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Allgemeine Auswanderungs-Zeitung. Nr. 36. Rudolstadt, 7. Juni 1847.

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[Spaltenumbruch] und gräulichem Blutvergießen; mit ihnen zog aber auch der
Glaube des Welterlösers in die deutschen Länder und begann
neues Leben, neues Wirken nach und nach segensreich zu be-
reiten und eine andere Volksbildung zu schaffen.

So haben die nordischen Wanderungen zwar eine allge-
meine Erschütterung in Germanien hervorgebracht; so haben
die fränkischen Einzüge den Christenglauben endlich als des
Sieges Palme gestiftet; so sind neue Menschen, neue Rechte,
Gewohnheiten, Sitten, Verfassungen, Gesetze, Sprachen
und Staaten in Deutschland einheimisch geworden; so sind
einzelne, früher unbekannte Völker durch Waffen, Geist und
Handel die Lenker des Erdkreises geworden, deren Väter in
den namenlosen Steppen am Ufer der Wolga vielleicht ihre
Rosse tränkten.

Einige Jahrhunderte hindurch, nachdem das Staaten-
wesen durch das Christenthum sich ausgebildet hatte, und die
Kaiser aus sächsischen und fränkischen Geschlechtern die Häup-
ter Deutschlands bildeten, fanden die Wanderungen eine Ab-
leitung in den häufigen Zügen über die Alpen und gen Rom,
die sich unter jedem Reichsoberhaupte erneuten und die mittel-
alterliche Sucht nach Abenteuern, nach entfernten Ländern
genoß in diesen Römerzügen wenigstens einige Befriedigung.
Dann aber erscholl der Ruf um das verlorne Grab des Hei-
lands von Stadt zu Stadt, von Burg zu Burg, von Gau
zu Gau durch Deutschland und alles, Ritter und Prälaten,
Pilger und Landleute, Krieger und Bürgersleute, ward ent-
flammt, und eine großartige Wanderung der deutschen Völker
durch die Kreuzzüge währte ein paar Jahrhunderte. Ganze
Niederlassungen, Reiche sogar würden sich dort im gelobten
Lande, im entfernten Theile Klein=Asiens, gebildet haben
für die Dauer, wenn nicht der Sarazenen Schwerdter so sieg-
reich gegen die Christen gewesen wären.* )

Lange Jahrhunderte darauf ward Deutschland von ähn-
lichen Völkerwanderungen verschont, indem im Mittelalter
zu viele innere Bewegung im Reiche jeden Trieb nach Außen
unterdrückt hielt; dennoch würde vielleicht in der Folgezeit ein
Drang nach irgend einer Ferne sich gebildet haben, wenn nicht
ein ungeheurer Volkssturm sich über die Länder deutscher Zunge
dadurch erhoben hätte, daß daß die Kirchen = Reformation
das Land bis in seinen Angeln auf hundert Jahre erschüttert
hätte. Diese allgemeine Bewegung der Geister entbrannte zu-
letzt in einem dreißig Jahre langen, verheerenden Kriege, der
alle Theile Deutschlands gegen einander trieb, seine Volks-
stämme in unaufhörlicher Unruhe erhielt, und das ganze Reich
derartig erschöpfte, daß ein Jahrhundert dazu gehörte, die
verlornen Kräfte wieder zu sammeln.

[Spaltenumbruch]

Eine allgemeine Erschütterung Deutschlands erfolgte erst
wieder durch den Einbruch der französischen Heere, und dann
ein bis jetzt noch dauernder Frieden.

So haben sich also für dieses Land von jeher großartige
Volksbewegungen und Wanderungen, in Zwischenräumen
einiger Jahrhunderte stets gezeigt, woran seine Lage, die Mitte
Europa's, der Geist der Nation, der Volks = Character die
tiefliegende Veranlassung waren. So sehr Standhaftigkeit
und Ausdauer, Treue und Vaterlandsliebe, Ruhe und Be-
sonnenheit den deutschen Mann vor vielen andern auszeichnen,
eben so sehr ist es auch nicht zu verkennen, daß ein Drang
nach Abenteuern, ein Streben nach dem Fremden ihm inne
wohnen, und selbst die immerwährenden Wanderungen der
deutschen Handwerksburschen liefern hierzu den Beweis, in-
dem bei anderen Nationen Aehnliches nicht vorkommt.* )

Die neueren Bustände.

