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Mährisches Tagblatt. Nr. 296, Olmütz, 29.12.1893.

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den brutalen Vorgang in der letzten Landtags-
sitzung aufgehalten wurde, von maßgebender Be-
deutung. In der practischen Anwendung unseres
Anschlusses an das Coalitionssystem wird es
gelegen sein, daß wir zunächst davon absehen,
die Durchführung der nationalen Abgrenzung
insbesondere in dieser Landtagssession zu be-
treiben, sondern uns damit bescheiden, die Er-
ledigung dieser Frage auf eine günstigere Zeit
zu vertagen. Von einem Aufgeben dieses unseres
wesentlichen nationalen Anliegens kann und darf
keine Rede sein, weil dasselbe -- abgesehen von
seiner Verbriefung im Ausgleiche -- zu unseren
obersten Parteigrundsätzen gehört. Nur einen
Aufschub bezwecken wir, um nicht durch ein un-
zeitiges Aufrollen jener engeren Parteifrage den
Bestand und das Einleben der Coalitions-Re-
gierung, kaum daß diese ihre Thätigkeit begonnen,
wieder in Frage zu stellen. Wir dürfen umso
zuversichtlicher diesen Weg einschlagen als dem
nun berufenen Ministerium ein Mann angehört,
welcher ein langjähriges Mitglied unseres Clubs
und Vorstand im Club der Vereinigten Deutschen
Linken gewesen ist, ein Mann, der durch seine
weise Führerschaft, durch seine bethätigte Opfer-
willigkeit und seine volle Hingabe an unsere
Sache den Anspruch auf unser unbegrenztes Ver-
trauen erworben hat und nicht zugeben wird,
daß unsere nationalen und politischen Interessen
durch das Vorgehen der Regierung Abbruch leiden.
Nur kurze Zeit sind die neuen Männer im Amte
und schon läßt es sich empfinden, daß ein frischer
lebendiger Zug durch die Behandlung der öffent-
lichen Angelegenheiten geht und das parlamen-
tarische Leben die längst vermißte Würde und
das verlorene Ansehen wieder zu gewinnen be-
ginnt. Darum wollen wir guten Muthes der
Zukunft entgegenblicken und an unsere Arbeit im
Landtage schreiten im Vertrauen darauf, daß
uns eine bessere Zeit beschieden ist.

Dr. Schmeykal beantragt hierauf fol-
gende Erklärung: Der Club der deutschen
Landtagsabgeordneten erklärt, seine volle Zu-
stimmung zu der Coalition der drei
großen Parteien des Abgeordneten-
hauses
und begrüßt vertrauensvollst
die Bildung des neuen Ministeriums
unter vollinhaltlicher Billigung des kundgegebenen
Programms und gleichzeitiger Wahrung der be-
kannten Parteigrundsätze des deutschen Volkes in
Böhmen mit der Zusicherung der Bereitwilligkeit
in seinem landtäglichen Wirken die neue Regie-
rung grundsätzlich zu unterstützen und zu för-
dern. Der Club der deutschen Landtagsabgeord-
neten begrüßt insbesondere mit ungetheilter
Freude die Berufung seines langjährigen verehr-
ten Clubmitgliedes Dr. v. Plener in den Kreis
der Regierung und versichert ihn seines unwan-
delbaren Vertrauens und treuester Anhänglichkeit.
Nachdem sich die Abgeordneten Ruß, Hallwich,
Schlesinger, Bendel und Schücker für diese Kund-
gebung ausgesprochen hatten, wurde dieselbe ein-
[Spaltenumbruch] hellig
unter großen Beifalle zum Beschlusse
erhoben.




Das allgemeine Wahlrecht.


Die heutige Nummer der Wiener Wochen-
schrift "Neue Revue" bringt aus einem Gespräche
eines ihrer Mitarbeiter mit Prof. Anton
Menger
folgende bemerkenswerthe Aeußerungen
des hervorragenden Juristen und Socialpolitikers
über das allgemeine Wahlrecht.

"Ich bin," sagte Professor Anton Menger,
"für das allgemeine, directe und gleiche Wahl-
recht. Ich halte die Einführung desselben für
eine conservative Maßregel, wie es denn auch in
vielen Ländern, z. B. in Deutschland und Bel-
gien, von conservativen Staatsmännern vor-
geschlagen und durchgeführt worden ist. Nur muß
man freilich unter einer conservativen Politik
nicht diejenigen Maßnahmen verstehen, welche
die Interessen der begünstigten Volksclassen für
den Augenblick fördern, sondern jene, die eine
ruhige Entwicklung der Gesellschaft für die
Dau[e]r gewährleisten. Es kommt sehr häufig vor,
daß ein geschichtliches Ereigniß, welches vom
Standpunkte der vorübergehenden Interessen ein-
zelner Gesellschaftskreise als eine conservative
Maßregel erscheint, für die Dauer auf Staat
und Gesellschaft geradezu revolutionirend wirkt.
Bekanntlich wollte Turgot beim Beginne der
Regierung Ludwig XVI. fast das ganze Pro-
gramm der großen Revolution: die Abschaffung
der Feudalrechte, des Zunftzwanges und der
Steuerprivilegien des Adels und der Geistlichkeit,
die Freiheit des Gewissens und der Presse
u. s. w. auf friedlichem Wege verwirklichen. Ob-
gleich es sich hier um conservative Maßregeln
im wahren Sinne dieses Wortes handelte, lei-
steten doch die bevorrechteten Gesellschaftsclassen,
weil sie für den Augenblick erhebliche Opfer
bringen sollten, energischen Widerstand, und als
Turgot im Jahre 1776 fiel, wurde sein Sturz
als ein Sieg der conservativen Ideen gefeiert.
Wenige Jahre später wurde das Programm
Turgot's von der Revolution unter ungeheuern
Opfern, gerade der bevorrechten Stände, ver-
wirklicht. Turgot war eben ein wahrhaft con-
servativer Staatsmann, das heißt: ein Staats-
mann, der auch vor großen Umwälzungen nicht
zurückscheut, wenn es gilt, die ruhige Ent-
wicklung von Staat und Gesellschaft zu sichern."

