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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
seine Stimme, sondern er scharrt oder fletscht die Zähne, bedient
sich also auch einer Art von Gebärdensprache. Mit gewisser Be-
rechtigung hat man daher das Bellen des Hundes als den ersten
Sprechversuch eines Thieres bezeichnet1). Diese Fertigkeit erwarb
jedoch dieses Thier durch seinen Umgang mit dem gesprächigen
Menschen, denn europäische Hunde, die auf einsamen Inseln aus-
gesetzt wurden, entwöhnten sich des Bellens und erzeugten eine
stumme Nachkommenschaft, die erst durch erneuten Umgang mit
dem Menschen zu dem verlornen Gebrauch der Stimmwerkzeuge
zurückkehrte.

Die menschliche Sprache aber unterscheidet sich von den
Verständigungslauten der Thiere nicht etwa blos durch einen
grösseren Spielraum der Mittheilungen, sondern dadurch, dass sie
etwas zu verkündigen vermag, was jenseits des thierischen Denkver-
mögens liegt, nämlich nicht blos Wahrnehmungen, sondern Er-
kenntnisse. Ist das Bellen des Hundes der erste Sprechversuch,
so können wir auch hinzusetzen, dass der Versuch bisher noch
immer misslungen sei. Nicht einmal so weit gelangte das Thier,
dass es einen Lockruf für eine bestimmte Person sich aneignen
konnte. Wenn das Kind so weit gereift ist, dass es zum ersten
Mal bewusst Vater oder Mutter ruft, so ist ihm der erste Sprech-
versuch völlig geglückt. Ein Thier wird niemals solche einfache
Erkenntnisse mittheilen, wie sie in den Worten hell, warm, süss,
hart, spitz, blau, roth enthalten sind.

Da nun die Geschichte und die täglichen Erfahrungen uns
lehren, dass die Sprachen sich ändern und dass sie zugleich an
Umfang wachsen, ihre Bildung also nie stillsteht, und die Umbil-
dungen und Neubildungen jedenfalls von uns selbst herrühren, so
sollte eigentlich nie ein Streit sich erhoben haben, dass der Mensch
der Schöpfer seiner Sprache gewesen sei. Dennoch hat man die
ersten Anfänge einem übernatürlichen Vorgange zuschreiben wollen.
Wenn aber gerade in der menschlichen Sprache der einzige sprung-
artige Unterschied zu suchen ist, der uns innerhalb der Thierwelt
von unsern Mitgeschöpfen absondert, so erniedrigen diejenigen
unsre geistigen Fähigkeiten und schmälern jene Kluft, welche be-
haupten, der Mensch habe nicht aus sich selbst seine höchste Aus-
zeichnung erworben. Geschieht diese Verneinung aus krankhafter

1) L. Geiger, Ursprung der Sprache. Stuttgart 1869. S. 190.

Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
seine Stimme, sondern er scharrt oder fletscht die Zähne, bedient
sich also auch einer Art von Gebärdensprache. Mit gewisser Be-
rechtigung hat man daher das Bellen des Hundes als den ersten
Sprechversuch eines Thieres bezeichnet1). Diese Fertigkeit erwarb
jedoch dieses Thier durch seinen Umgang mit dem gesprächigen
Menschen, denn europäische Hunde, die auf einsamen Inseln aus-
gesetzt wurden, entwöhnten sich des Bellens und erzeugten eine
stumme Nachkommenschaft, die erst durch erneuten Umgang mit
dem Menschen zu dem verlornen Gebrauch der Stimmwerkzeuge
zurückkehrte.

Die menschliche Sprache aber unterscheidet sich von den
Verständigungslauten der Thiere nicht etwa blos durch einen
grösseren Spielraum der Mittheilungen, sondern dadurch, dass sie
etwas zu verkündigen vermag, was jenseits des thierischen Denkver-
mögens liegt, nämlich nicht blos Wahrnehmungen, sondern Er-
kenntnisse. Ist das Bellen des Hundes der erste Sprechversuch,
so können wir auch hinzusetzen, dass der Versuch bisher noch
immer misslungen sei. Nicht einmal so weit gelangte das Thier,
dass es einen Lockruf für eine bestimmte Person sich aneignen
konnte. Wenn das Kind so weit gereift ist, dass es zum ersten
Mal bewusst Vater oder Mutter ruft, so ist ihm der erste Sprech-
versuch völlig geglückt. Ein Thier wird niemals solche einfache
Erkenntnisse mittheilen, wie sie in den Worten hell, warm, süss,
hart, spitz, blau, roth enthalten sind.