Nach den Kämpfen mit Frankreich, wobei Deutschland wieder
eine Völkerwanderung gesehen, indem die Stämme Asiens und der
russischen Steppen seine Gauen durchzogen, lagerte sich endlich der
Frieden über Stadt und Land, und die alte Ordnung des Reiches
gestützt auf neue Grundlagen verhieß die langersehnte Volksruhe.
Auf dem Congresse zu Wien befestigten die deutschen Herrscher
ein neues Staatenband unter sich, und setzten unter andern fest,
daß den Unterthanen der Bundesländer die Auswanderung er-
laubt sei.

Hierbei hatten die Regierungen zunächst wohl nur die Wan-
derungen von einem Bundeslande zum andern im Sinne, und
dachten nicht der großen Folgen, welche sich hieraus, aus diesem
Artikel der Wiener Congreß = Acte, entwickeln könnten. Die
Menschen geben die Gesetze; in einer höheren Hand aber liegt
die freie Entwicklung der Völker, und was der Augenblick mit
Zweifel und Mißtrauen anschaut, ruht im Raume der Zukunft
als die Nothwendigkeit zu einem großen geschichtlichen Ereignisse:
so auch gab die Bundes = Acte die freie Wahl der Wanderung,
nicht ahnend, daß dreißig Jahre nachher dadurch germanische
Sitten und Gebräuche, deutsche Rechte und Gewohnheiten jenseits
des atlantischen Weltmeers, am fernen Mississippi und Ohio,
am Missouri und Hudson, in den Urwäldern Nordamerika's
einheimisch werden sollten.

Nach dem Pariser Frieden aber bethätigte sich in Deutsch-
land ein ganz anderer Volksgeist. Seit langen Jahren hatten
die dortigen Landesregierungen schon für eine allgemeine Bildung
die sorgfältigste Pflege geübt; durch vortreffliche Schulen gelangte
der niedere Stand zu einer vernünftigen Anschauung der Dinge
und zur klaren Einsicht, zum vorurtheilsfreien Denken; dem Bür-
ger boten Gymnasien und Lyceen, Gewerbschulen und die mannich-
faltigsten Anstalten die vielfachste Gelegenheit, sich die klarsten

* ) Nach solchen großartigen Wanderungen in den Orient, wie vermochten
es die Deutschen, lange Zeit ruhig zu sitzen? Neue Züge wurden nun in die
Slavenländer unternommen, und Preußen, Litthauen und Siebenbürgen von
deutschen Kämpfern und Auswanderern überschwemmt in langjähriger Ausdehnung,
und noch finden sich in Cur = und Liefland unzählige adelige Geschlechter aus
jenen Zeiten ritterlicher Kämpfe und deutscher Wanderungen, deren Namen
ächt deutsch, und gleich mit denen vieler Niedersächfischer und Süddeutscher
Edlen sind.
* ) Nur darin unterscheiden sich die neueren Auswanderungen sehr von
denen der älteren Zeiten, daß der Deutsche aus den geringern Volksclassen jetzt
meistens nur die Heimath verläßt, um in der demüthigen Gestalt als Ar-
beiter, wohl gar als Bettler, der Knecht der Welt zu werden; wogegen in
den frühern Jahrhunderten der Deutsche ruhmvoll mit dem Schwerdte in der
Hand fortzog, als Held und Eroberer auftrat und durch seine Oberherrschaft
den fremden Ländern deutsche Sitten und deutsches Wesen brachte. Nur die
allerneuste Zeit sieht auch den Gelehrten, den jungen Handelsmann, den Künst-
ler, den gebildeten Handwerker fortziehen, -- Stände, die ihre deutsche Eigen-
thümlichkeit zu bewahren wissen werden, und so nimmt gerade jetzt in den
1840ger Jahren die deutsche Auswanderung einen edlern und höhern Cha-
rakter an, und berechtigt auch für das Mutterland zu einstigen schönen Hoffnungen!