"Man könnte einwenden," fuhr Professor
Menger fort, "daß durch das allgemeine Wahl-
recht doch unzweifelhaft revolutionäre Elemente
ins Parlament gelangen dürften. Aber die Ar-
beiterclasse ist im allgemeinen infolge ihrer
wirthschaftlichen Situation keineswegs zu Re-
volutionen geneigt. Denn derjenige Stand, wel-
cher bei großen Bewegungen am meisten leidet
und zuerst auf die Straße geworfen wird, ist
eben der Arbeiterstand. Daß diese Ansichten
[Spaltenumbruch] richtig sind, zeigt ein Blick auf die Geschichte
Fast alle Revolutionen wurden von jenen
Ständen gemacht, welche bei einer Bewegung
nur einen Theil ihrer wirthschaftlichen Existenz
aufs Spiel setzen, also vom Adels, Bürger- und
Bauernstand. Bis vor hundert Jahren gingen
die meisten Umwälzungen vom Adel aus, an
dessen Stelle seither das städtische Bürgerthum
getreten ist. Selbst die zwei größeren Revolu-
tionen des Arbeiterstandes, wel[ch]e in dem letzten
Jahrhundert stattgefunden haben; die Junischlacht
des Jahres 1848 und der Communeaufstand im
Jahre 1871 waren bloß Folgeerscheinungen
von Umwälzungen, die der Mittelstand her-
beigeführt hatte. Ich weiß nun wohl, daß ein
namhafter Theil der arbeitenden Classen gegen-
wärtig thatsächlich revolutionär gefinnt ist, doch
kann eine einsichtige Staatskunst ohne große
Schwierigkeiten revolutionäre Ausbrüche verhüten.
Wenn die Arbeiter heute unzufrieden sind, so
darf man eben nicht vergessen, daß unsere gegen-
wärtige Staatsordnung ohne ihr Votum zu-
stande gekommen ist, und daß, um sie zu be-
ruhigen, sehr viele und ernste Reformen unerläß-
lich sind. Wenn die bestehenden Einrichtungen
stetig und ohne Unterbrechung zu Gunsten der
unteren Volksclassen reformirt würden, so dürfte
diese Umgestaltung gewiß nicht durch revolutio-
näre Ausbrüche gestört werden.

"Noch könnte man darauf hinweisen, daß
zunächst doch schon die agitatorische Wirkung der
Reden, welche die Arbeiterabgeordneten unter dem
Schutze der Immunität halten werden, den revo-
lutionären Sinn steigern müßten. Mit mehr
Recht könnte man aber antworten, daß gerade
die Mitwirkung an der Gesetzgebung und Ver-
waltung die Arbeiter lehrt, wie schwer es ist,
der Trägheit und Selbstsucht weiter Volkskreise
auch nur mäßige Reformen abzuringen. Wird
doch jedem, der auf dem Gebiete der Wissenschaft,
Kunst oder Politik arbeitet, sofort der vulgäre
Satz zum Bewußtsein gebracht, daß die Kritik
leicht, das Bessermachen schwer ist. Der verhält-
nißmäßig ruhige Verlauf der socialen Bewegung
in dem letzten Jahrzehnt ist hauptsächlich auf den
Umstand zurückzuführen, daß in Deutschland und
Frankreich immer mehr politische Talente, an
welchen es dem Arbeiterstande nicht mangelt, in
die Gesetzgebung und Verwaltung eintreten.

"Wenn man glaubt, die Wahlrechtsfrage
durch Hinzufügung von einer oder zwei Prole-
tarier-Curien zu den bestehenden Curien des Ab-
geordnetenhauses zu lösen, so darf man doch nicht
übersehen, daß die Begründung von gesonderten
Curien der unbemittelten Volksmassen die ohne-
dieß schon scharfen socialen Gegensätze noch mehr
verschärfen muß. Vielleicht werden manche, welche
die Frage bloß mit Rücksicht auf den politischen
Besitzstand und die Zahl der Deputirtenmandate
beurtheilen, durch die Wirkung der vorgeschlagenen
Maßregeln unangenehm enttäuscht werden. Jeden-
falls aber wird durch die Arbeitercurien eine




[Spaltenumbruch]

Kreuzer flehte. Von den bleichen Lippen des
alten Bettlers tönte ein monotones: "Ein
armer, blinder Mann bittet um eine milde
Gabe!"

Es war die flehende Demuth der Gewohn-
heit, es war nicht die Verzweiflung der momen-
tanen Noth, aber so unendlich traurig, so schmerz-
voll, daß es mich innerlichst rührte. Armuth!
Noth! Ihr düsteren Quäler der Menschheit, Ihr
Würgesatane der schönsten Hoffnungen, Ihr harten,
rauhen Despoten, wann wird Euch der Menschen-
zorn entthronen, wann wirst Du hinsinken, ge-
troffen vom empörten Schwerte der Gerechtigkeit,
Du häßlicher, grinsender Tyrann? Wo erwächst
die Faust, die Dir die grimmen Zähne aus dem
Rachen reißt?? Der blinde Bettler stand da,
wie ein stummer Ankläger der Menschheit, die
an ihm, geputzt und nach Parfums duftend,
vorüberwogte. Manch mitleidiger Cavalier, manch
weichherziges Mädchen legte eine Münze in seine
Hand, die er mir nun entgegenstreckte. Ich stand
vor ihm, aber er sah mich nicht, am Tritte nur
hörte er, daß jemand nahe sei. Zitternd lehnte
er, die Krücken fortgelegt, schwach und alt und
von seinem zahnlosen Munde kam unausgesetzt
im Gebettone: "Ein armer, blinder Mann bittet
um eine milde Gabe!"

