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Marburger Zeitung. Nr. 19, Marburg, 11.02.1905.

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werden nicht zurückgegeben. Die Einzelnnummer kostet 10 h.




Nr. 19 Samstag, 11. Februar 1905 44. Jahrgang.


[Spaltenumbruch]
Über ein Jahr!

Vorgestern war es gerade ein Jahr, seitdem
das gewaltige Ringen zwischen Rußland, dem
großen Slavenstaate, und Japan, dem aufstrebenden
kleinen Reiche des Mikado, seinen donnernden
Anfang nahm. Damals mußte die Kulturwelt
wohl annehmen, daß das kleine Japan seine
Kühnheit bald werde bitter büßen müssen.
Zu herausfordernd schien der Waffenappell des
Mikado, nachdem selbst ein Napoleon und später
in der Krim, sich fast ganz Europa in einem
Angriffskriege gegen Rußland verblutet hatte, ohne
den Koloß in seinen Fundamenten erschüttern zu
können. Was also für Europa zu einer fast unaus-
denkbaren Vorstellung geworden war, daß irgend
ein Staat der Erde, ohne seine Existenz aufs Spiel
zu setzen, die ungeheure Macht Rußland bekriegen
könnte, das sollte das ferne kleine Japan wagen.
Vergeblich suchte man in der Geschichte nach einem
Gleichnis, um das Seltsame und Merkwürdige,
was sich vorbereitete, hinsichtlich seiner physischen
Durchführbarkeit zu prüfen; etwas phänomenales,
noch nie dagewesenes stand im Begriffe sich zu
entwickeln, ein Krieg, der nur mit der völligen
Zertrümmerung des exotischen Reiches enden mußte,
weil Europa, ja die ganze Welt zu umgarnt und
unterdrückt waren von der Legende der militärischen
Größe und Macht, der Unbesiegbarkeit Rußlands.

Als aber kaum achtundvierzig Stunden nach
Überreichung der letzten japanischen Note der Mi-
kado die Instrumente seiner Politik wechselte und
die Schiffsgeschütze dröhnend den Beginn der Feind-
seligkeiten kündeten, hatte die Diplomatie, hatte die
Öffentlichkeit allen Grund, aufzuhorchen; denn das
Unmögliche wurde zur Tat, das Unausdenkbare
zum Geschehnis. In kürzester Frist waren zwei
russische Kreuzer in den Grund gebohrt, drei
Panzerschiffe waren sehr schwer beschädigt, der
[Spaltenumbruch] Rest der russischen Flotte in Port Arthur
blockiert, auf Korea japanische Truppen gelandet,
alles Ereignisse, die auf Europa wie ein elektrischer
Schlag wirkten und die Konturen des gigantischen
Kampfes erkennen ließen, der nun in Ostasien ent-
brannt war. Aber so groß auch das Erstaunen an-
gesichts der japanischen Erfolge zur See war und
man in Rußland selbst den niederschmetternden
Eindruck der Katastrophe nachhaltig empfand, waren
es doch in erster Linie die russischen Machtmittel
zu Lande, welche die Furcht von der Schlagkraft
Rußlands gezeitigt hatten. Die Armee aber stand,
wie man in Petersburg behauptete, schlagfertig in
der Mandschurei. Von ihr erwartete man die Re-
habilitierung des Mißgeschickes zur See, von ihr
erhoffte man, daß sie in raschen Schlägen den ver-
messenen Asiaten zur Raison bringen werde. Da
erfolgte die erste Landschlacht am Jalu, die mit
einer vernichtenden Niederlage der Russen endete
und für die nichtrussische Welt die besondere Be-
deutung hatte, daß in der Schlacht mit einem Rucke
die Kulissen verschoben wurden, hinter denen Ruß-
land sein Gespensterwesen mit seiner militärischen
Macht uud Größe trieb. Nun wurde es klar, daß
Rußland gänzlich unvorbereitet den Krieg provoziert
hatte und daß es erst im Begriffe stand, seine
Armee zu sammeln und zu organisieren. Und indem
es daran schritt, diese Versäumnisse nachzuholen,
mußte es auch notgedrungen alle Türen und
Fenster seiner inneren Verwaltung der Öffentlichkeit
preisgeben.

