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Allgemeine Zeitung. Nr. 68. Augsburg (Bayern), 9. März 1871.

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[Spaltenumbruch] Verproviantirung, um ein unabweisbares Bedürfniß. Soviel Geld als es
in Feindesland braucht kann ein Heer mit sich führen. Vielmehr ist dieß
ein Mißbrauch der alten barbarischen Kriegführung, und wenn mit vollem
Recht das eiserne Verfahren der alten Napolconischen Heere in diesem
Punkt aufs strengste verurtheilt wird, so verdammt man zugleich sich selbst,
wenn man auch nur im mindesten durch Wiederaufnahme dieses Verfahrens
seine Hand beschmutzt.

Wenn in dieser Art von Raub oder Erpressung noch ein gewisses
System eingehalten werden kann, so tritt die völligste Regellosigkeit ein
wenn dem einzelnen Soldaten der Begriff vom Rechte des Privateigenthums
abhanden kommt. Leider stimmen alle Zeugen darin überein daß bei der
längern Dauer des deutsch=französischen Kriegs vielfach eine Verwilderung
eingerissen ist, daß selbst unsere wohldisciplinirten Truppen mannichfach
sich darbietenden Versuchungen nicht haben widerstehen können, und zwar
selbst solche nicht die auf feinere Bildung Anspruch machen konnten. Was
soll man z. B. dazu sagen wenn man in der "N. Fr. Presse" ( vom 14 Nov.
1860 ) in dem Brief eines sächsischen Soldaten hat lesen können wie jeder
seiner Cameraden aus den Villen vor Paris sich ein Andenken mit nach Hause
zu nehmen suche, und weiter: "Jch für meinen Theil habe mir aus kostbaren Bi-
bliotheken Moliere 's und Racine's Werke und aus dem Haus eines geflüchteten
Malers in Clichy einen kleinen Teniers ausgewählt." Und dieß gewiß in
aller Unschuld, vielleicht sogar in der Aussicht daß die Villa mit allen ihren
Schätzen doch möglicherweise in den nächsten zwei Stunden in Brand ge-
schossen werde. Jch darf auf die Aufzählung weiterer Beispiele dieser Art
verzichten, da Gustav Freytag, welcher die Dinge aus eigener Anschauung
gesehen hat, und dem man am wenigsten den Vorwurf parteilicher Unbe-
sonnenheit wird machen können, gerade über die Behandlung des Privat-
eigenthums in der Umgegend von Paris ein offenes und betrübendes
Urtheil gefällt hat.* )Es nützt in der That nichts mit einem Schleier zu
bedecken was besser nicht geschehen wäre, aber wenn Vorwürfe erhoben
werden, so sollen sie weniger die Tapferen kränken, auf deren Moral in
normalen Verhältnissen wir, nach der Art der Zusammensetzung unseres
Heeres, alle Ursache haben stolz zu sein, als zum Beweise dienen wie die
Gräuel des Krieges auch in der Brust des reinsten die Begriffe von dem,
was Recht und von dem was Unrecht sei, gänzlich verwirren können.

Es ist bekannt daß der an die Spitze gestellte Grundsatz über die Un-
verletzlichkeit des Privatguts bis jetzt auf den Seekrieg nicht ausgedehnt
ist. Es sind vor allem die englischen Staatsmänner und Rechtsgelehrten
welche sich, um die Vortheile ihrer großen Seemacht auszubeuten, dem
widersetzt haben. Man hat zwar versucht die schreiendsten Mißstände
welche aus diesem Mangel hervorgehen zu beseitigen. Friedrich der Große
und die Regierung Nordamerika's haben die wesentlichsten Verdienste um
Herbeiführung von Reformen in diesem Punkt. Am klarsten sprechen die
Resolutionen des Bremer Handelsstandes vom 2 Dec. 1859 es aus: daß
das "Rechtsbewußtsein unserer Zeit die Unverletzlichkeit der Person und
des Eigenthums in Kriegszeiten zur See" unbedingt erfordere. Jm Kriege
von 1866 erkannten Preußen, Oesterreich und Jtalien durch Vertrag, der
natürlich nur unter den Contrahenten und für den bestimmten Kriegsfall
wirkt, das Princip an. Man erinnert sich wie beredt Laboulaye vor dem
Ausbruch des Kriegs von 1870 für dasselbe Ziel wirkte, daß Deutschland
anfangs auch das Aufgeben der alten Praxis proclamirte, leider aber in
Frankreich keine Nachfolge fand. Hier zeigt sich eine wesentliche Lücke des
Völkerrechts, und man kann, da der Friede bevorsteht, nicht früh und
nicht energisch genug auf sie hinweisen, damit wenigstens im Vertrags-
wege zwischen Deutschland und Frankreich die Abstellung jenes Miß-
brauchs erreicht werde, falls sich der Festsetzung des modernen Princips
als allgemein völkerrechtlichen Satzes noch unübersteigliche Schwierigkeiten
entgegen stellen sollten.