Ich zog meine Börse, aber einem schnellen
Gedanken folgend, preßte ich in seine trockene
Hand eine meiner schönen, reifen Rosen. Die
[Spaltenumbruch] feinfühlende Hand des Blinden drückte sich zu-
sammen, über sein Gesicht wolkte ein gequälter
Zorn, er dachte, irgend ein Uebermüthiger wolle
ihn necken. Aber der berauschende Duft der Rose
sagte ihm, daß es ein schönes Geschenk sei. Er
führte sie zum Gesichte, auf dem ein wehmüthiges
Lächeln erschien. Er sah sie nicht in ihrer Schön-
heit, aber ihr Duft erquickte ihn. Laut stammelte
er: "Dank, tausend Dank!" -- Du armer,
alter Blinder, wie lange ist es her, seit man
Dir Rosen schenkte? O, auch Du warst einst
jung und dieser wonnevolle Duft weckt in Dir
ein Erinnern an frühere Tage, an Träume, die
Dich betrogen, an Hoffnungen, die welkten, an
Lieder, die verklungen, an Farben, die verblaßt
sind! Armer Alter, wie grausam magst Du ge-
täuscht sein in allen kühnen Plänen Deiner
Jugend, wie mag Dein Herz zerstoßen worden
sein vom Hohne der kalten Welt! Du armer
Greis! Aus den blinden Augen des grauen
Bettlers rannen helle Thränen und fielen auf
die Rose nieder, wo sie glitzerten, wie herrliche
Brillanten. Da wandte ich mich zu dem Alten
und sagte ihm: "Ich bin's, der Dir die Rose
gab, blinder Mann, ich ein Elender, wie Du!
Meine Füße sind stark und jung, aber sie finden
keinen ebenen Weg, meine Augen sind jung und
hell, aber sie sehen nur fremdes Glück, meine
Ohren sind scharf, aber sie hören nur fremde
Fröhlichkeit, meine Lippen sind roth und frisch,
[Spaltenumbruch] aber der süßeste Mund verschmäht ihn, in meinem
Herzen rollt rothes Blut, pocht Treue und Leiden-
schaft, aber kein Herz schlägt ihm entgegen, ich
bin elend, wie Du! Aber, wenn Du mir danken
willst für meine Gabe, die Dich nicht satt macht,
ja die alte Schmerzen in Dir aufwühlt, so danke
mir mit einem Worte! Sprich einen Namen
aus, den ich Dir nennen werde! Sprich ihn
aus, mit all der unsäglichen Wehmuth, mit all
der flehenden Trauer, die im Tonfalle des Bettlers
liegt, sprich, daß es ein Herz erschüttern kann,
rufe wie ein Gebet den Namen: Paulla!"

Der Bettler faltete die dürren Hände und
richtete seine todten Augen zum Himmel empor
und sprach den Namen aus. Es schnitt durch
Mark und Herz. "Dank, alter Bettler! Aber
sag' es mir jetzt leise, leise in's Ohr, daß es
niemand hört, wie ich und Du! Alle Ver-
zweiflung Deiner durchweinten und durchhungerten
Nächte soll daraus tönen, aller Kummer und
Gram eines zerrissenen Herzens!"

Ich neigte mein Ohr zu seinem Munde und
er hauchte mir leise, aber so innig und herzzer-
reißend, wie nur ein Bettler es vermag, den
Namen ins Ohr. Ich hatte die Augen geschlossen:
"-- -- -- Paulla!!!"

Und die zweite Rose ihm in die zitternde
Hand drückend, stürzte ich davon, hinein in das
tollste Getriebe!




[Spaltenumbruch]

den brutalen Vorgang in der letzten Landtags-
ſitzung aufgehalten wurde, von maßgebender Be-
deutung. In der practiſchen Anwendung unſeres
Anſchluſſes an das Coalitionsſyſtem wird es
gelegen ſein, daß wir zunächſt davon abſehen,
die Durchführung der nationalen Abgrenzung
insbeſondere in dieſer Landtagsſeſſion zu be-
treiben, ſondern uns damit beſcheiden, die Er-
ledigung dieſer Frage auf eine günſtigere Zeit
zu vertagen. Von einem Aufgeben dieſes unſeres
weſentlichen nationalen Anliegens kann und darf
keine Rede ſein, weil dasſelbe — abgeſehen von
ſeiner Verbriefung im Ausgleiche — zu unſeren
oberſten Parteigrundſätzen gehört. Nur einen
Aufſchub bezwecken wir, um nicht durch ein un-
zeitiges Aufrollen jener engeren Parteifrage den
Beſtand und das Einleben der Coalitions-Re-
gierung, kaum daß dieſe ihre Thätigkeit begonnen,
wieder in Frage zu ſtellen. Wir dürfen umſo
zuverſichtlicher dieſen Weg einſchlagen als dem
nun berufenen Miniſterium ein Mann angehört,
welcher ein langjähriges Mitglied unſeres Clubs
und Vorſtand im Club der Vereinigten Deutſchen
Linken geweſen iſt, ein Mann, der durch ſeine
weiſe Führerſchaft, durch ſeine bethätigte Opfer-
willigkeit und ſeine volle Hingabe an unſere
Sache den Anſpruch auf unſer unbegrenztes Ver-
trauen erworben hat und nicht zugeben wird,
daß unſere nationalen und politiſchen Intereſſen
durch das Vorgehen der Regierung Abbruch leiden.
Nur kurze Zeit ſind die neuen Männer im Amte
und ſchon läßt es ſich empfinden, daß ein friſcher
lebendiger Zug durch die Behandlung der öffent-
lichen Angelegenheiten geht und das parlamen-
tariſche Leben die längſt vermißte Würde und
das verlorene Anſehen wieder zu gewinnen be-
ginnt. Darum wollen wir guten Muthes der
Zukunft entgegenblicken und an unſere Arbeit im
Landtage ſchreiten im Vertrauen darauf, daß
uns eine beſſere Zeit beſchieden iſt.