Das Bild der Verwahrlosung, der
Zerrüttung, ja der Fäulnis, das da zum Vorschein
kam, ist noch in aller Erinnerung. Entrüstung, aber
auch innere Beschämung, daß man sich vor einem
solchen Zerrbild der Macht, vor solcher Korruption
fast ein Jahrhundert hindurch mit Angst und Furcht
gequält hatte, erfüllte Eurropa. Am Kriegstheater
aber schritt das Verhängnis weiter. Mit einem
[Spaltenumbruch] Riesenaufwand an Geld und Gut, hinweg über
grenzenloses Menschenelen, setzte Rußland alle seine
unermeßlichen Hilfsquellen ein, um das Geschick zu
seinen Gunsten zu wenden, den Sieg an seine
Fahnen zu knüpfen. Aber umsonst. Wie fluchbeladen
blieb Rußland in allen seinen Unternehmungen den
tapferen Japanern gegenüber im Nachteile, die in
einer Reihe glänzender Siege das Phantom der
russischen Unbesiegbarkeit gründlich zerstörten. Noch
liegt zwar Rußland militärisch erschöpft nicht zu
Boden. Mit der äußersten Anstrengung versucht es,
das verlorene Schlachtenglück zu finden, das arg
zerrüttete Weltprestige wieder aufzurichten; aber es
scheint doch, als hätte der ostasiatische Krieg, der
Kampf gegen Japan, bereits am längsten gedauert;
denn der Donner und Blitz, der die russische Armee
vom Jalu bis zum Hunho zurückwarf, der die Flotte
des Zaren in den Meeresgrund versenkte, der das
Bollwerk des Moskowitentums in Ostasien, Port
Arthur, in Trümmer schoß, dieser Donner hat im
Schoße des geknechteten russischen Volkes einen
Widerhall gefunden, der dem Zarentum gefährlicher
merden kanu, als die japanische Armee. Ein Krieg,
entsetzlicher in seiner Abart als der männermordende
der Schlachten, wälzt sich als ungeheures Schrecknis
vor den Toren Rußlands, nach Rache und Ver-
geltung heischend für den Verlust der Flotte und
die schmählich erlittenen Niederlagen. Wie wird
dieser innere Krieg enden? So sind Japans herr-
liche Siege auf dem Wege, grundstürzend in das
Geschick des russischen Volkes, in das der gesitteten
Menschheit einzugreifen und der Welt eine Phy-
siognomie zu geben, die wohl alle Kombinationen
weit überholt, die man vor Ausbruch des Krieges
an diesen knüpfte. In Ostasien wird eine neue Welt
entstehen, in Europa eine alte, morsche untergehen;
das ist die Bilanz der einjährigen Dauer des noch
unausgerungenen ostasiatischen Krieges.




[Spaltenumbruch]
Ein Opfer.
Erzählung von F. Arnefeldt.

35 (Nachdruck verboten)

"Sie haben geurteilt, wie Menschen zu urteilen
vermochten", sagte er. Es waren die ersten Worte,
die er sprach und er brachte sie nur langsam und
mit Anstrengung hervor, aber im Reden ward seine
Brust freier, fester fügte er hinzu: "Der Schein
war vollkommen gegen mich".

"Und der einzige Mensch, der diesen Schein
zu zerstören vermochte, sprach nicht", bemerkte einer
der anderen Herren.

"Sie selbst, Herr Pfarrer, wußten, wer der
Mörder war und schwiegen."

Jetzt erst ward Hellborn totenbleich und zitterte.
"Auch das hat der Unglückliche bekannt?" stam-
melte er.

"Wir bewundern Ihren Heroismus, der Sie
auch angesichts eines so schmählichen Todes das
Beichtgeheimnis wahren ließ."

"O nein, nein", wehrte Hellborn. Da trat der
Gefängnis-Geistliche, der mit den Herren vom Ge-
richt gekommen war, an ihn heran und sagte:

"Sie haben getan nach den Worten der Schrift,
mein Bruder: Sei getreu bis an den Tod, so will
ich Dir die Krone des Lebens geben."

Da schrie Hellborn auf.

"Nein, nein, keine Krone, ich bin ein großer
Sünder vor dem Herrn und nicht wert, am Altare
seines Dienstes zu walten."

"Das zu entscheiden steht unserem Oberen zu",
[Spaltenumbruch] erwiderte der Priester ernst, "ich folge nur der mir
zugegangenen Weisung und führe Sie wieder in
das Pfarrhaus, das bis jetzt noch von keinem
Nachfolger in Ihrem Amte bezogen ist."

"Ich gehorche und werde dort erwarten, was
über mich bestimmt wird", erwiderte Hellborn.

Nach Erledigung der notwendigen Formali-
täten war er frei wie die Luft, die ihn umgab,
und doch in seinem Herzen fest gebunden. Seine
Seele schmachtete nach einer Erlösung aus dem
Banne der Sündenschuld, die er als abtrünniger
Priester auf sich geladen hatte.

Wenige Stunden später kniete er in der St.
Annenkapelle vor demselben Beichtstuhl, vor welchem
ihm Colombier das erschütternde Bekenntnis abgelegt
hatte, und entlastete seine schwer bedrückte Brust in
einer langen, ausführlichen Beichte.

Der Priester, der sie vernahm, war beinahe
ebenso erschüttert wie der Beichtende selbst. Er
sprach ihn nicht los, sondern forderte ihn auf, sein
Lebensgeschick und seine Sünden wider die Würde
des geweihten Priesters seinen Vorgesetzten zu offen-
baren. Dann sprach er zu ihm die Worte:

"Baue auf die Barmherzigkeit Gottes, sie ist
sehr groß und hat sich schon herrlich an Dir
bewährt. Er wollte nicht Deinen Tod, sondern daß
Du lebest und ihm dienest."