Bei weiterer Untersuchung der Frage: was dem einen kriegführenden
Staat gegen den andern erlaubt sei? wird man zu erfahren wünschen wie
das Völkerrecht die Benutzung barbarischer Stämme beurtheilt. Welch
ein Gefühl gieng durch Süddeutschland als sich an seinen Gränzen die
Schaaren der afrikanischen Horden sammelten, deren Kriegsweise nach
früheren Proben hinlänglich bekannt war! Und gewiß wäre nicht abzu-
sehen gewesen welche Gräuel diese vorangestellten Söldner des "Zuaven
im Purpur" in unsre heimische Cultur getragen hätten, zumal man durch
officielle Kundgebungen alles that um die Erinnerungen an Melacs Zei-
ten wach zu rufen. So verabscheuungswürdig es auch sein mag die Stät-
ten moderner Cultur einer Soldateska anheimzugeben deren Begriffe von
Moral und Recht von den unsrigen gar sehr verschieden sind, so kennt doch
das Völkerrecht keinen Satz der dieß verbieten könnte, und es ist auch nicht
zu denken wie man je einem Staate das Recht nehmen sollte sich dieses
Streitmittels zu bedienen. Das Völkerrecht setzt allerdings voraus daß
[Spaltenumbruch] sich solche barbarische Stämme oder Jndividuen seinen Schranken fügen
und den Anordnungen der civilisirten Officiere gehorchen. Jndeß wie
wenig zureichend eine solche Beschränkung ist, weiß jeder der an die Ver-
wendung von Jndianern im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg oder an
die Kriegführung der russischen Hülfstruppen, Baschkiren, Kirgisen
u. s. w., denkt.

Ein Staat indeß der sich selbst achtet, und zugleich eine Corruption
seiner eigentlichen Truppen durch Berührungen mit wilden Stämmen ver-
meiden will, wird sich bei Benutzung derselben möglichst beschränken. Man
wird sehr an die modernsten Zeiten erinnert wenn man in Macaulay's
Englischer Geschichte ( II, 200 ) liest in welchem Grade die englischen Trup-
pen in Tanger und ihre Officiere durch die beständigen Kämpfe mit den
wilden Völkerschaften Afrika's sittlich verderbt wurden, und zu unerhörtem
Grade verwilderten.

Es sind noch zwei Punkte zu berühren welche, von allem was seit
dem Juli 1870 geschehen, den französischen Namen mit der größten Schande
bedecken. Das eine ist die Wiederanstellung solcher Officiere welche durch
Flucht ihr gegebenes Ehrenwort gebrochen haben. Jch sage nichts über
das ehrlose Verhalten dieser Einzelnen, sie können möglicherweise dafür
noch zur Verantwortung gezogen werden; aber indem die oberste Behörde
solche Schritte guthieß, ja legalisirte, hat sie einen der urältesten Sätze
des Völkerrechts durchbrochen, daß auch dem Feind gegenüber Treue zu
wahren sei, und sich damit dem schneidendsten Urtheil der Geschichte, dem
einzigen Tribunal in solchem Fall, ausgesetzt.

Das andere ist die Massenaustreibung der Deutschen vom französi-
schen Boden, und hier ist das Volk im ganzen schuldig und mit dem Stem-
pel rohester Gesinnung zu bezeichnen. Jch weiß wohl durch welche Mittel
der Verfälschung nach den ersten Niederlagen das Napoleonische Regiment
aus den Deutschen in Frankreich ein Opfer zu machen wußte, auf das sich
die Volksleidenschaft entladen sollte; auch soll unvergessen sein daß sich die
ehrliche Presse und die Stimme Pelletans vergeblich bemühten den wüsten
Chorus zu übertönen; aber daß unter den erschwerendsten Umständen, in
einer Weise wie sie erst kürzlich wieder Ludwig Bamberger geschildert, eine
Maßregel bejubelt wurde die sonst wohl in beschränkter Weise "vor Aus-
bruch der Feindseligkeiten und unter Gestattung einer billigen Frist" als
Repressalie im Völkerrecht für erlaubt angesehen worden, läßt ein bedenk-
liches Urtheil über die moralische Bildung des Nachbarvolkes fällen. Eine
Bestrafung ist auch hier nicht möglich, ein Ersatz des erlittenen Schadens,
soweit sich Schäden der Art ersetzen lassen, ist selbstverständlich zu fordern.