Dr. Schmeykal beantragt hierauf fol-
gende Erklärung: Der Club der deutſchen
Landtagsabgeordneten erklärt, ſeine volle Zu-
ſtimmung zu der Coalition der drei
großen Parteien des Abgeordneten-
hauſes
und begrüßt vertrauensvollſt
die Bildung des neuen Miniſteriums
unter vollinhaltlicher Billigung des kundgegebenen
Programms und gleichzeitiger Wahrung der be-
kannten Parteigrundſätze des deutſchen Volkes in
Böhmen mit der Zuſicherung der Bereitwilligkeit
in ſeinem landtäglichen Wirken die neue Regie-
rung grundſätzlich zu unterſtützen und zu för-
dern. Der Club der deutſchen Landtagsabgeord-
neten begrüßt insbeſondere mit ungetheilter
Freude die Berufung ſeines langjährigen verehr-
ten Clubmitgliedes Dr. v. Plener in den Kreis
der Regierung und verſichert ihn ſeines unwan-
delbaren Vertrauens und treueſter Anhänglichkeit.
Nachdem ſich die Abgeordneten Ruß, Hallwich,
Schleſinger, Bendel und Schücker für dieſe Kund-
gebung ausgeſprochen hatten, wurde dieſelbe ein-
[Spaltenumbruch] hellig
unter großen Beifalle zum Beſchluſſe
erhoben.




Das allgemeine Wahlrecht.


Die heutige Nummer der Wiener Wochen-
ſchrift „Neue Revue“ bringt aus einem Geſpräche
eines ihrer Mitarbeiter mit Prof. Anton
Menger
folgende bemerkenswerthe Aeußerungen
des hervorragenden Juriſten und Socialpolitikers
über das allgemeine Wahlrecht.

„Ich bin,“ ſagte Profeſſor Anton Menger,
„für das allgemeine, directe und gleiche Wahl-
recht. Ich halte die Einführung desſelben für
eine conſervative Maßregel, wie es denn auch in
vielen Ländern, z. B. in Deutſchland und Bel-
gien, von conſervativen Staatsmännern vor-
geſchlagen und durchgeführt worden iſt. Nur muß
man freilich unter einer conſervativen Politik
nicht diejenigen Maßnahmen verſtehen, welche
die Intereſſen der begünſtigten Volksclaſſen für
den Augenblick fördern, ſondern jene, die eine
ruhige Entwicklung der Geſellſchaft für die
Dau[e]r gewährleiſten. Es kommt ſehr häufig vor,
daß ein geſchichtliches Ereigniß, welches vom
Standpunkte der vorübergehenden Intereſſen ein-
zelner Geſellſchaftskreiſe als eine conſervative
Maßregel erſcheint, für die Dauer auf Staat
und Geſellſchaft geradezu revolutionirend wirkt.
Bekanntlich wollte Turgot beim Beginne der
Regierung Ludwig XVI. faſt das ganze Pro-
gramm der großen Revolution: die Abſchaffung
der Feudalrechte, des Zunftzwanges und der
Steuerprivilegien des Adels und der Geiſtlichkeit,
die Freiheit des Gewiſſens und der Preſſe
u. ſ. w. auf friedlichem Wege verwirklichen. Ob-
gleich es ſich hier um conſervative Maßregeln
im wahren Sinne dieſes Wortes handelte, lei-
ſteten doch die bevorrechteten Geſellſchaftsclaſſen,
weil ſie für den Augenblick erhebliche Opfer
bringen ſollten, energiſchen Widerſtand, und als
Turgot im Jahre 1776 fiel, wurde ſein Sturz
als ein Sieg der conſervativen Ideen gefeiert.
Wenige Jahre ſpäter wurde das Programm
Turgot’s von der Revolution unter ungeheuern
Opfern, gerade der bevorrechten Stände, ver-
wirklicht. Turgot war eben ein wahrhaft con-
ſervativer Staatsmann, das heißt: ein Staats-
mann, der auch vor großen Umwälzungen nicht
zurückſcheut, wenn es gilt, die ruhige Ent-
wicklung von Staat und Geſellſchaft zu ſichern.“

„Man könnte einwenden,“ fuhr Profeſſor
Menger fort, „daß durch das allgemeine Wahl-
recht doch unzweifelhaft revolutionäre Elemente
ins Parlament gelangen dürften. Aber die Ar-
beiterclaſſe iſt im allgemeinen infolge ihrer
wirthſchaftlichen Situation keineswegs zu Re-
volutionen geneigt. Denn derjenige Stand, wel-
cher bei großen Bewegungen am meiſten leidet
und zuerſt auf die Straße geworfen wird, iſt
eben der Arbeiterſtand. Daß dieſe Anſichten
[Spaltenumbruch] richtig ſind, zeigt ein Blick auf die Geſchichte
Faſt alle Revolutionen wurden von jenen
Ständen gemacht, welche bei einer Bewegung
nur einen Theil ihrer wirthſchaftlichen Exiſtenz
aufs Spiel ſetzen, alſo vom Adels, Bürger- und
Bauernſtand. Bis vor hundert Jahren gingen
die meiſten Umwälzungen vom Adel aus, an
deſſen Stelle ſeither das ſtädtiſche Bürgerthum
getreten iſt. Selbſt die zwei größeren Revolu-
tionen des Arbeiterſtandes, wel[ch]e in dem letzten
Jahrhundert ſtattgefunden haben; die Juniſchlacht
des Jahres 1848 und der Communeaufſtand im
Jahre 1871 waren bloß Folgeerſcheinungen
von Umwälzungen, die der Mittelſtand her-
beigeführt hatte. Ich weiß nun wohl, daß ein
namhafter Theil der arbeitenden Claſſen gegen-
wärtig thatſächlich revolutionär gefinnt iſt, doch
kann eine einſichtige Staatskunſt ohne große
Schwierigkeiten revolutionäre Ausbrüche verhüten.
Wenn die Arbeiter heute unzufrieden ſind, ſo
darf man eben nicht vergeſſen, daß unſere gegen-
wärtige Staatsordnung ohne ihr Votum zu-
ſtande gekommen iſt, und daß, um ſie zu be-
ruhigen, ſehr viele und ernſte Reformen unerläß-
lich ſind. Wenn die beſtehenden Einrichtungen
ſtetig und ohne Unterbrechung zu Gunſten der
unteren Volksclaſſen reformirt würden, ſo dürfte
dieſe Umgeſtaltung gewiß nicht durch revolutio-
näre Ausbrüche geſtört werden.