Da nun die Geschichte und die täglichen Erfahrungen uns
lehren, dass die Sprachen sich ändern und dass sie zugleich an
Umfang wachsen, ihre Bildung also nie stillsteht, und die Umbil-
dungen und Neubildungen jedenfalls von uns selbst herrühren, so
sollte eigentlich nie ein Streit sich erhoben haben, dass der Mensch
der Schöpfer seiner Sprache gewesen sei. Dennoch hat man die
ersten Anfänge einem übernatürlichen Vorgange zuschreiben wollen.
Wenn aber gerade in der menschlichen Sprache der einzige sprung-
artige Unterschied zu suchen ist, der uns innerhalb der Thierwelt
von unsern Mitgeschöpfen absondert, so erniedrigen diejenigen
unsre geistigen Fähigkeiten und schmälern jene Kluft, welche be-
haupten, der Mensch habe nicht aus sich selbst seine höchste Aus-
zeichnung erworben. Geschieht diese Verneinung aus krankhafter

1) L. Geiger, Ursprung der Sprache. Stuttgart 1869. S. 190.
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[104/0122] Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. seine Stimme, sondern er scharrt oder fletscht die Zähne, bedient sich also auch einer Art von Gebärdensprache. Mit gewisser Be- rechtigung hat man daher das Bellen des Hundes als den ersten Sprechversuch eines Thieres bezeichnet 1). Diese Fertigkeit erwarb jedoch dieses Thier durch seinen Umgang mit dem gesprächigen Menschen, denn europäische Hunde, die auf einsamen Inseln aus- gesetzt wurden, entwöhnten sich des Bellens und erzeugten eine stumme Nachkommenschaft, die erst durch erneuten Umgang mit dem Menschen zu dem verlornen Gebrauch der Stimmwerkzeuge zurückkehrte. Die menschliche Sprache aber unterscheidet sich von den Verständigungslauten der Thiere nicht etwa blos durch einen grösseren Spielraum der Mittheilungen, sondern dadurch, dass sie etwas zu verkündigen vermag, was jenseits des thierischen Denkver- mögens liegt, nämlich nicht blos Wahrnehmungen, sondern Er- kenntnisse. Ist das Bellen des Hundes der erste Sprechversuch, so können wir auch hinzusetzen, dass der Versuch bisher noch immer misslungen sei. Nicht einmal so weit gelangte das Thier, dass es einen Lockruf für eine bestimmte Person sich aneignen konnte. Wenn das Kind so weit gereift ist, dass es zum ersten Mal bewusst Vater oder Mutter ruft, so ist ihm der erste Sprech- versuch völlig geglückt. Ein Thier wird niemals solche einfache Erkenntnisse mittheilen, wie sie in den Worten hell, warm, süss, hart, spitz, blau, roth enthalten sind. Da nun die Geschichte und die täglichen Erfahrungen uns lehren, dass die Sprachen sich ändern und dass sie zugleich an Umfang wachsen, ihre Bildung also nie stillsteht, und die Umbil- dungen und Neubildungen jedenfalls von uns selbst herrühren, so sollte eigentlich nie ein Streit sich erhoben haben, dass der Mensch der Schöpfer seiner Sprache gewesen sei. Dennoch hat man die ersten Anfänge einem übernatürlichen Vorgange zuschreiben wollen. Wenn aber gerade in der menschlichen Sprache der einzige sprung- artige Unterschied zu suchen ist, der uns innerhalb der Thierwelt von unsern Mitgeschöpfen absondert, so erniedrigen diejenigen unsre geistigen Fähigkeiten und schmälern jene Kluft, welche be- haupten, der Mensch habe nicht aus sich selbst seine höchste Aus- zeichnung erworben. Geschieht diese Verneinung aus krankhafter 1) L. Geiger, Ursprung der Sprache. Stuttgart 1869. S. 190.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/122>, abgerufen am 29.03.2024.