Die Urtheile welche im Vorhergehenden über beide Theile gefällt wor-
den sind mögen oft rauh erscheinen, der Wahrheit konnte nur so genügt wer-
den. Wir sahen daß das Völkerrecht in den meisten der angeführten Fälle
uns völlig im Stiche ließ. Eine Gewähr für die möglichste Aufrechterhal-
tung der Jdeen der Humanität und Sittlichkeit liegt allein in der Bildung
der Völker wie der aus ihnen hervorgehenden Heere. So wenig wir uns
des unsrigen im Vergleich mit andern zu schämen haben, so wenig wollen
wir behaupten daß das vorhandene Gute nicht noch zum Besseren gestei-
gert werden könne. Die erwähnte Jnstruction Lincolns wird auch uns
ein schönes Zeugniß dafür sein können wie ein humaner Sinn mitten in
die Schrecken des Krieges Gesetz und Recht zu tragen sucht.

Geschichten aus Livius. * )

Diese Schrift hat den Zweck den Schülern solcher Anstalten in
denen das Studium der alten Sprachen vom Lehrplan ausgeschlossen ist,
die Bekanntschaft mit dem classischen Alterthum zu vermitteln und sie mit
dem Sachlichen und Persönlichen desselben so weit vertraut zu machen
wie eine höhere allgemeine Bildung dieß erfordert. Diese vom Verfasser
in der Vorrede ausgesprochene Tendenz seines Unternehmens ist an und
für sich gut und die Ausführung angemessen. Warum soll der junge
Mensch der sich in einer Gewerbeschule dem Jndustriefach widmet, die Be-
lehrung und Anregung entbehren die aus den alten Schriftstellern, na-
mentlich den Historikern, geschöpft werden kann? Jst es mit dem gewählten
Beruf unvereinbar den alten Sprachen so viel Zeit zu widmen als zur
Kenntniß ihrer Meisterwerke gehört, so müssen dieselben durch gute Ueber-
setzungen dem gebildeten Publicum zugänglich gemacht werden. Denn so
schätzbar die originale Form eines Werkes ist, so bleibt der Jnhalt, na-
mentlich bei Historikern, doch die Hauptsache, und das was den eigentlichen
bildenden Eindruck auf den Leser hervorbringt sind nicht die Wörter in
ihrer materiellen Gestalt, sondern die mit ihnen verbundenen Jdeen, die,
als allgemein geistiger Art, sich sehr wohl aus einer Sprache in die andere
übertragen lassen. Die Wahl des Livius, von dessen bedeutendsten Ab-
schnitten Paul Goldschmidt eine Uebersetzung liefert, kann als eine beson-
ders glückliche bezeichnet werden, weil unter den Historikern der alten Welt

* ) Siehe den Artikel,[unleserliches Material] "Das Retten und Rollen" im 6. Hefte der Zeitschrift
"Jm neuen Reich." D. R.
* ) Mit Ergänzungen aus griechischen Schriftstellern. Beorbeitet von Paul
Goldschmidt. Mit 3 lithographirten Tafeln. Leipzig, 1871.

[Spaltenumbruch] Verproviantirung, um ein unabweisbares Bedürfniß. Soviel Geld als es
in Feindesland braucht kann ein Heer mit sich führen. Vielmehr ist dieß
ein Mißbrauch der alten barbarischen Kriegführung, und wenn mit vollem
Recht das eiserne Verfahren der alten Napolconischen Heere in diesem
Punkt aufs strengste verurtheilt wird, so verdammt man zugleich sich selbst,
wenn man auch nur im mindesten durch Wiederaufnahme dieses Verfahrens
seine Hand beschmutzt.