Hellborn setzte sofort das Bekenntnis auf und
sandte es ab, dann aber rüstete er sich zu einem
schweren Gange; er wollte Veronikas Grab besuchen
und die Verzeihung der armen Muttek erflehen,
deren Tochter er in den Tod geführt. War auch
jede wirkliche Schuld an dem Morde von ihm
[Spaltenumbruch] genommen, er selbst konnte sich nicht von dem
Vorwurfe frei machen, daß die Tote ein Opfer
seiner Sünde geworden war.

Ehe er seinen Vorsatz ausführen konnte, wurde
er durch einen Besuch überrascht. Der Freiherr
Edgar von Schönwalde trat bei ihm ein.

Edgar hatte einige Tage in Berlin zubringen
müssen, ehe es ihm gelungen war, die erbetene
Audienz beim Könige zu erhalten; der Monarch
hatte ihn huldvoll angehört und ihm verheißen,
daß er sehr genauen Bericht über den ihn im hohen
Grade interessierenden Fall einfordern und wenn
irgend möglich, Gnade walten lassen wolle.

Mit diesem Bescheide war Edgar zurückgekehrt
und hier hatte ihn die schier unglaublich klingende
Nachricht empfangen, Hellborn sei soeben freigelassen,
weil seine Unschuld entdeckt sei durch das Geständ-
nis, das der wahre Mörder, Colombier, in seiner
Todesstunde abgelegt hatte.

"Colombier!" rief Edgar, als Klotilde ihm in
der tiefsten Zerknirschung diese Mitteilung machte,
"und niemand hatte den leisesten Verdacht auf
diesen Menschen!"

"Doch einer, Viktor", sagte Klotilde. "Er
ging nach England, um ihn zu einem Geständnis
zu bewegen, und kam noch zur rechten Zeit, es
noch von seinem sterbenden Munde zu vernehmen."

"Eine ergreifende Fügung", stammelte Edgar,
"hat Dir Viktor das geschrieben?"

"Ja", sagte Klotilde mit einem Seufzer.

"Woher konnte Viktor das wissen?"

"Darüber spricht er sich nicht aus. Ach,
Edgar, auch hier liegt ein Geheimnis, und es


Marburger Zeitung.



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Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und
Samstag abends.

Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von
11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4.

Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon-Nr. 24.)


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allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen.
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Dienstag, Donnerstag, Samstag mittags. Manuſkripte
werden nicht zurückgegeben. Die Einzelnnummer koſtet 10 h.




Nr. 19 Samstag, 11. Februar 1905 44. Jahrgang.


[Spaltenumbruch]
Über ein Jahr!

Vorgeſtern war es gerade ein Jahr, ſeitdem
das gewaltige Ringen zwiſchen Rußland, dem
großen Slavenſtaate, und Japan, dem aufſtrebenden
kleinen Reiche des Mikado, ſeinen donnernden
Anfang nahm. Damals mußte die Kulturwelt
wohl annehmen, daß das kleine Japan ſeine
Kühnheit bald werde bitter büßen müſſen.
Zu herausfordernd ſchien der Waffenappell des
Mikado, nachdem ſelbſt ein Napoleon und ſpäter
in der Krim, ſich faſt ganz Europa in einem
Angriffskriege gegen Rußland verblutet hatte, ohne
den Koloß in ſeinen Fundamenten erſchüttern zu
können. Was alſo für Europa zu einer faſt unaus-
denkbaren Vorſtellung geworden war, daß irgend
ein Staat der Erde, ohne ſeine Exiſtenz aufs Spiel
zu ſetzen, die ungeheure Macht Rußland bekriegen
könnte, das ſollte das ferne kleine Japan wagen.
Vergeblich ſuchte man in der Geſchichte nach einem
Gleichnis, um das Seltſame und Merkwürdige,
was ſich vorbereitete, hinſichtlich ſeiner phyſiſchen
Durchführbarkeit zu prüfen; etwas phänomenales,
noch nie dageweſenes ſtand im Begriffe ſich zu
entwickeln, ein Krieg, der nur mit der völligen
Zertrümmerung des exotiſchen Reiches enden mußte,
weil Europa, ja die ganze Welt zu umgarnt und
unterdrückt waren von der Legende der militäriſchen
Größe und Macht, der Unbeſiegbarkeit Rußlands.