„Noch könnte man darauf hinweiſen, daß
zunächſt doch ſchon die agitatoriſche Wirkung der
Reden, welche die Arbeiterabgeordneten unter dem
Schutze der Immunität halten werden, den revo-
lutionären Sinn ſteigern müßten. Mit mehr
Recht könnte man aber antworten, daß gerade
die Mitwirkung an der Geſetzgebung und Ver-
waltung die Arbeiter lehrt, wie ſchwer es iſt,
der Trägheit und Selbſtſucht weiter Volkskreiſe
auch nur mäßige Reformen abzuringen. Wird
doch jedem, der auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft,
Kunſt oder Politik arbeitet, ſofort der vulgäre
Satz zum Bewußtſein gebracht, daß die Kritik
leicht, das Beſſermachen ſchwer iſt. Der verhält-
nißmäßig ruhige Verlauf der ſocialen Bewegung
in dem letzten Jahrzehnt iſt hauptſächlich auf den
Umſtand zurückzuführen, daß in Deutſchland und
Frankreich immer mehr politiſche Talente, an
welchen es dem Arbeiterſtande nicht mangelt, in
die Geſetzgebung und Verwaltung eintreten.

„Wenn man glaubt, die Wahlrechtsfrage
durch Hinzufügung von einer oder zwei Prole-
tarier-Curien zu den beſtehenden Curien des Ab-
geordnetenhauſes zu löſen, ſo darf man doch nicht
überſehen, daß die Begründung von geſonderten
Curien der unbemittelten Volksmaſſen die ohne-
dieß ſchon ſcharfen ſocialen Gegenſätze noch mehr
verſchärfen muß. Vielleicht werden manche, welche
die Frage bloß mit Rückſicht auf den politiſchen
Beſitzſtand und die Zahl der Deputirtenmandate
beurtheilen, durch die Wirkung der vorgeſchlagenen
Maßregeln unangenehm enttäuſcht werden. Jeden-
falls aber wird durch die Arbeitercurien eine




[Spaltenumbruch]

Kreuzer flehte. Von den bleichen Lippen des
alten Bettlers tönte ein monotones: „Ein
armer, blinder Mann bittet um eine milde
Gabe!“

Es war die flehende Demuth der Gewohn-
heit, es war nicht die Verzweiflung der momen-
tanen Noth, aber ſo unendlich traurig, ſo ſchmerz-
voll, daß es mich innerlichſt rührte. Armuth!
Noth! Ihr düſteren Quäler der Menſchheit, Ihr
Würgeſatane der ſchönſten Hoffnungen, Ihr harten,
rauhen Deſpoten, wann wird Euch der Menſchen-
zorn entthronen, wann wirſt Du hinſinken, ge-
troffen vom empörten Schwerte der Gerechtigkeit,
Du häßlicher, grinſender Tyrann? Wo erwächſt
die Fauſt, die Dir die grimmen Zähne aus dem
Rachen reißt?? Der blinde Bettler ſtand da,
wie ein ſtummer Ankläger der Menſchheit, die
an ihm, geputzt und nach Parfums duftend,
vorüberwogte. Manch mitleidiger Cavalier, manch
weichherziges Mädchen legte eine Münze in ſeine
Hand, die er mir nun entgegenſtreckte. Ich ſtand
vor ihm, aber er ſah mich nicht, am Tritte nur
hörte er, daß jemand nahe ſei. Zitternd lehnte
er, die Krücken fortgelegt, ſchwach und alt und
von ſeinem zahnloſen Munde kam unausgeſetzt
im Gebettone: „Ein armer, blinder Mann bittet
um eine milde Gabe!“

Ich zog meine Börſe, aber einem ſchnellen
Gedanken folgend, preßte ich in ſeine trockene
Hand eine meiner ſchönen, reifen Roſen. Die
[Spaltenumbruch] feinfühlende Hand des Blinden drückte ſich zu-
ſammen, über ſein Geſicht wolkte ein gequälter
Zorn, er dachte, irgend ein Uebermüthiger wolle
ihn necken. Aber der berauſchende Duft der Roſe
ſagte ihm, daß es ein ſchönes Geſchenk ſei. Er
führte ſie zum Geſichte, auf dem ein wehmüthiges
Lächeln erſchien. Er ſah ſie nicht in ihrer Schön-
heit, aber ihr Duft erquickte ihn. Laut ſtammelte
er: „Dank, tauſend Dank!“ — Du armer,
alter Blinder, wie lange iſt es her, ſeit man
Dir Roſen ſchenkte? O, auch Du warſt einſt
jung und dieſer wonnevolle Duft weckt in Dir
ein Erinnern an frühere Tage, an Träume, die
Dich betrogen, an Hoffnungen, die welkten, an
Lieder, die verklungen, an Farben, die verblaßt
ſind! Armer Alter, wie grauſam magſt Du ge-
täuſcht ſein in allen kühnen Plänen Deiner
Jugend, wie mag Dein Herz zerſtoßen worden
ſein vom Hohne der kalten Welt! Du armer
Greis! Aus den blinden Augen des grauen
Bettlers rannen helle Thränen und fielen auf
die Roſe nieder, wo ſie glitzerten, wie herrliche
Brillanten. Da wandte ich mich zu dem Alten
und ſagte ihm: „Ich bin’s, der Dir die Roſe
gab, blinder Mann, ich ein Elender, wie Du!
Meine Füße ſind ſtark und jung, aber ſie finden
keinen ebenen Weg, meine Augen ſind jung und
hell, aber ſie ſehen nur fremdes Glück, meine
Ohren ſind ſcharf, aber ſie hören nur fremde
Fröhlichkeit, meine Lippen ſind roth und friſch,
[Spaltenumbruch] aber der ſüßeſte Mund verſchmäht ihn, in meinem
Herzen rollt rothes Blut, pocht Treue und Leiden-
ſchaft, aber kein Herz ſchlägt ihm entgegen, ich
bin elend, wie Du! Aber, wenn Du mir danken
willſt für meine Gabe, die Dich nicht ſatt macht,
ja die alte Schmerzen in Dir aufwühlt, ſo danke
mir mit einem Worte! Sprich einen Namen
aus, den ich Dir nennen werde! Sprich ihn
aus, mit all der unſäglichen Wehmuth, mit all
der flehenden Trauer, die im Tonfalle des Bettlers
liegt, ſprich, daß es ein Herz erſchüttern kann,
rufe wie ein Gebet den Namen: Paulla!