Wenn in dieser Art von Raub oder Erpressung noch ein gewisses
System eingehalten werden kann, so tritt die völligste Regellosigkeit ein
wenn dem einzelnen Soldaten der Begriff vom Rechte des Privateigenthums
abhanden kommt. Leider stimmen alle Zeugen darin überein daß bei der
längern Dauer des deutsch=französischen Kriegs vielfach eine Verwilderung
eingerissen ist, daß selbst unsere wohldisciplinirten Truppen mannichfach
sich darbietenden Versuchungen nicht haben widerstehen können, und zwar
selbst solche nicht die auf feinere Bildung Anspruch machen konnten. Was
soll man z. B. dazu sagen wenn man in der „N. Fr. Presse“ ( vom 14 Nov.
1860 ) in dem Brief eines sächsischen Soldaten hat lesen können wie jeder
seiner Cameraden aus den Villen vor Paris sich ein Andenken mit nach Hause
zu nehmen suche, und weiter: „Jch für meinen Theil habe mir aus kostbaren Bi-
bliotheken Molière 's und Racine's Werke und aus dem Haus eines geflüchteten
Malers in Clichy einen kleinen Teniers ausgewählt.“ Und dieß gewiß in
aller Unschuld, vielleicht sogar in der Aussicht daß die Villa mit allen ihren
Schätzen doch möglicherweise in den nächsten zwei Stunden in Brand ge-
schossen werde. Jch darf auf die Aufzählung weiterer Beispiele dieser Art
verzichten, da Gustav Freytag, welcher die Dinge aus eigener Anschauung
gesehen hat, und dem man am wenigsten den Vorwurf parteilicher Unbe-
sonnenheit wird machen können, gerade über die Behandlung des Privat-
eigenthums in der Umgegend von Paris ein offenes und betrübendes
Urtheil gefällt hat.* )Es nützt in der That nichts mit einem Schleier zu
bedecken was besser nicht geschehen wäre, aber wenn Vorwürfe erhoben
werden, so sollen sie weniger die Tapferen kränken, auf deren Moral in
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Heeres, alle Ursache haben stolz zu sein, als zum Beweise dienen wie die
Gräuel des Krieges auch in der Brust des reinsten die Begriffe von dem,
was Recht und von dem was Unrecht sei, gänzlich verwirren können.

Es ist bekannt daß der an die Spitze gestellte Grundsatz über die Un-
verletzlichkeit des Privatguts bis jetzt auf den Seekrieg nicht ausgedehnt
ist. Es sind vor allem die englischen Staatsmänner und Rechtsgelehrten
welche sich, um die Vortheile ihrer großen Seemacht auszubeuten, dem
widersetzt haben. Man hat zwar versucht die schreiendsten Mißstände
welche aus diesem Mangel hervorgehen zu beseitigen. Friedrich der Große
und die Regierung Nordamerika's haben die wesentlichsten Verdienste um
Herbeiführung von Reformen in diesem Punkt. Am klarsten sprechen die
Resolutionen des Bremer Handelsstandes vom 2 Dec. 1859 es aus: daß
das „Rechtsbewußtsein unserer Zeit die Unverletzlichkeit der Person und
des Eigenthums in Kriegszeiten zur See“ unbedingt erfordere. Jm Kriege
von 1866 erkannten Preußen, Oesterreich und Jtalien durch Vertrag, der
natürlich nur unter den Contrahenten und für den bestimmten Kriegsfall
wirkt, das Princip an. Man erinnert sich wie beredt Laboulaye vor dem
Ausbruch des Kriegs von 1870 für dasselbe Ziel wirkte, daß Deutschland
anfangs auch das Aufgeben der alten Praxis proclamirte, leider aber in
Frankreich keine Nachfolge fand. Hier zeigt sich eine wesentliche Lücke des
Völkerrechts, und man kann, da der Friede bevorsteht, nicht früh und
nicht energisch genug auf sie hinweisen, damit wenigstens im Vertrags-
wege zwischen Deutschland und Frankreich die Abstellung jenes Miß-
brauchs erreicht werde, falls sich der Festsetzung des modernen Princips
als allgemein völkerrechtlichen Satzes noch unübersteigliche Schwierigkeiten
entgegen stellen sollten.

Bei weiterer Untersuchung der Frage: was dem einen kriegführenden
Staat gegen den andern erlaubt sei? wird man zu erfahren wünschen wie
das Völkerrecht die Benutzung barbarischer Stämme beurtheilt. Welch
ein Gefühl gieng durch Süddeutschland als sich an seinen Gränzen die
Schaaren der afrikanischen Horden sammelten, deren Kriegsweise nach
früheren Proben hinlänglich bekannt war! Und gewiß wäre nicht abzu-
sehen gewesen welche Gräuel diese vorangestellten Söldner des „Zuaven
im Purpur“ in unsre heimische Cultur getragen hätten, zumal man durch
officielle Kundgebungen alles that um die Erinnerungen an Melacs Zei-
ten wach zu rufen. So verabscheuungswürdig es auch sein mag die Stät-
ten moderner Cultur einer Soldateska anheimzugeben deren Begriffe von
Moral und Recht von den unsrigen gar sehr verschieden sind, so kennt doch
das Völkerrecht keinen Satz der dieß verbieten könnte, und es ist auch nicht
zu denken wie man je einem Staate das Recht nehmen sollte sich dieses
Streitmittels zu bedienen. Das Völkerrecht setzt allerdings voraus daß
[Spaltenumbruch] sich solche barbarische Stämme oder Jndividuen seinen Schranken fügen
und den Anordnungen der civilisirten Officiere gehorchen. Jndeß wie
wenig zureichend eine solche Beschränkung ist, weiß jeder der an die Ver-
wendung von Jndianern im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg oder an
die Kriegführung der russischen Hülfstruppen, Baschkiren, Kirgisen
u. s. w., denkt.