[Spaltenumbruch] und gräulichem Blutvergießen; mit ihnen zog aber auch der
Glaube des Welterlösers in die deutschen Länder und begann
neues Leben, neues Wirken nach und nach segensreich zu be-
reiten und eine andere Volksbildung zu schaffen.

So haben die nordischen Wanderungen zwar eine allge-
meine Erschütterung in Germanien hervorgebracht; so haben
die fränkischen Einzüge den Christenglauben endlich als des
Sieges Palme gestiftet; so sind neue Menschen, neue Rechte,
Gewohnheiten, Sitten, Verfassungen, Gesetze, Sprachen
und Staaten in Deutschland einheimisch geworden; so sind
einzelne, früher unbekannte Völker durch Waffen, Geist und
Handel die Lenker des Erdkreises geworden, deren Väter in
den namenlosen Steppen am Ufer der Wolga vielleicht ihre
Rosse tränkten.

Einige Jahrhunderte hindurch, nachdem das Staaten-
wesen durch das Christenthum sich ausgebildet hatte, und die
Kaiser aus sächsischen und fränkischen Geschlechtern die Häup-
ter Deutschlands bildeten, fanden die Wanderungen eine Ab-
leitung in den häufigen Zügen über die Alpen und gen Rom,
die sich unter jedem Reichsoberhaupte erneuten und die mittel-
alterliche Sucht nach Abenteuern, nach entfernten Ländern
genoß in diesen Römerzügen wenigstens einige Befriedigung.
Dann aber erscholl der Ruf um das verlorne Grab des Hei-
lands von Stadt zu Stadt, von Burg zu Burg, von Gau
zu Gau durch Deutschland und alles, Ritter und Prälaten,
Pilger und Landleute, Krieger und Bürgersleute, ward ent-
flammt, und eine großartige Wanderung der deutschen Völker
durch die Kreuzzüge währte ein paar Jahrhunderte. Ganze
Niederlassungen, Reiche sogar würden sich dort im gelobten
Lande, im entfernten Theile Klein=Asiens, gebildet haben
für die Dauer, wenn nicht der Sarazenen Schwerdter so sieg-
reich gegen die Christen gewesen wären.* )

Lange Jahrhunderte darauf ward Deutschland von ähn-
lichen Völkerwanderungen verschont, indem im Mittelalter
zu viele innere Bewegung im Reiche jeden Trieb nach Außen
unterdrückt hielt; dennoch würde vielleicht in der Folgezeit ein
Drang nach irgend einer Ferne sich gebildet haben, wenn nicht
ein ungeheurer Volkssturm sich über die Länder deutscher Zunge
dadurch erhoben hätte, daß daß die Kirchen = Reformation
das Land bis in seinen Angeln auf hundert Jahre erschüttert
hätte. Diese allgemeine Bewegung der Geister entbrannte zu-
letzt in einem dreißig Jahre langen, verheerenden Kriege, der
alle Theile Deutschlands gegen einander trieb, seine Volks-
stämme in unaufhörlicher Unruhe erhielt, und das ganze Reich
derartig erschöpfte, daß ein Jahrhundert dazu gehörte, die
verlornen Kräfte wieder zu sammeln.

[Spaltenumbruch]

Eine allgemeine Erschütterung Deutschlands erfolgte erst
wieder durch den Einbruch der französischen Heere, und dann
ein bis jetzt noch dauernder Frieden.

So haben sich also für dieses Land von jeher großartige
Volksbewegungen und Wanderungen, in Zwischenräumen
einiger Jahrhunderte stets gezeigt, woran seine Lage, die Mitte
Europa's, der Geist der Nation, der Volks = Character die
tiefliegende Veranlassung waren. So sehr Standhaftigkeit
und Ausdauer, Treue und Vaterlandsliebe, Ruhe und Be-
sonnenheit den deutschen Mann vor vielen andern auszeichnen,
eben so sehr ist es auch nicht zu verkennen, daß ein Drang
nach Abenteuern, ein Streben nach dem Fremden ihm inne
wohnen, und selbst die immerwährenden Wanderungen der
deutschen Handwerksburschen liefern hierzu den Beweis, in-
dem bei anderen Nationen Aehnliches nicht vorkommt.* )

Die neueren Bustände.