Der Bettler faltete die dürren Hände und
richtete ſeine todten Augen zum Himmel empor
und ſprach den Namen aus. Es ſchnitt durch
Mark und Herz. „Dank, alter Bettler! Aber
ſag’ es mir jetzt leiſe, leiſe in’s Ohr, daß es
niemand hört, wie ich und Du! Alle Ver-
zweiflung Deiner durchweinten und durchhungerten
Nächte ſoll daraus tönen, aller Kummer und
Gram eines zerriſſenen Herzens!“

Ich neigte mein Ohr zu ſeinem Munde und
er hauchte mir leiſe, aber ſo innig und herzzer-
reißend, wie nur ein Bettler es vermag, den
Namen ins Ohr. Ich hatte die Augen geſchloſſen:
„— — — Paulla!!!

Und die zweite Roſe ihm in die zitternde
Hand drückend, ſtürzte ich davon, hinein in das
tollſte Getriebe!




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[[2]/0002] den brutalen Vorgang in der letzten Landtags- ſitzung aufgehalten wurde, von maßgebender Be- deutung. In der practiſchen Anwendung unſeres Anſchluſſes an das Coalitionsſyſtem wird es gelegen ſein, daß wir zunächſt davon abſehen, die Durchführung der nationalen Abgrenzung insbeſondere in dieſer Landtagsſeſſion zu be- treiben, ſondern uns damit beſcheiden, die Er- ledigung dieſer Frage auf eine günſtigere Zeit zu vertagen. Von einem Aufgeben dieſes unſeres weſentlichen nationalen Anliegens kann und darf keine Rede ſein, weil dasſelbe — abgeſehen von ſeiner Verbriefung im Ausgleiche — zu unſeren oberſten Parteigrundſätzen gehört. Nur einen Aufſchub bezwecken wir, um nicht durch ein un- zeitiges Aufrollen jener engeren Parteifrage den Beſtand und das Einleben der Coalitions-Re- gierung, kaum daß dieſe ihre Thätigkeit begonnen, wieder in Frage zu ſtellen. Wir dürfen umſo zuverſichtlicher dieſen Weg einſchlagen als dem nun berufenen Miniſterium ein Mann angehört, welcher ein langjähriges Mitglied unſeres Clubs und Vorſtand im Club der Vereinigten Deutſchen Linken geweſen iſt, ein Mann, der durch ſeine weiſe Führerſchaft, durch ſeine bethätigte Opfer- willigkeit und ſeine volle Hingabe an unſere Sache den Anſpruch auf unſer unbegrenztes Ver- trauen erworben hat und nicht zugeben wird, daß unſere nationalen und politiſchen Intereſſen durch das Vorgehen der Regierung Abbruch leiden. Nur kurze Zeit ſind die neuen Männer im Amte und ſchon läßt es ſich empfinden, daß ein friſcher lebendiger Zug durch die Behandlung der öffent- lichen Angelegenheiten geht und das parlamen- tariſche Leben die längſt vermißte Würde und das verlorene Anſehen wieder zu gewinnen be- ginnt. Darum wollen wir guten Muthes der Zukunft entgegenblicken und an unſere Arbeit im Landtage ſchreiten im Vertrauen darauf, daß uns eine beſſere Zeit beſchieden iſt. Dr. Schmeykal beantragt hierauf fol- gende Erklärung: Der Club der deutſchen Landtagsabgeordneten erklärt, ſeine volle Zu- ſtimmung zu der Coalition der drei großen Parteien des Abgeordneten- hauſes und begrüßt vertrauensvollſt die Bildung des neuen Miniſteriums unter vollinhaltlicher Billigung des kundgegebenen Programms und gleichzeitiger Wahrung der be- kannten Parteigrundſätze des deutſchen Volkes in Böhmen mit der Zuſicherung der Bereitwilligkeit in ſeinem landtäglichen Wirken die neue Regie- rung grundſätzlich zu unterſtützen und zu för- dern. Der Club der deutſchen Landtagsabgeord- neten begrüßt insbeſondere mit ungetheilter Freude die Berufung ſeines langjährigen verehr- ten Clubmitgliedes Dr. v. Plener in den Kreis der Regierung und verſichert ihn ſeines unwan- delbaren Vertrauens und treueſter Anhänglichkeit. Nachdem ſich die Abgeordneten Ruß, Hallwich, Schleſinger, Bendel und Schücker für dieſe Kund- gebung ausgeſprochen hatten, wurde dieſelbe ein- hellig unter großen Beifalle zum Beſchluſſe erhoben. Das allgemeine Wahlrecht. Wien, 28. December. Die heutige Nummer der Wiener Wochen- ſchrift „Neue Revue“ bringt aus einem Geſpräche eines ihrer Mitarbeiter mit Prof. Anton Menger folgende bemerkenswerthe Aeußerungen des hervorragenden Juriſten und Socialpolitikers über das allgemeine Wahlrecht. „Ich bin,“ ſagte Profeſſor Anton Menger, „für das allgemeine, directe und gleiche Wahl- recht. Ich halte die Einführung desſelben für eine conſervative Maßregel, wie es denn auch in vielen Ländern, z. B. in Deutſchland und Bel- gien, von conſervativen Staatsmännern vor- geſchlagen und durchgeführt worden iſt. Nur muß man freilich unter einer conſervativen Politik nicht diejenigen Maßnahmen verſtehen, welche die Intereſſen der begünſtigten Volksclaſſen für den Augenblick fördern, ſondern