Ein Staat indeß der sich selbst achtet, und zugleich eine Corruption
seiner eigentlichen Truppen durch Berührungen mit wilden Stämmen ver-
meiden will, wird sich bei Benutzung derselben möglichst beschränken. Man
wird sehr an die modernsten Zeiten erinnert wenn man in Macaulay's
Englischer Geschichte ( II, 200 ) liest in welchem Grade die englischen Trup-
pen in Tanger und ihre Officiere durch die beständigen Kämpfe mit den
wilden Völkerschaften Afrika's sittlich verderbt wurden, und zu unerhörtem
Grade verwilderten.

Es sind noch zwei Punkte zu berühren welche, von allem was seit
dem Juli 1870 geschehen, den französischen Namen mit der größten Schande
bedecken. Das eine ist die Wiederanstellung solcher Officiere welche durch
Flucht ihr gegebenes Ehrenwort gebrochen haben. Jch sage nichts über
das ehrlose Verhalten dieser Einzelnen, sie können möglicherweise dafür
noch zur Verantwortung gezogen werden; aber indem die oberste Behörde
solche Schritte guthieß, ja legalisirte, hat sie einen der urältesten Sätze
des Völkerrechts durchbrochen, daß auch dem Feind gegenüber Treue zu
wahren sei, und sich damit dem schneidendsten Urtheil der Geschichte, dem
einzigen Tribunal in solchem Fall, ausgesetzt.

Das andere ist die Massenaustreibung der Deutschen vom französi-
schen Boden, und hier ist das Volk im ganzen schuldig und mit dem Stem-
pel rohester Gesinnung zu bezeichnen. Jch weiß wohl durch welche Mittel
der Verfälschung nach den ersten Niederlagen das Napoleonische Regiment
aus den Deutschen in Frankreich ein Opfer zu machen wußte, auf das sich
die Volksleidenschaft entladen sollte; auch soll unvergessen sein daß sich die
ehrliche Presse und die Stimme Pelletans vergeblich bemühten den wüsten
Chorus zu übertönen; aber daß unter den erschwerendsten Umständen, in
einer Weise wie sie erst kürzlich wieder Ludwig Bamberger geschildert, eine
Maßregel bejubelt wurde die sonst wohl in beschränkter Weise „vor Aus-
bruch der Feindseligkeiten und unter Gestattung einer billigen Frist“ als
Repressalie im Völkerrecht für erlaubt angesehen worden, läßt ein bedenk-
liches Urtheil über die moralische Bildung des Nachbarvolkes fällen. Eine
Bestrafung ist auch hier nicht möglich, ein Ersatz des erlittenen Schadens,
soweit sich Schäden der Art ersetzen lassen, ist selbstverständlich zu fordern.

Die Urtheile welche im Vorhergehenden über beide Theile gefällt wor-
den sind mögen oft rauh erscheinen, der Wahrheit konnte nur so genügt wer-
den. Wir sahen daß das Völkerrecht in den meisten der angeführten Fälle
uns völlig im Stiche ließ. Eine Gewähr für die möglichste Aufrechterhal-
tung der Jdeen der Humanität und Sittlichkeit liegt allein in der Bildung
der Völker wie der aus ihnen hervorgehenden Heere. So wenig wir uns
des unsrigen im Vergleich mit andern zu schämen haben, so wenig wollen
wir behaupten daß das vorhandene Gute nicht noch zum Besseren gestei-
gert werden könne. Die erwähnte Jnstruction Lincolns wird auch uns
ein schönes Zeugniß dafür sein können wie ein humaner Sinn mitten in
die Schrecken des Krieges Gesetz und Recht zu tragen sucht.