Als aber kaum achtundvierzig Stunden nach
Überreichung der letzten japaniſchen Note der Mi-
kado die Inſtrumente ſeiner Politik wechſelte und
die Schiffsgeſchütze dröhnend den Beginn der Feind-
ſeligkeiten kündeten, hatte die Diplomatie, hatte die
Öffentlichkeit allen Grund, aufzuhorchen; denn das
Unmögliche wurde zur Tat, das Unausdenkbare
zum Geſchehnis. In kürzeſter Friſt waren zwei
ruſſiſche Kreuzer in den Grund gebohrt, drei
Panzerſchiffe waren ſehr ſchwer beſchädigt, der
[Spaltenumbruch] Reſt der ruſſiſchen Flotte in Port Arthur
blockiert, auf Korea japaniſche Truppen gelandet,
alles Ereigniſſe, die auf Europa wie ein elektriſcher
Schlag wirkten und die Konturen des gigantiſchen
Kampfes erkennen ließen, der nun in Oſtaſien ent-
brannt war. Aber ſo groß auch das Erſtaunen an-
geſichts der japaniſchen Erfolge zur See war und
man in Rußland ſelbſt den niederſchmetternden
Eindruck der Kataſtrophe nachhaltig empfand, waren
es doch in erſter Linie die ruſſiſchen Machtmittel
zu Lande, welche die Furcht von der Schlagkraft
Rußlands gezeitigt hatten. Die Armee aber ſtand,
wie man in Petersburg behauptete, ſchlagfertig in
der Mandſchurei. Von ihr erwartete man die Re-
habilitierung des Mißgeſchickes zur See, von ihr
erhoffte man, daß ſie in raſchen Schlägen den ver-
meſſenen Aſiaten zur Raiſon bringen werde. Da
erfolgte die erſte Landſchlacht am Jalu, die mit
einer vernichtenden Niederlage der Ruſſen endete
und für die nichtruſſiſche Welt die beſondere Be-
deutung hatte, daß in der Schlacht mit einem Rucke
die Kuliſſen verſchoben wurden, hinter denen Ruß-
land ſein Geſpenſterweſen mit ſeiner militäriſchen
Macht uud Größe trieb. Nun wurde es klar, daß
Rußland gänzlich unvorbereitet den Krieg provoziert
hatte und daß es erſt im Begriffe ſtand, ſeine
Armee zu ſammeln und zu organiſieren. Und indem
es daran ſchritt, dieſe Verſäumniſſe nachzuholen,
mußte es auch notgedrungen alle Türen und
Fenſter ſeiner inneren Verwaltung der Öffentlichkeit
preisgeben.

Das Bild der Verwahrloſung, der
Zerrüttung, ja der Fäulnis, das da zum Vorſchein
kam, iſt noch in aller Erinnerung. Entrüſtung, aber
auch innere Beſchämung, daß man ſich vor einem
ſolchen Zerrbild der Macht, vor ſolcher Korruption
faſt ein Jahrhundert hindurch mit Angſt und Furcht
gequält hatte, erfüllte Eurropa. Am Kriegstheater
aber ſchritt das Verhängnis weiter. Mit einem
[Spaltenumbruch] Rieſenaufwand an Geld und Gut, hinweg über
grenzenloſes Menſchenelen, ſetzte Rußland alle ſeine
unermeßlichen Hilfsquellen ein, um das Geſchick zu
ſeinen Gunſten zu wenden, den Sieg an ſeine
Fahnen zu knüpfen. Aber umſonſt. Wie fluchbeladen
blieb Rußland in allen ſeinen Unternehmungen den
tapferen Japanern gegenüber im Nachteile, die in
einer Reihe glänzender Siege das Phantom der
ruſſiſchen Unbeſiegbarkeit gründlich zerſtörten. Noch
liegt zwar Rußland militäriſch erſchöpft nicht zu
Boden. Mit der äußerſten Anſtrengung verſucht es,
das verlorene Schlachtenglück zu finden, das arg
zerrüttete Weltpreſtige wieder aufzurichten; aber es
ſcheint doch, als hätte der oſtaſiatiſche Krieg, der
Kampf gegen Japan, bereits am längſten gedauert;
denn der Donner und Blitz, der die ruſſiſche Armee
vom Jalu bis zum Hunho zurückwarf, der die Flotte
des Zaren in den Meeresgrund verſenkte, der das
Bollwerk des Moskowitentums in Oſtaſien, Port
Arthur, in Trümmer ſchoß, dieſer Donner hat im
Schoße des geknechteten ruſſiſchen Volkes einen
Widerhall gefunden, der dem Zarentum gefährlicher
merden kanu, als die japaniſche Armee. Ein Krieg,
entſetzlicher in ſeiner Abart als der männermordende
der Schlachten, wälzt ſich als ungeheures Schrecknis
vor den Toren Rußlands, nach Rache und Ver-
geltung heiſchend für den Verluſt der Flotte und
die ſchmählich erlittenen Niederlagen. Wie wird
dieſer innere Krieg enden? So ſind Japans herr-
liche Siege auf dem Wege, grundſtürzend in das
Geſchick des ruſſiſchen Volkes, in das der geſitteten
Menſchheit einzugreifen und der Welt eine Phy-
ſiognomie zu geben, die wohl alle Kombinationen
weit überholt, die man vor Ausbruch des Krieges
an dieſen knüpfte. In Oſtaſien wird eine neue Welt
entſtehen, in Europa eine alte, morſche untergehen;
das iſt die Bilanz der einjährigen Dauer des noch
unausgerungenen oſtaſiatiſchen Krieges.




