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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
Frömmelei, so braucht man nur daran zu erinnern, dass unsre
heilige Schrift selbst entschieden die Sprache als eine Schöpfung
des Menschen bezeichnet (Gen. II, 19--20).

Wer aber über die ersten Anfänge der menschlichen Sprache
zur Klarheit gelangen will, der muss zunächst gewarnt werden,
dass ihn dabei alle Vergleiche aus den jetzt vorhandenen Wort-
schätzen in die Irre führen müssen. Wenn wir die früheren For-
men unsrer Ortsnamen nur wenige Jahrhunderte zurückverfolgen,
finden wir, dass sie mit der Zeit bis zu trügerischer Unkenntlich-
keit entstellt wurden, Wildenschwerdt ist aus Wilhelmswerda, Wald-
see (Württemberg) aus Walchsee, Oehringen aus Oringau, Welzheim
aus Walenzin, Holzbach aus Heroldsbach entstanden, wie A. Bac-
meister uns belehrt hat. Martin Luther durfte vor 300 Jahren
noch schreiben: Gott thue nichts als schlechtes und das Evangelium
sei eine kindische Lehre1). Damals bedeutete also wie noch heute
in unsrer Redensart recht und schlecht, das Schlechte etwas
Schlichtes, das Kindische etwas Kindliches. Im Süden Deutschlands
wird jedes männliche Kind ohne Arg ein Bube genannt, im Norden
bezeichnet dieser Ausdruck nur noch einen verworfenen Menschen,
gerade so wie die entsprechenden Laute des Englischen für Knabe
(knave) diesen üblen Sinn (knavery, Büberei) sich zugezogen haben.
Wir gewinnen damit die wichtige Erfahrung, dass der Sinn durch-
aus nicht fest an einer Lautgruppe haftet, sondern sich ihr inner-
halb derselben Sprachgenossenschaft unmerklich entzieht und sogar
auf andre Lautgruppen übergeht.

Diese Unabhängigkeit des Gedankens von seinem Schallaus-
druck widerlegt die oft gehörte Behauptung, dass wir nur in
innerlich gesprochner Rede denken sollen. Sprachloses Denken
begleitet vielmehr fast alle unsre häuslichen Verrichtungen. Ferner
baut der Musiker seine Schöpfungen aus einer rhythmischen Ton-
folge auf, der Maler wählt die Farbe zum Ausdruck seiner Stim-
mungen oder Gedanken, der Bildhauer die menschliche Gestalt, der
Baumeister Linien und Flächen, der Geometer Begrenzungen des
Raumes, der Mathematiker Ausdrücke der Quantität. Wäre die
Sprache dagegen eine strenge und nothwendige Lautverkörperung

1) L. Geiger a. a. O. S. 64. S. 72.

Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
Frömmelei, so braucht man nur daran zu erinnern, dass unsre
heilige Schrift selbst entschieden die Sprache als eine Schöpfung
des Menschen bezeichnet (Gen. II, 19—20).

Wer aber über die ersten Anfänge der menschlichen Sprache
zur Klarheit gelangen will, der muss zunächst gewarnt werden,
dass ihn dabei alle Vergleiche aus den jetzt vorhandenen Wort-
schätzen in die Irre führen müssen. Wenn wir die früheren For-
men unsrer Ortsnamen nur wenige Jahrhunderte zurückverfolgen,
finden wir, dass sie mit der Zeit bis zu trügerischer Unkenntlich-
keit entstellt wurden, Wildenschwerdt ist aus Wilhelmswerda, Wald-
see (Württemberg) aus Walchsee, Oehringen aus Oringau, Welzheim
aus Walenzin, Holzbach aus Heroldsbach entstanden, wie A. Bac-
meister uns belehrt hat. Martin Luther durfte vor 300 Jahren
noch schreiben: Gott thue nichts als schlechtes und das Evangelium
sei eine kindische Lehre1). Damals bedeutete also wie noch heute
in unsrer Redensart recht und schlecht, das Schlechte etwas
Schlichtes, das Kindische etwas Kindliches. Im Süden Deutschlands
wird jedes männliche Kind ohne Arg ein Bube genannt, im Norden
bezeichnet dieser Ausdruck nur noch einen verworfenen Menschen,
gerade so wie die entsprechenden Laute des Englischen für Knabe
(knave) diesen üblen Sinn (knavery, Büberei) sich zugezogen haben.
Wir gewinnen damit die wichtige Erfahrung, dass der Sinn durch-
aus nicht fest an einer Lautgruppe haftet, sondern sich ihr inner-
halb derselben Sprachgenossenschaft unmerklich entzieht und sogar
auf andre Lautgruppen übergeht.