Geschichten aus Livius. * )

⁑⁑ Diese Schrift hat den Zweck den Schülern solcher Anstalten in
denen das Studium der alten Sprachen vom Lehrplan ausgeschlossen ist,
die Bekanntschaft mit dem classischen Alterthum zu vermitteln und sie mit
dem Sachlichen und Persönlichen desselben so weit vertraut zu machen
wie eine höhere allgemeine Bildung dieß erfordert. Diese vom Verfasser
in der Vorrede ausgesprochene Tendenz seines Unternehmens ist an und
für sich gut und die Ausführung angemessen. Warum soll der junge
Mensch der sich in einer Gewerbeschule dem Jndustriefach widmet, die Be-
lehrung und Anregung entbehren die aus den alten Schriftstellern, na-
mentlich den Historikern, geschöpft werden kann? Jst es mit dem gewählten
Beruf unvereinbar den alten Sprachen so viel Zeit zu widmen als zur
Kenntniß ihrer Meisterwerke gehört, so müssen dieselben durch gute Ueber-
setzungen dem gebildeten Publicum zugänglich gemacht werden. Denn so
schätzbar die originale Form eines Werkes ist, so bleibt der Jnhalt, na-
mentlich bei Historikern, doch die Hauptsache, und das was den eigentlichen
bildenden Eindruck auf den Leser hervorbringt sind nicht die Wörter in
ihrer materiellen Gestalt, sondern die mit ihnen verbundenen Jdeen, die,
als allgemein geistiger Art, sich sehr wohl aus einer Sprache in die andere
übertragen lassen. Die Wahl des Livius, von dessen bedeutendsten Ab-
schnitten Paul Goldschmidt eine Uebersetzung liefert, kann als eine beson-
ders glückliche bezeichnet werden, weil unter den Historikern der alten Welt