[Spaltenumbruch]
Ein Opfer.
Erzählung von F. Arnefeldt.

35 (Nachdruck verboten)

„Sie haben geurteilt, wie Menſchen zu urteilen
vermochten“, ſagte er. Es waren die erſten Worte,
die er ſprach und er brachte ſie nur langſam und
mit Anſtrengung hervor, aber im Reden ward ſeine
Bruſt freier, feſter fügte er hinzu: „Der Schein
war vollkommen gegen mich“.

„Und der einzige Menſch, der dieſen Schein
zu zerſtören vermochte, ſprach nicht“, bemerkte einer
der anderen Herren.

„Sie ſelbſt, Herr Pfarrer, wußten, wer der
Mörder war und ſchwiegen.“

Jetzt erſt ward Hellborn totenbleich und zitterte.
„Auch das hat der Unglückliche bekannt?“ ſtam-
melte er.

„Wir bewundern Ihren Heroismus, der Sie
auch angeſichts eines ſo ſchmählichen Todes das
Beichtgeheimnis wahren ließ.“

„O nein, nein“, wehrte Hellborn. Da trat der
Gefängnis-Geiſtliche, der mit den Herren vom Ge-
richt gekommen war, an ihn heran und ſagte:

„Sie haben getan nach den Worten der Schrift,
mein Bruder: Sei getreu bis an den Tod, ſo will
ich Dir die Krone des Lebens geben.“

Da ſchrie Hellborn auf.

„Nein, nein, keine Krone, ich bin ein großer
Sünder vor dem Herrn und nicht wert, am Altare
ſeines Dienſtes zu walten.“

„Das zu entſcheiden ſteht unſerem Oberen zu“,
[Spaltenumbruch] erwiderte der Prieſter ernſt, „ich folge nur der mir
zugegangenen Weiſung und führe Sie wieder in
das Pfarrhaus, das bis jetzt noch von keinem
Nachfolger in Ihrem Amte bezogen iſt.“

„Ich gehorche und werde dort erwarten, was
über mich beſtimmt wird“, erwiderte Hellborn.

Nach Erledigung der notwendigen Formali-
täten war er frei wie die Luft, die ihn umgab,
und doch in ſeinem Herzen feſt gebunden. Seine
Seele ſchmachtete nach einer Erlöſung aus dem
Banne der Sündenſchuld, die er als abtrünniger
Prieſter auf ſich geladen hatte.

Wenige Stunden ſpäter kniete er in der St.
Annenkapelle vor demſelben Beichtſtuhl, vor welchem
ihm Colombier das erſchütternde Bekenntnis abgelegt
hatte, und entlaſtete ſeine ſchwer bedrückte Bruſt in
einer langen, ausführlichen Beichte.

Der Prieſter, der ſie vernahm, war beinahe
ebenſo erſchüttert wie der Beichtende ſelbſt. Er
ſprach ihn nicht los, ſondern forderte ihn auf, ſein
Lebensgeſchick und ſeine Sünden wider die Würde
des geweihten Prieſters ſeinen Vorgeſetzten zu offen-
baren. Dann ſprach er zu ihm die Worte:

„Baue auf die Barmherzigkeit Gottes, ſie iſt
ſehr groß und hat ſich ſchon herrlich an Dir
bewährt. Er wollte nicht Deinen Tod, ſondern daß
Du lebeſt und ihm dieneſt.“

Hellborn ſetzte ſofort das Bekenntnis auf und
ſandte es ab, dann aber rüſtete er ſich zu einem
ſchweren Gange; er wollte Veronikas Grab beſuchen
und die Verzeihung der armen Muttek erflehen,
deren Tochter er in den Tod geführt. War auch
jede wirkliche Schuld an dem Morde von ihm
[Spaltenumbruch] genommen, er ſelbſt konnte ſich nicht von dem
Vorwurfe frei machen, daß die Tote ein Opfer
ſeiner Sünde geworden war.

Ehe er ſeinen Vorſatz ausführen konnte, wurde
er durch einen Beſuch überraſcht. Der Freiherr
Edgar von Schönwalde trat bei ihm ein.

Edgar hatte einige Tage in Berlin zubringen
müſſen, ehe es ihm gelungen war, die erbetene
Audienz beim Könige zu erhalten; der Monarch
hatte ihn huldvoll angehört und ihm verheißen,
daß er ſehr genauen Bericht über den ihn im hohen
Grade intereſſierenden Fall einfordern und wenn
irgend möglich, Gnade walten laſſen wolle.

Mit dieſem Beſcheide war Edgar zurückgekehrt
und hier hatte ihn die ſchier unglaublich klingende
Nachricht empfangen, Hellborn ſei ſoeben freigelaſſen,
weil ſeine Unſchuld entdeckt ſei durch das Geſtänd-
nis, das der wahre Mörder, Colombier, in ſeiner
Todesſtunde abgelegt hatte.