jene, die eine ruhige Entwicklung der Geſellſchaft für die Dauer gewährleiſten. Es kommt ſehr häufig vor, daß ein geſchichtliches Ereigniß, welches vom Standpunkte der vorübergehenden Intereſſen ein- zelner Geſellſchaftskreiſe als eine conſervative Maßregel erſcheint, für die Dauer auf Staat und Geſellſchaft geradezu revolutionirend wirkt. Bekanntlich wollte Turgot beim Beginne der Regierung Ludwig XVI. faſt das ganze Pro- gramm der großen Revolution: die Abſchaffung der Feudalrechte, des Zunftzwanges und der Steuerprivilegien des Adels und der Geiſtlichkeit, die Freiheit des Gewiſſens und der Preſſe u. ſ. w. auf friedlichem Wege verwirklichen. Ob- gleich es ſich hier um conſervative Maßregeln im wahren Sinne dieſes Wortes handelte, lei- ſteten doch die bevorrechteten Geſellſchaftsclaſſen, weil ſie für den Augenblick erhebliche Opfer bringen ſollten, energiſchen Widerſtand, und als Turgot im Jahre 1776 fiel, wurde ſein Sturz als ein Sieg der conſervativen Ideen gefeiert. Wenige Jahre ſpäter wurde das Programm Turgot’s von der Revolution unter ungeheuern Opfern, gerade der bevorrechten Stände, ver- wirklicht. Turgot war eben ein wahrhaft con- ſervativer Staatsmann, das heißt: ein Staats- mann, der auch vor großen Umwälzungen nicht zurückſcheut, wenn es gilt, die ruhige Ent- wicklung von Staat und Geſellſchaft zu ſichern.“ „Man könnte einwenden,“ fuhr Profeſſor Menger fort, „daß durch das allgemeine Wahl- recht doch unzweifelhaft revolutionäre Elemente ins Parlament gelangen dürften. Aber die Ar- beiterclaſſe iſt im allgemeinen infolge ihrer wirthſchaftlichen Situation keineswegs zu Re- volutionen geneigt. Denn derjenige Stand, wel- cher bei großen Bewegungen am meiſten leidet und zuerſt auf die Straße geworfen wird, iſt eben der Arbeiterſtand. Daß dieſe Anſichten richtig ſind, zeigt ein Blick auf die Geſchichte Faſt alle Revolutionen wurden von jenen Ständen gemacht, welche bei einer Bewegung nur einen Theil ihrer wirthſchaftlichen Exiſtenz aufs Spiel ſetzen, alſo vom Adels, Bürger- und Bauernſtand. Bis vor hundert Jahren gingen die meiſten Umwälzungen vom Adel aus, an deſſen Stelle ſeither das ſtädtiſche Bürgerthum getreten iſt. Selbſt die zwei größeren Revolu- tionen des Arbeiterſtandes, welche in dem letzten Jahrhundert ſtattgefunden haben; die Juniſchlacht des Jahres 1848 und der Communeaufſtand im Jahre 1871 waren bloß Folgeerſcheinungen von Umwälzungen, die der Mittelſtand her- beigeführt hatte. Ich weiß nun wohl, daß ein namhafter Theil der arbeitenden Claſſen gegen- wärtig thatſächlich revolutionär gefinnt iſt, doch kann eine einſichtige Staatskunſt ohne große Schwierigkeiten revolutionäre Ausbrüche verhüten. Wenn die Arbeiter heute unzufrieden ſind, ſo darf man eben nicht vergeſſen, daß unſere gegen- wärtige Staatsordnung ohne ihr Votum zu- ſtande gekommen iſt, und daß, um ſie zu be- ruhigen, ſehr viele und ernſte Reformen unerläß- lich ſind. Wenn die beſtehenden Einrichtungen ſtetig und ohne Unterbrechung zu Gunſten der unteren Volksclaſſen reformirt würden, ſo dürfte dieſe Umgeſtaltung gewiß nicht durch revolutio- näre Ausbrüche geſtört werden. „Noch könnte man darauf hinweiſen, daß zunächſt doch ſchon die agitatoriſche Wirkung der Reden, welche die Arbeiterabgeordneten unter dem Schutze der Immunität halten werden, den revo- lutionären Sinn ſteigern müßten. Mit mehr Recht könnte man aber antworten, daß gerade die Mitwirkung an der Geſetzgebung und Ver- waltung die Arbeiter lehrt, wie ſchwer es iſt, der Trägheit und Selbſtſucht weiter Volkskreiſe auch nur mäßige Reformen abzuringen. Wird doch jedem, der auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft, Kunſt oder Politik arbeitet, ſofort der vulgäre Satz zum Bewußtſein gebracht, daß die Kritik leicht, das Beſſermachen ſchwer iſt. Der verhält- nißmäßig ruhige Verlauf der ſocialen Bewegung in dem letzten Jahrzehnt iſt hauptſächlich auf den Umſtand zurückzuführen, daß in Deutſchland und Frankreich immer mehr politiſche Talente, an welchen es dem Arbeiterſtande nicht mangelt, in die Geſetzgebung und Verwaltung eintreten. „Wenn man glaubt, die Wahlrechtsfrage durch Hinzufügung von einer oder zwei Prole- tarier-Curien zu den beſtehenden Curien des Ab- geordnetenhauſes zu löſen, ſo darf man doch nicht überſehen, daß die Begründung von geſonderten Curien der unbemittelten Volksmaſſen die ohne- dieß ſchon ſcharfen ſocialen Gegenſätze noch mehr verſchärfen muß. Vielleicht werden manche, welche die Frage bloß mit Rückſicht auf den politiſchen Beſitzſtand und die Zahl der Deputirtenmandate beurtheilen, durch die Wirkung der vorgeſchlagenen Maßregeln unangenehm enttäuſcht werden. Jeden- falls aber wird durch die Arbeitercurien eine Kreuzer flehte. Von den bleichen Lippen des alten Bettlers tönte ein monotones: „Ein armer, blinder Mann bittet um eine milde Gabe!