* ) Siehe den Artikel,[unleserliches Material] „Das Retten und Rollen“ im 6. Hefte der Zeitschrift
„Jm neuen Reich.“ D. R.
* ) Mit Ergänzungen aus griechischen Schriftstellern. Beorbeitet von Paul
Goldschmidt. Mit 3 lithographirten Tafeln. Leipzig, 1871.
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[1147/0011] Verproviantirung, um ein unabweisbares Bedürfniß. Soviel Geld als es in Feindesland braucht kann ein Heer mit sich führen. Vielmehr ist dieß ein Mißbrauch der alten barbarischen Kriegführung, und wenn mit vollem Recht das eiserne Verfahren der alten Napolconischen Heere in diesem Punkt aufs strengste verurtheilt wird, so verdammt man zugleich sich selbst, wenn man auch nur im mindesten durch Wiederaufnahme dieses Verfahrens seine Hand beschmutzt. Wenn in dieser Art von Raub oder Erpressung noch ein gewisses System eingehalten werden kann, so tritt die völligste Regellosigkeit ein wenn dem einzelnen Soldaten der Begriff vom Rechte des Privateigenthums abhanden kommt. Leider stimmen alle Zeugen darin überein daß bei der längern Dauer des deutsch=französischen Kriegs vielfach eine Verwilderung eingerissen ist, daß selbst unsere wohldisciplinirten Truppen mannichfach sich darbietenden Versuchungen nicht haben widerstehen können, und zwar selbst solche nicht die auf feinere Bildung Anspruch machen konnten. Was soll man z. B. dazu sagen wenn man in der „N. Fr. Presse“ ( vom 14 Nov. 1860 ) in dem Brief eines sächsischen Soldaten hat lesen können wie jeder seiner Cameraden aus den Villen vor Paris sich ein Andenken mit nach Hause zu nehmen suche, und weiter: „Jch für meinen Theil habe mir aus kostbaren Bi- bliotheken Molière 's und Racine's Werke und aus dem Haus eines geflüchteten Malers in Clichy einen kleinen Teniers ausgewählt.“ Und dieß gewiß in aller Unschuld, vielleicht sogar in der Aussicht daß die Villa mit allen ihren Schätzen doch möglicherweise in den nächsten zwei Stunden in Brand ge- schossen werde. Jch darf auf die Aufzählung weiterer Beispiele dieser Art verzichten, da Gustav Freytag, welcher die Dinge aus eigener Anschauung gesehen hat, und dem man am wenigsten den Vorwurf parteilicher Unbe- sonnenheit wird machen können, gerade über die Behandlung des Privat- eigenthums in der Umgegend von Paris ein offenes und betrübendes Urtheil gefällt hat. * )Es nützt in der That nichts mit einem Schleier zu bedecken was besser nicht geschehen wäre, aber wenn Vorwürfe erhoben werden, so sollen sie weniger die Tapferen kränken, auf deren Moral in normalen Verhältnissen wir, nach der Art der Zusammensetzung unseres Heeres, alle Ursache haben stolz zu sein, als zum Beweise dienen wie die Gräuel des Krieges auch in der Brust des reinsten die Begriffe von dem, was Recht und von dem was Unrecht sei, gänzlich verwirren können. Es ist bekannt daß der an die Spitze gestellte Grundsatz über die Un- verletzlichkeit des Privatguts bis jetzt auf den Seekrieg nicht ausgedehnt ist. Es sind vor allem die englischen Staatsmänner und Rechtsgelehrten welche sich, um die Vortheile ihrer großen Seemacht auszubeuten, dem widersetzt haben. Man hat zwar versucht die schreiendsten Mißstände welche aus diesem Mangel hervorgehen zu beseitigen. Friedrich der Große und die Regierung Nordamerika's haben die wesentlichsten Verdienste um Herbeiführung von Reformen in diesem Punkt. Am klarsten sprechen die Resolutionen des Bremer Handelsstandes vom 2 Dec. 1859 es aus: daß das „Rechtsbewußtsein unserer Zeit die Unverletzlichkeit der Person und des Eigenthums in Kriegszeiten zur See“ unbedingt erfordere. Jm Kriege von 1866 erkannten Preußen, Oesterreich und Jtalien durch Vertrag, der natürlich nur unter den Contrahenten und für den bestimmten Kriegsfall wirkt, das Princip an. Man erinnert sich wie beredt Laboulaye vor dem Ausbruch des Kriegs von 1870 für dasselbe Ziel wirkte, daß Deutschland anfangs auch das Aufgeben der alten Praxis proclamirte, leider aber in Frankreich keine Nachfolge fand. Hier zeigt sich eine wesentliche Lücke des Völkerrechts, und man kann, da der Friede bevorsteht, nicht früh und nicht energisch genug auf sie hinweisen, damit wenigstens im Vertrags- wege zwischen Deutschland und Frankreich die Abstellung jenes Miß- brauchs erreicht werde, falls sich der Festsetzung des modernen Princips als allgemein völkerrechtlichen Satzes noch unübersteigliche Schwierigkeiten entgegen stellen sollten. Bei weiterer Untersuchung der Frage: was dem einen kriegführenden Staat gegen den andern erlaubt sei? wird man zu erfahren wünschen wie das Völkerrecht die Benutzung barbarischer Stämme beurtheilt. Welch ein Gefühl gieng durch Süddeutschland als sich an seinen Gränzen die Schaaren der afrikanischen Horden sammelten, deren Kriegsweise nach früheren Proben hinlänglich bekannt war! Und gewiß wäre nicht abzu- sehen gewesen welche Gräuel diese vorangestellten Söldner des „Zuaven im Purpur“ in unsre heimische Cultur getragen hätten, zumal man durch officielle Kundgebungen alles that um die Erinnerungen an Melacs Zei- ten wach zu rufen. So verabscheuungswürdig es auch sein mag die Stät- ten moderner Cultur einer Soldateska anheimzugeben deren Begriffe von Moral und Recht von den unsrigen gar sehr verschieden sind, so kennt doch das Völkerrecht keinen Satz der dieß verbieten könnte, und es ist auch nicht zu denken wie man je einem Staate das Recht nehmen sollte sich dieses Streitmittels zu bedienen. Das Völkerrecht setzt allerdings voraus daß sich solche barbarische Stämme oder Jndividuen seinen Schranken fügen und den Anordnungen der civilisirten Officiere gehorchen. Jndeß wie wenig zureichend eine solche Beschränkung ist, weiß jeder