„Colombier!“ rief Edgar, als Klotilde ihm in
der tiefſten Zerknirſchung dieſe Mitteilung machte,
„und niemand hatte den leiſeſten Verdacht auf
dieſen Menſchen!“

„Doch einer, Viktor“, ſagte Klotilde. „Er
ging nach England, um ihn zu einem Geſtändnis
zu bewegen, und kam noch zur rechten Zeit, es
noch von ſeinem ſterbenden Munde zu vernehmen.“

„Eine ergreifende Fügung“, ſtammelte Edgar,
„hat Dir Viktor das geſchrieben?“

„Ja“, ſagte Klotilde mit einem Seufzer.

„Woher konnte Viktor das wiſſen?“

„Darüber ſpricht er ſich nicht aus. Ach,
Edgar, auch hier liegt ein Geheimnis, und es


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[[1]/0001] Marburger Zeitung. Der Preis des Blattes beträgt: Für Marburg: Ganzjährig 12 K. halbjährig 6 K, vierteljährig 3 K, monat- lich 1 K. Bei Zuſtellung ins Haus monatlich 20 h mehr. Mit Poſtverſendung: Ganzjährig 14 K, halbjährig 7 K, vierteljährig 3 K 50 h. Das Abonnement dauert bis zur ſchriftlichen Abbeſtellung. Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag abends. Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von 11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4. Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon-Nr. 24.) Einſchaltungen werden im Verlage des Blattes und von allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen. Inſeratenpreis: Für die 5mal geſpaltene Zeile 12 h, bei Wiederholung bedeut. Nachlaß. Schluß für Einſchaltungen Dienstag, Donnerstag, Samstag mittags. Manuſkripte werden nicht zurückgegeben. Die Einzelnnummer koſtet 10 h. Nr. 19 Samstag, 11. Februar 1905 44. Jahrgang. Über ein Jahr! Vorgeſtern war es gerade ein Jahr, ſeitdem das gewaltige Ringen zwiſchen Rußland, dem großen Slavenſtaate, und Japan, dem aufſtrebenden kleinen Reiche des Mikado, ſeinen donnernden Anfang nahm. Damals mußte die Kulturwelt wohl annehmen, daß das kleine Japan ſeine Kühnheit bald werde bitter büßen müſſen. Zu herausfordernd ſchien der Waffenappell des Mikado, nachdem ſelbſt ein Napoleon und ſpäter in der Krim, ſich faſt ganz Europa in einem Angriffskriege gegen Rußland verblutet hatte, ohne den Koloß in ſeinen Fundamenten erſchüttern zu können. Was alſo für Europa zu einer faſt unaus- denkbaren Vorſtellung geworden war, daß irgend ein Staat der Erde, ohne ſeine Exiſtenz aufs Spiel zu ſetzen, die ungeheure Macht Rußland bekriegen könnte, das ſollte das ferne kleine Japan wagen. Vergeblich ſuchte man in der Geſchichte nach einem Gleichnis, um das Seltſame und Merkwürdige, was ſich vorbereitete, hinſichtlich ſeiner phyſiſchen Durchführbarkeit zu prüfen; etwas phänomenales, noch nie dageweſenes ſtand im Begriffe ſich zu entwickeln, ein Krieg, der nur mit der völligen Zertrümmerung des exotiſchen Reiches enden mußte, weil Europa, ja die ganze Welt zu umgarnt und unterdrückt waren von der Legende der militäriſchen Größe und Macht, der Unbeſiegbarkeit Rußlands. Als aber kaum achtundvierzig Stunden nach Überreichung der letzten japaniſchen Note der Mi- kado die Inſtrumente ſeiner Politik wechſelte und die Schiffsgeſchütze dröhnend den Beginn der Feind- ſeligkeiten kündeten, hatte die Diplomatie, hatte die Öffentlichkeit allen Grund, aufzuhorchen; denn das Unmögliche wurde zur Tat, das Unausdenkbare zum Geſchehnis. In kürzeſter Friſt waren zwei ruſſiſche Kreuzer in den Grund gebohrt, drei Panzerſchiffe waren ſehr ſchwer beſchädigt, der Reſt der ruſſiſchen Flotte in Port Arthur blockiert, auf Korea japaniſche Truppen gelandet, alles Ereigniſſe, die auf Europa wie ein elektriſcher Schlag wirkten und die Konturen des gigantiſchen Kampfes erkennen ließen, der nun in Oſtaſien ent- brannt war. Aber ſo groß auch das Erſtaunen an- geſichts der japaniſchen Erfolge zur See war und man in Rußland ſelbſt den niederſchmetternden Eindruck der Kataſtrophe nachhaltig empfand, waren es doch in erſter Linie die ruſſiſchen Machtmittel zu Lande, welche die Furcht von der