslich einen Schatz von Wurzeln zu- sammenlesen, den wir als den ältesten erreichbaren Stoff der Sprach- forschung betrachten müssen. Gleichwohl haben wir keine Ge- wissheit, dass diese Wurzeln das Uranfängliche gewesen seien, wir dürfen wohl eher annehmen, dass auch sie schon lautliche Um- wandlungen erlitten, ehe sie auf uns gelangten. Zwar haben manche Völker die Gabe, die Lautgruppe länger und schärfer festzuhalten, während andre viel unstäter mit dem Werkzeuge des Gedankenausdruckes wechseln, dennoch lässt sich wohl als allge- mein giltig behaupten, dass die Befestigung einer Sprache mit der Zahl der Sprechenden und zugleich mit der strengeren Gliederung der Gesellschaft wächst. Die ausserordentliche Vielheit der Sprachen in Amerika hängt genau zusammen mit der unstäten Lebensweise wandernder Jägerstämme. Wo dagegen wohlgeordnete Gesell- schaften bestanden wie im alten Peru, da konnte auch die herr- schende Ketschuasprache sich über mehr als zwanzig Breitengrade erstrecken. Es ist von früheren Schriftstellern bereits erläutert worden, dass der Glaube an eine Fortdauer nach dem Tode die Umbil- dung der Sprache beschleunigt hat. Die Namen der Abgeschie- denen werden nicht mehr genannt aus Furcht, das Gespenst des Gerufenen herbeizuziehen. Viele Völker wagen nicht einmal, den wahren Namen ihrer Gottheit auszusprechen und etwas Aehnliches wenigstens verordnet das zweite sinaitische Gebot. Als unter den Dayaken Borneo’s die schwarzen Blattern ausbrachen, floh Alles erschreckt in die Waldeinsamkeiten. Die Krankheit wagte man nicht mehr beim Namen zu nennen, sondern man hiess sie Dschengelblatt oder Datu (Häuptling) oder sagte schlechtweg: ist er abgezogen 2). Da nun die Eigennamen bei der Mehrzahl der 1) Steinthal, Psychologie u. Sprachwissenschaft. Berlin 1871. Bd. 1. S. 54. S. 361. Whitney, Language and the study of language. London 1867. p. 413—420. 2) Spenser St. John. Far East. London. 1862. tom. I. p. 61—62.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/124>, abgerufen am 25.04.2024.