“ Es war die flehende Demuth der Gewohn- heit, es war nicht die Verzweiflung der momen- tanen Noth, aber ſo unendlich traurig, ſo ſchmerz- voll, daß es mich innerlichſt rührte. Armuth! Noth! Ihr düſteren Quäler der Menſchheit, Ihr Würgeſatane der ſchönſten Hoffnungen, Ihr harten, rauhen Deſpoten, wann wird Euch der Menſchen- zorn entthronen, wann wirſt Du hinſinken, ge- troffen vom empörten Schwerte der Gerechtigkeit, Du häßlicher, grinſender Tyrann? Wo erwächſt die Fauſt, die Dir die grimmen Zähne aus dem Rachen reißt?? Der blinde Bettler ſtand da, wie ein ſtummer Ankläger der Menſchheit, die an ihm, geputzt und nach Parfums duftend, vorüberwogte. Manch mitleidiger Cavalier, manch weichherziges Mädchen legte eine Münze in ſeine Hand, die er mir nun entgegenſtreckte. Ich ſtand vor ihm, aber er ſah mich nicht, am Tritte nur hörte er, daß jemand nahe ſei. Zitternd lehnte er, die Krücken fortgelegt, ſchwach und alt und von ſeinem zahnloſen Munde kam unausgeſetzt im Gebettone: „Ein armer, blinder Mann bittet um eine milde Gabe!“ Ich zog meine Börſe, aber einem ſchnellen Gedanken folgend, preßte ich in ſeine trockene Hand eine meiner ſchönen, reifen Roſen. Die feinfühlende Hand des Blinden drückte ſich zu- ſammen, über ſein Geſicht wolkte ein gequälter Zorn, er dachte, irgend ein Uebermüthiger wolle ihn necken. Aber der berauſchende Duft der Roſe ſagte ihm, daß es ein ſchönes Geſchenk ſei. Er führte ſie zum Geſichte, auf dem ein wehmüthiges Lächeln erſchien. Er ſah ſie nicht in ihrer Schön- heit, aber ihr Duft erquickte ihn. Laut ſtammelte er: „Dank, tauſend Dank!“ — Du armer, alter Blinder, wie lange iſt es her, ſeit man Dir Roſen ſchenkte? O, auch Du warſt einſt jung und dieſer wonnevolle Duft weckt in Dir ein Erinnern an frühere Tage, an Träume, die Dich betrogen, an Hoffnungen, die welkten, an Lieder, die verklungen, an Farben, die verblaßt ſind! Armer Alter, wie grauſam magſt Du ge- täuſcht ſein in allen kühnen Plänen Deiner Jugend, wie mag Dein Herz zerſtoßen worden ſein vom Hohne der kalten Welt! Du armer Greis! Aus den blinden Augen des grauen Bettlers rannen helle Thränen und fielen auf die Roſe nieder, wo ſie glitzerten, wie herrliche Brillanten. Da wandte ich mich zu dem Alten und ſagte ihm: „Ich bin’s, der Dir die Roſe gab, blinder Mann, ich ein Elender, wie Du! Meine Füße ſind ſtark und jung, aber ſie finden keinen ebenen Weg, meine Augen ſind jung und hell, aber ſie ſehen nur fremdes Glück, meine Ohren ſind ſcharf, aber ſie hören nur fremde Fröhlichkeit, meine Lippen ſind roth und friſch, aber der ſüßeſte Mund verſchmäht ihn, in meinem Herzen rollt rothes Blut, pocht Treue und Leiden- ſchaft, aber kein Herz ſchlägt ihm entgegen, ich bin elend, wie Du! Aber, wenn Du mir danken willſt für meine Gabe, die Dich nicht ſatt macht, ja die alte Schmerzen in Dir aufwühlt, ſo danke mir mit einem Worte! Sprich einen Namen aus, den ich Dir nennen werde! Sprich ihn aus, mit all der unſäglichen Wehmuth, mit all der flehenden Trauer, die im Tonfalle des Bettlers liegt, ſprich, daß es ein Herz erſchüttern kann, rufe wie ein Gebet den Namen: Paulla!“ Der Bettler faltete die dürren Hände und richtete ſeine todten Augen zum Himmel empor und ſprach den Namen aus. Es ſchnitt durch Mark und Herz. „Dank, alter Bettler! Aber ſag’ es mir jetzt leiſe, leiſe in’s Ohr, daß es niemand hört, wie ich und Du! Alle Ver- zweiflung Deiner durchweinten und durchhungerten Nächte ſoll daraus tönen, aller Kummer und Gram eines zerriſſenen Herzens!“ Ich neigte mein Ohr zu ſeinem Munde und er hauchte mir leiſe, aber ſo innig und herzzer- reißend, wie nur ein Bettler es vermag, den Namen ins Ohr. Ich hatte die Augen geſchloſſen: „— — — Paulla!!!“ Und die zweite Roſe ihm in die zitternde Hand drückend, ſtürzte ich davon, hinein in das tollſte Getriebe!

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Zitationshilfe: Mährisches Tagblatt. Nr. 296, Olmütz, 29.12.1893, S. [2]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maehrisches296_1893/2>, abgerufen am 29.03.2024.