Schlagkraft Rußlands gezeitigt hatten. Die Armee aber ſtand, wie man in Petersburg behauptete, ſchlagfertig in der Mandſchurei. Von ihr erwartete man die Re- habilitierung des Mißgeſchickes zur See, von ihr erhoffte man, daß ſie in raſchen Schlägen den ver- meſſenen Aſiaten zur Raiſon bringen werde. Da erfolgte die erſte Landſchlacht am Jalu, die mit einer vernichtenden Niederlage der Ruſſen endete und für die nichtruſſiſche Welt die beſondere Be- deutung hatte, daß in der Schlacht mit einem Rucke die Kuliſſen verſchoben wurden, hinter denen Ruß- land ſein Geſpenſterweſen mit ſeiner militäriſchen Macht uud Größe trieb. Nun wurde es klar, daß Rußland gänzlich unvorbereitet den Krieg provoziert hatte und daß es erſt im Begriffe ſtand, ſeine Armee zu ſammeln und zu organiſieren. Und indem es daran ſchritt, dieſe Verſäumniſſe nachzuholen, mußte es auch notgedrungen alle Türen und Fenſter ſeiner inneren Verwaltung der Öffentlichkeit preisgeben. Das Bild der Verwahrloſung, der Zerrüttung, ja der Fäulnis, das da zum Vorſchein kam, iſt noch in aller Erinnerung. Entrüſtung, aber auch innere Beſchämung, daß man ſich vor einem ſolchen Zerrbild der Macht, vor ſolcher Korruption faſt ein Jahrhundert hindurch mit Angſt und Furcht gequält hatte, erfüllte Eurropa. Am Kriegstheater aber ſchritt das Verhängnis weiter. Mit einem Rieſenaufwand an Geld und Gut, hinweg über grenzenloſes Menſchenelen, ſetzte Rußland alle ſeine unermeßlichen Hilfsquellen ein, um das Geſchick zu ſeinen Gunſten zu wenden, den Sieg an ſeine Fahnen zu knüpfen. Aber umſonſt. Wie fluchbeladen blieb Rußland in allen ſeinen Unternehmungen den tapferen Japanern gegenüber im Nachteile, die in einer Reihe glänzender Siege das Phantom der ruſſiſchen Unbeſiegbarkeit gründlich zerſtörten. Noch liegt zwar Rußland militäriſch erſchöpft nicht zu Boden. Mit der äußerſten Anſtrengung verſucht es, das verlorene Schlachtenglück zu finden, das arg zerrüttete Weltpreſtige wieder aufzurichten; aber es ſcheint doch, als hätte der oſtaſiatiſche Krieg, der Kampf gegen Japan, bereits am längſten gedauert; denn der Donner und Blitz, der die ruſſiſche Armee vom Jalu bis zum Hunho zurückwarf, der die Flotte des Zaren in den Meeresgrund verſenkte, der das Bollwerk des Moskowitentums in Oſtaſien, Port Arthur, in Trümmer ſchoß, dieſer Donner hat im Schoße des geknechteten ruſſiſchen Volkes einen Widerhall gefunden, der dem Zarentum gefährlicher merden kanu, als die japaniſche Armee. Ein Krieg, entſetzlicher in ſeiner Abart als der männermordende der Schlachten, wälzt ſich als ungeheures Schrecknis vor den Toren Rußlands, nach Rache und Ver- geltung heiſchend für den Verluſt der Flotte und die ſchmählich erlittenen Niederlagen. Wie wird dieſer innere Krieg enden? So ſind Japans herr- liche Siege auf dem Wege, grundſtürzend in das Geſchick des ruſſiſchen Volkes, in das der geſitteten Menſchheit einzugreifen und der Welt eine Phy- ſiognomie zu geben, die wohl alle Kombinationen weit überholt, die man vor Ausbruch des Krieges an dieſen knüpfte. In Oſtaſien wird eine neue Welt entſtehen, in Europa eine alte, morſche untergehen; das iſt die Bilanz der einjährigen Dauer des noch unausgerungenen oſtaſiatiſchen Krieges. Ein Opfer. Erzählung von F. Arnefeldt. 35 (Nachdruck verboten) „Sie haben geurteilt, wie Menſchen zu urteilen vermochten“, ſagte er. Es waren die erſten Worte, die er ſprach und er brachte ſie nur langſam und mit Anſtrengung hervor, aber im Reden ward ſeine Bruſt freier, feſter fügte er hinzu: „Der Schein war vollkommen gegen mich“. „Und der einzige Menſch, der dieſen Schein zu zerſtören vermochte, ſprach nicht“, bemerkte einer der anderen Herren. „Sie ſelbſt, Herr Pfarrer, wußten, wer der Mörder war und ſchwiegen.“ Jetzt erſt ward Hellborn totenbleich und zitterte. „Auch das hat der Unglückliche bekannt?“ ſtam- melte er. „Wir bewundern Ihren Heroismus, der Sie auch angeſichts eines ſo ſchmählichen Todes das Beichtgeheimnis wahren ließ.