Nach den Kämpfen mit Frankreich, wobei Deutschland wieder
eine Völkerwanderung gesehen, indem die Stämme Asiens und der
russischen Steppen seine Gauen durchzogen, lagerte sich endlich der
Frieden über Stadt und Land, und die alte Ordnung des Reiches
gestützt auf neue Grundlagen verhieß die langersehnte Volksruhe.
Auf dem Congresse zu Wien befestigten die deutschen Herrscher
ein neues Staatenband unter sich, und setzten unter andern fest,
daß den Unterthanen der Bundesländer die Auswanderung er-
laubt sei.

Hierbei hatten die Regierungen zunächst wohl nur die Wan-
derungen von einem Bundeslande zum andern im Sinne, und
dachten nicht der großen Folgen, welche sich hieraus, aus diesem
Artikel der Wiener Congreß = Acte, entwickeln könnten. Die
Menschen geben die Gesetze; in einer höheren Hand aber liegt
die freie Entwicklung der Völker, und was der Augenblick mit
Zweifel und Mißtrauen anschaut, ruht im Raume der Zukunft
als die Nothwendigkeit zu einem großen geschichtlichen Ereignisse:
so auch gab die Bundes = Acte die freie Wahl der Wanderung,
nicht ahnend, daß dreißig Jahre nachher dadurch germanische
Sitten und Gebräuche, deutsche Rechte und Gewohnheiten jenseits
des atlantischen Weltmeers, am fernen Mississippi und Ohio,
am Missouri und Hudson, in den Urwäldern Nordamerika's
einheimisch werden sollten.

Nach dem Pariser Frieden aber bethätigte sich in Deutsch-
land ein ganz anderer Volksgeist. Seit langen Jahren hatten
die dortigen Landesregierungen schon für eine allgemeine Bildung
die sorgfältigste Pflege geübt; durch vortreffliche Schulen gelangte
der niedere Stand zu einer vernünftigen Anschauung der Dinge
und zur klaren Einsicht, zum vorurtheilsfreien Denken; dem Bür-
ger boten Gymnasien und Lyceen, Gewerbschulen und die mannich-
faltigsten Anstalten die vielfachste Gelegenheit, sich die klarsten