Diese Unabhängigkeit des Gedankens von seinem Schallaus-
druck widerlegt die oft gehörte Behauptung, dass wir nur in
innerlich gesprochner Rede denken sollen. Sprachloses Denken
begleitet vielmehr fast alle unsre häuslichen Verrichtungen. Ferner
baut der Musiker seine Schöpfungen aus einer rhythmischen Ton-
folge auf, der Maler wählt die Farbe zum Ausdruck seiner Stim-
mungen oder Gedanken, der Bildhauer die menschliche Gestalt, der
Baumeister Linien und Flächen, der Geometer Begrenzungen des
Raumes, der Mathematiker Ausdrücke der Quantität. Wäre die
Sprache dagegen eine strenge und nothwendige Lautverkörperung

1) L. Geiger a. a. O. S. 64. S. 72.
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[105/0123] Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. Frömmelei, so braucht man nur daran zu erinnern, dass unsre heilige Schrift selbst entschieden die Sprache als eine Schöpfung des Menschen bezeichnet (Gen. II, 19—20). Wer aber über die ersten Anfänge der menschlichen Sprache zur Klarheit gelangen will, der muss zunächst gewarnt werden, dass ihn dabei alle Vergleiche aus den jetzt vorhandenen Wort- schätzen in die Irre führen müssen. Wenn wir die früheren For- men unsrer Ortsnamen nur wenige Jahrhunderte zurückverfolgen, finden wir, dass sie mit der Zeit bis zu trügerischer Unkenntlich- keit entstellt wurden, Wildenschwerdt ist aus Wilhelmswerda, Wald- see (Württemberg) aus Walchsee, Oehringen aus Oringau, Welzheim aus Walenzin, Holzbach aus Heroldsbach entstanden, wie A. Bac- meister uns belehrt hat. Martin Luther durfte vor 300 Jahren noch schreiben: Gott thue nichts als schlechtes und das Evangelium sei eine kindische Lehre 1). Damals bedeutete also wie noch heute in unsrer Redensart recht und schlecht, das Schlechte etwas Schlichtes, das Kindische etwas Kindliches. Im Süden Deutschlands wird jedes männliche Kind ohne Arg ein Bube genannt, im Norden bezeichnet dieser Ausdruck nur noch einen verworfenen Menschen, gerade so wie die entsprechenden Laute des Englischen für Knabe (knave) diesen üblen Sinn (knavery, Büberei) sich zugezogen haben. Wir gewinnen damit die wichtige Erfahrung, dass der Sinn durch- aus nicht fest an einer Lautgruppe haftet, sondern sich ihr inner- halb derselben Sprachgenossenschaft unmerklich entzieht und sogar auf andre Lautgruppen übergeht. Diese Unabhängigkeit des Gedankens von seinem Schallaus- druck widerlegt die oft gehörte Behauptung, dass wir nur in innerlich gesprochner Rede denken sollen. Sprachloses Denken begleitet vielmehr fast alle unsre häuslichen Verrichtungen. Ferner baut der Musiker seine Schöpfungen aus einer rhythmischen Ton- folge auf, der Maler wählt die Farbe zum Ausdruck seiner Stim- mungen oder Gedanken, der Bildhauer die menschliche Gestalt, der Baumeister Linien und Flächen, der Geometer Begrenzungen des Raumes, der Mathematiker Ausdrücke der Quantität. Wäre die Sprache dagegen eine strenge und nothwendige Lautverkörperung 1) L. Geiger a. a. O. S. 64. S. 72.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/123>, abgerufen am 25.04.2024.