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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795.

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gern, daß -- wenn jemals Hofnung dazu war -- es
gerade jetzt ist, wo der Deutsche jenen belgischen
Stoizismus, jene edle Unempfindlichkeit anzunehmen
verspricht, die ihn so ziert und durch die er gegen
Melpomenens Dolch schuß- und stichfest wird und
in Dante's Hölle, wie Christus in der wahren, ohne
Leiden ist. Wir hatten zwar nie die Empfindlichkeit
der Franzosen und ihr Racine wäre immer für uns
ein kurzweiliger Rath gewesen; aber jetzt sind wir,
wenn's ein Verfasser nicht gar zu kraus macht und
nicht gar zu viele Schlachtfelder und Kelche mit
Mäusegift und Rabensteine vorschiebt -- denn das
greift uns an -- sondern wenn er nur so halb auf¬
geräumt -- ich seh' ihn ordentlich reiten -- auf ei¬
nem Trauerpferde daher setzt und mit der einen
Hand eine Todtenglocke schüttelt und mit der an¬
dern einen Leichenmarschals-Stab Wehe schwenkt;
oder wenn er vollends nur die unsichtbaren zugequol¬
lenen Stichwunden der zärtern feinern Seele vor¬
zeichnet: da sind wir jetzt schon im Stande, unsere
lustige Lanne zu behaupten und zu zeigen, was der
Deutsche erträgt. Leute von geringerer Kraft schla¬
fen
wenigstens, damit sie bei einer Götheschen
Iphigenie nicht leiden, weil der Schlaf Lei¬
dende aufrichtet: oder wir vergessen solche Elegien
gar, weil wir nach Patner kein Gedächtniß für
Schmerzen haben und weil die Vergessenheit --

gern, daß — wenn jemals Hofnung dazu war — es
gerade jetzt iſt, wo der Deutſche jenen belgiſchen
Stoizismus, jene edle Unempfindlichkeit anzunehmen
verſpricht, die ihn ſo ziert und durch die er gegen
Melpomenens Dolch ſchuß- und ſtichfeſt wird und
in Dante's Hoͤlle, wie Chriſtus in der wahren, ohne
Leiden iſt. Wir hatten zwar nie die Empfindlichkeit
der Franzoſen und ihr Racine waͤre immer fuͤr uns
ein kurzweiliger Rath geweſen; aber jetzt ſind wir,
wenn's ein Verfaſſer nicht gar zu kraus macht und
nicht gar zu viele Schlachtfelder und Kelche mit
Maͤuſegift und Rabenſteine vorſchiebt — denn das
greift uns an — ſondern wenn er nur ſo halb auf¬
geraͤumt — ich ſeh' ihn ordentlich reiten — auf ei¬
nem Trauerpferde daher ſetzt und mit der einen
Hand eine Todtenglocke ſchuͤttelt und mit der an¬
dern einen Leichenmarſchals-Stab Wehe ſchwenkt;
oder wenn er vollends nur die unſichtbaren zugequol¬
lenen Stichwunden der zaͤrtern feinern Seele vor¬
zeichnet: da ſind wir jetzt ſchon im Stande, unſere
luſtige Lanne zu behaupten und zu zeigen, was der
Deutſche ertraͤgt. Leute von geringerer Kraft ſchla¬
fen
wenigſtens, damit ſie bei einer Goͤtheſchen
Iphigenie nicht leiden, weil der Schlaf Lei¬
dende aufrichtet: oder wir vergeſſen ſolche Elegien
gar, weil wir nach Patner kein Gedaͤchtniß fuͤr
Schmerzen haben und weil die Vergeſſenheit —

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[9/0019] gern, daß — wenn jemals Hofnung dazu war — es gerade jetzt iſt, wo der Deutſche jenen belgiſchen Stoizismus, jene edle Unempfindlichkeit anzunehmen verſpricht, die ihn ſo ziert und durch die er gegen Melpomenens Dolch ſchuß- und ſtichfeſt wird und in Dante's Hoͤlle, wie Chriſtus in der wahren, ohne Leiden iſt. Wir hatten zwar nie die Empfindlichkeit der Franzoſen und ihr Racine waͤre immer fuͤr uns ein kurzweiliger Rath geweſen; aber jetzt ſind wir, wenn's ein Verfaſſer nicht gar zu kraus macht und nicht gar zu viele Schlachtfelder und Kelche mit Maͤuſegift und Rabenſteine vorſchiebt — denn das greift uns an — ſondern wenn er nur ſo halb auf¬ geraͤumt — ich ſeh' ihn ordentlich reiten — auf ei¬ nem Trauerpferde daher ſetzt und mit der einen Hand eine Todtenglocke ſchuͤttelt und mit der an¬ dern einen Leichenmarſchals-Stab Wehe ſchwenkt; oder wenn er vollends nur die unſichtbaren zugequol¬ lenen Stichwunden der zaͤrtern feinern Seele vor¬ zeichnet: da ſind wir jetzt ſchon im Stande, unſere luſtige Lanne zu behaupten und zu zeigen, was der Deutſche ertraͤgt. Leute von geringerer Kraft ſchla¬ fen wenigſtens, damit ſie bei einer Goͤtheſchen Iphigenie nicht leiden, weil der Schlaf Lei¬ dende aufrichtet: oder wir vergeſſen ſolche Elegien gar, weil wir nach Patner kein Gedaͤchtniß fuͤr Schmerzen haben und weil die Vergeſſenheit —

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Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/19>, abgerufen am 29.03.2024.