der an die Ver- wendung von Jndianern im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg oder an die Kriegführung der russischen Hülfstruppen, Baschkiren, Kirgisen u. s. w., denkt. Ein Staat indeß der sich selbst achtet, und zugleich eine Corruption seiner eigentlichen Truppen durch Berührungen mit wilden Stämmen ver- meiden will, wird sich bei Benutzung derselben möglichst beschränken. Man wird sehr an die modernsten Zeiten erinnert wenn man in Macaulay's Englischer Geschichte ( II, 200 ) liest in welchem Grade die englischen Trup- pen in Tanger und ihre Officiere durch die beständigen Kämpfe mit den wilden Völkerschaften Afrika's sittlich verderbt wurden, und zu unerhörtem Grade verwilderten. Es sind noch zwei Punkte zu berühren welche, von allem was seit dem Juli 1870 geschehen, den französischen Namen mit der größten Schande bedecken. Das eine ist die Wiederanstellung solcher Officiere welche durch Flucht ihr gegebenes Ehrenwort gebrochen haben. Jch sage nichts über das ehrlose Verhalten dieser Einzelnen, sie können möglicherweise dafür noch zur Verantwortung gezogen werden; aber indem die oberste Behörde solche Schritte guthieß, ja legalisirte, hat sie einen der urältesten Sätze des Völkerrechts durchbrochen, daß auch dem Feind gegenüber Treue zu wahren sei, und sich damit dem schneidendsten Urtheil der Geschichte, dem einzigen Tribunal in solchem Fall, ausgesetzt. Das andere ist die Massenaustreibung der Deutschen vom französi- schen Boden, und hier ist das Volk im ganzen schuldig und mit dem Stem- pel rohester Gesinnung zu bezeichnen. Jch weiß wohl durch welche Mittel der Verfälschung nach den ersten Niederlagen das Napoleonische Regiment aus den Deutschen in Frankreich ein Opfer zu machen wußte, auf das sich die Volksleidenschaft entladen sollte; auch soll unvergessen sein daß sich die ehrliche Presse und die Stimme Pelletans vergeblich bemühten den wüsten Chorus zu übertönen; aber daß unter den erschwerendsten Umständen, in einer Weise wie sie erst kürzlich wieder Ludwig Bamberger geschildert, eine Maßregel bejubelt wurde die sonst wohl in beschränkter Weise „vor Aus- bruch der Feindseligkeiten und unter Gestattung einer billigen Frist“ als Repressalie im Völkerrecht für erlaubt angesehen worden, läßt ein bedenk- liches Urtheil über die moralische Bildung des Nachbarvolkes fällen. Eine Bestrafung ist auch hier nicht möglich, ein Ersatz des erlittenen Schadens, soweit sich Schäden der Art ersetzen lassen, ist selbstverständlich zu fordern. Die Urtheile welche im Vorhergehenden über beide Theile gefällt wor- den sind mögen oft rauh erscheinen, der Wahrheit konnte nur so genügt wer- den. Wir sahen daß das Völkerrecht in den meisten der angeführten Fälle uns völlig im Stiche ließ. Eine Gewähr für die möglichste Aufrechterhal- tung der Jdeen der Humanität und Sittlichkeit liegt allein in der Bildung der Völker wie der aus ihnen hervorgehenden Heere. So wenig wir uns des unsrigen im Vergleich mit andern zu schämen haben, so wenig wollen wir behaupten daß das vorhandene Gute nicht noch zum Besseren gestei- gert werden könne. Die erwähnte Jnstruction Lincolns wird auch uns ein schönes Zeugniß dafür sein können wie ein humaner Sinn mitten in die Schrecken des Krieges Gesetz und Recht zu tragen sucht. Geschichten aus Livius. * ) ⁑⁑ Diese Schrift hat den Zweck den Schülern solcher Anstalten in denen das Studium der alten Sprachen vom Lehrplan ausgeschlossen ist, die Bekanntschaft mit dem classischen Alterthum zu vermitteln und sie mit dem Sachlichen und Persönlichen desselben so weit vertraut zu machen wie eine höhere allgemeine Bildung dieß erfordert. Diese vom Verfasser in der Vorrede ausgesprochene Tendenz seines Unternehmens ist an und für sich gut und die Ausführung angemessen. Warum soll der junge Mensch der sich in einer Gewerbeschule dem Jndustriefach widmet, die Be- lehrung und Anregung entbehren die aus den alten Schriftstellern, na- mentlich den Historikern, geschöpft werden kann? Jst es mit dem gewählten Beruf unvereinbar den alten Sprachen so viel Zeit zu widmen als zur Kenntniß ihrer Meisterwerke gehört, so müssen dieselben durch gute Ueber- setzungen dem gebildeten Publicum zugänglich gemacht werden. Denn so schätzbar die originale Form eines Werkes ist, so bleibt der Jnhalt, na- mentlich bei Historikern, doch die Hauptsache, und das was den eigentlichen bildenden Eindruck auf den Leser hervorbringt sind nicht die Wörter in ihrer materiellen Gestalt, sondern die mit ihnen verbundenen Jdeen, die, als allgemein geistiger Art, sich sehr wohl aus einer Sprache in die andere übertragen lassen. Die Wahl des Livius, von dessen bedeutendsten Ab- schnitten Paul Goldschmidt eine Uebersetzung liefert, kann als eine beson- ders glückliche bezeichnet werden, weil unter den Historikern der alten Welt * ) Siehe den Artikel,_ „Das Retten und Rollen“ im 6. Hefte der Zeitschrift „Jm neuen Reich.“ D. R. * ) Mit Ergänzungen aus griechischen Schriftstellern. Beorbeitet von Paul Goldschmidt. Mit 3 lithographirten Tafeln. Leipzig, 1871.

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  • langes s (?): in Frakturschrift als s transkribiert, in Antiquaschrift beibehalten.
  • rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert.
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert.
  • Vollständigkeit: vollständig erfasst.
  • Zeichensetzung: DTABf-getreu.



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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 68. Augsburg (Bayern), 9. März 1871, S. 1147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_augsburg68_1871/11>, abgerufen am 20.04.2024.