“ „O nein, nein“, wehrte Hellborn. Da trat der Gefängnis-Geiſtliche, der mit den Herren vom Ge- richt gekommen war, an ihn heran und ſagte: „Sie haben getan nach den Worten der Schrift, mein Bruder: Sei getreu bis an den Tod, ſo will ich Dir die Krone des Lebens geben.“ Da ſchrie Hellborn auf. „Nein, nein, keine Krone, ich bin ein großer Sünder vor dem Herrn und nicht wert, am Altare ſeines Dienſtes zu walten.“ „Das zu entſcheiden ſteht unſerem Oberen zu“, erwiderte der Prieſter ernſt, „ich folge nur der mir zugegangenen Weiſung und führe Sie wieder in das Pfarrhaus, das bis jetzt noch von keinem Nachfolger in Ihrem Amte bezogen iſt.“ „Ich gehorche und werde dort erwarten, was über mich beſtimmt wird“, erwiderte Hellborn. Nach Erledigung der notwendigen Formali- täten war er frei wie die Luft, die ihn umgab, und doch in ſeinem Herzen feſt gebunden. Seine Seele ſchmachtete nach einer Erlöſung aus dem Banne der Sündenſchuld, die er als abtrünniger Prieſter auf ſich geladen hatte. Wenige Stunden ſpäter kniete er in der St. Annenkapelle vor demſelben Beichtſtuhl, vor welchem ihm Colombier das erſchütternde Bekenntnis abgelegt hatte, und entlaſtete ſeine ſchwer bedrückte Bruſt in einer langen, ausführlichen Beichte. Der Prieſter, der ſie vernahm, war beinahe ebenſo erſchüttert wie der Beichtende ſelbſt. Er ſprach ihn nicht los, ſondern forderte ihn auf, ſein Lebensgeſchick und ſeine Sünden wider die Würde des geweihten Prieſters ſeinen Vorgeſetzten zu offen- baren. Dann ſprach er zu ihm die Worte: „Baue auf die Barmherzigkeit Gottes, ſie iſt ſehr groß und hat ſich ſchon herrlich an Dir bewährt. Er wollte nicht Deinen Tod, ſondern daß Du lebeſt und ihm dieneſt.“ Hellborn ſetzte ſofort das Bekenntnis auf und ſandte es ab, dann aber rüſtete er ſich zu einem ſchweren Gange; er wollte Veronikas Grab beſuchen und die Verzeihung der armen Muttek erflehen, deren Tochter er in den Tod geführt. War auch jede wirkliche Schuld an dem Morde von ihm genommen, er ſelbſt konnte ſich nicht von dem Vorwurfe frei machen, daß die Tote ein Opfer ſeiner Sünde geworden war. Ehe er ſeinen Vorſatz ausführen konnte, wurde er durch einen Beſuch überraſcht. Der Freiherr Edgar von Schönwalde trat bei ihm ein. Edgar hatte einige Tage in Berlin zubringen müſſen, ehe es ihm gelungen war, die erbetene Audienz beim Könige zu erhalten; der Monarch hatte ihn huldvoll angehört und ihm verheißen, daß er ſehr genauen Bericht über den ihn im hohen Grade intereſſierenden Fall einfordern und wenn irgend möglich, Gnade walten laſſen wolle. Mit dieſem Beſcheide war Edgar zurückgekehrt und hier hatte ihn die ſchier unglaublich klingende Nachricht empfangen, Hellborn ſei ſoeben freigelaſſen, weil ſeine Unſchuld entdeckt ſei durch das Geſtänd- nis, das der wahre Mörder, Colombier, in ſeiner Todesſtunde abgelegt hatte. „Colombier!“ rief Edgar, als Klotilde ihm in der tiefſten Zerknirſchung dieſe Mitteilung machte, „und niemand hatte den leiſeſten Verdacht auf dieſen Menſchen!“ „Doch einer, Viktor“, ſagte Klotilde. „Er ging nach England, um ihn zu einem Geſtändnis zu bewegen, und kam noch zur rechten Zeit, es noch von ſeinem ſterbenden Munde zu vernehmen.“ „Eine ergreifende Fügung“, ſtammelte Edgar, „hat Dir Viktor das geſchrieben?“ „Ja“, ſagte Klotilde mit einem Seufzer. „Woher konnte Viktor das wiſſen?“ „Darüber ſpricht er ſich nicht aus. Ach, Edgar, auch hier liegt ein Geheimnis, und es

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Benjamin Fiechter, Susanne Haaf: Bereitstellung der digitalen Textausgabe (Konvertierung in das DTA-Basisformat). (2018-01-26T13:38:42Z)
grepect GmbH: Bereitstellung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Marburger Zeitung. Nr. 19, Marburg, 11.02.1905, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_marburger19_1905/1>, abgerufen am 28.03.2024.