* ) Nach solchen großartigen Wanderungen in den Orient, wie vermochten
es die Deutschen, lange Zeit ruhig zu sitzen? Neue Züge wurden nun in die
Slavenländer unternommen, und Preußen, Litthauen und Siebenbürgen von
deutschen Kämpfern und Auswanderern überschwemmt in langjähriger Ausdehnung,
und noch finden sich in Cur = und Liefland unzählige adelige Geschlechter aus
jenen Zeiten ritterlicher Kämpfe und deutscher Wanderungen, deren Namen
ächt deutsch, und gleich mit denen vieler Niedersächfischer und Süddeutscher
Edlen sind.
* ) Nur darin unterscheiden sich die neueren Auswanderungen sehr von
denen der älteren Zeiten, daß der Deutsche aus den geringern Volksclassen jetzt
meistens nur die Heimath verläßt, um in der demüthigen Gestalt als Ar-
beiter, wohl gar als Bettler, der Knecht der Welt zu werden; wogegen in
den frühern Jahrhunderten der Deutsche ruhmvoll mit dem Schwerdte in der
Hand fortzog, als Held und Eroberer auftrat und durch seine Oberherrschaft
den fremden Ländern deutsche Sitten und deutsches Wesen brachte. Nur die
allerneuste Zeit sieht auch den Gelehrten, den jungen Handelsmann, den Künst-
ler, den gebildeten Handwerker fortziehen, -- Stände, die ihre deutsche Eigen-
thümlichkeit zu bewahren wissen werden, und so nimmt gerade jetzt in den
1840ger Jahren die deutsche Auswanderung einen edlern und höhern Cha-
rakter an, und berechtigt auch für das Mutterland zu einstigen schönen Hoffnungen!
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Ganze Niederlassungen, Reiche sogar würden sich dort im gelobten Lande, im entfernten Theile Klein=Asiens, gebildet haben für die Dauer, wenn nicht der Sarazenen Schwerdter so sieg- reich gegen die Christen gewesen wären. * ) Lange Jahrhunderte darauf ward Deutschland von ähn- lichen Völkerwanderungen verschont, indem im Mittelalter zu viele innere Bewegung im Reiche jeden Trieb nach Außen unterdrückt hielt; dennoch würde vielleicht in der Folgezeit ein Drang nach irgend einer Ferne sich gebildet haben, wenn nicht ein ungeheurer Volkssturm sich über die Länder deutscher Zunge dadurch erhoben hätte, daß daß die Kirchen = Reformation das Land bis in seinen Angeln auf hundert Jahre erschüttert hätte. 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So sehr Standhaftigkeit und Ausdauer, Treue und Vaterlandsliebe, Ruhe und Be- sonnenheit den deutschen Mann vor vielen andern auszeichnen, eben so sehr ist es auch nicht zu verkennen, daß ein Drang nach Abenteuern, ein Streben nach dem Fremden ihm inne wohnen, und selbst die immerwährenden Wanderungen der deutschen Handwerksburschen liefern hierzu den Beweis, in- dem bei anderen Nationen Aehnliches nicht vorkommt. * ) Die neueren Bustände. Nach den Kämpfen mit Frankreich, wobei Deutschland wieder eine Völkerwanderung gesehen, indem die Stämme Asiens und der russischen Steppen seine Gauen durchzogen, lagerte sich endlich der Frieden über Stadt und Land, und die alte Ordnung des Reiches gestützt auf neue Grundlagen verhieß die langersehnte Volksruhe. Auf dem Congresse zu Wien befestigten die deutschen Herrscher ein neues Staatenband unter sich, und setzten unter andern fest, daß den Unterthanen der Bundesländer die Auswanderung er- laubt sei. 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Neue Züge wurden nun in die Slavenländer unternommen, und Preußen, Litthauen und Siebenbürgen von deutschen Kämpfern und Auswanderern überschwemmt in langjähriger Ausdehnung, und noch finden sich in Cur = und Liefland unzählige adelige Geschlechter aus jenen Zeiten ritterlicher Kämpfe und deutscher Wanderungen, deren Namen ächt deutsch, und gleich mit denen vieler Niedersächfischer und Süddeutscher Edlen sind. * ) Nur darin unterscheiden sich die neueren Auswanderungen sehr von denen der älteren Zeiten, daß der Deutsche aus den geringern Volksclassen jetzt meistens nur die Heimath verläßt, um in der demüthigen Gestalt als Ar- beiter, wohl gar als Bettler, der Knecht der Welt zu werden; wogegen in den frühern Jahrhunderten der Deutsche ruhmvoll mit dem Schwerdte in der Hand fortzog, als Held und Eroberer auftrat und durch seine Oberherrschaft den fremden Ländern deutsche Sitten und deutsches Wesen brachte. Nur die allerneuste Zeit sieht auch den Gelehrten, den jungen Handelsmann, den Künst- ler, den gebildeten Handwerker fortziehen, -- Stände, die ihre deutsche Eigen- thümlichkeit zu bewahren wissen werden, und so nimmt gerade jetzt in den 1840ger Jahren die deutsche Auswanderung einen edlern und höhern Cha- rakter an, und berechtigt auch für das Mutterland zu einstigen schönen Hoffnungen!

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Zitationshilfe: Allgemeine Auswanderungs-Zeitung. Nr. 36. Rudolstadt, 7. Juni 1847, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_auswanderer36_1847/2>, abgerufen am 18.04.2024.