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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 4. Leipzig, 1891.

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jedem Winde gewirbelt, unstät, fortgetrieben? Oh Erde,
du wardst mir zu rund!

Auf jeder Oberfläche sass ich schon, gleich müdem
Staube schlief ich ein auf Spiegeln und Fensterscheiben:
Alles nimmt von mir, Nichts giebt, ich werde dünn, --
fast gleiche ich einem Schatten.

Dir aber, oh Zarathustra, flog und zog ich am
längsten nach, und, verbarg ich mich schon vor dir,
so war ich doch dein bester Schatten: wo du nur ge¬
sessen hast, sass ich auch.

Mit dir bin ich in fernsten, kältesten Welten um¬
gegangen, einem Gespenste gleich, das freiwillig über
Winterdächer und Schnee läuft.

Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste,
Fernste: und wenn irgend Etwas an mir Tugend ist,
so ist es, dass ich vor keinem Verbote Furcht hatte.

Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte,
alle Grenzsteine und Bilder warf ich um, den gefähr¬
lichsten Wünschen lief ich nach, -- wahrlich, über jed¬
wedes Verbrechen lief ich einmal hinweg.

Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und
Werthe und grosse Namen. Wenn der Teufel sich
häutet, fällt da nicht auch sein Name ab? Der ist näm¬
lich auch Haut. Der Teufel selber ist vielleicht --
Haut.

"Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt": so sprach ich
mir zu. In die kältesten Wasser stürzte ich mich, mit
Kopf und Herzen. Ach, wie oft stand ich darob nackt
als rother Krebs da!

Ach, wohin kam mir alles Gute und alle Scham
und aller Glaube an die Guten! Ach, wohin ist jene

jedem Winde gewirbelt, unstät, fortgetrieben? Oh Erde,
du wardst mir zu rund!

Auf jeder Oberfläche sass ich schon, gleich müdem
Staube schlief ich ein auf Spiegeln und Fensterscheiben:
Alles nimmt von mir, Nichts giebt, ich werde dünn, —
fast gleiche ich einem Schatten.

Dir aber, oh Zarathustra, flog und zog ich am
längsten nach, und, verbarg ich mich schon vor dir,
so war ich doch dein bester Schatten: wo du nur ge¬
sessen hast, sass ich auch.

Mit dir bin ich in fernsten, kältesten Welten um¬
gegangen, einem Gespenste gleich, das freiwillig über
Winterdächer und Schnee läuft.

Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste,
Fernste: und wenn irgend Etwas an mir Tugend ist,
so ist es, dass ich vor keinem Verbote Furcht hatte.

Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte,
alle Grenzsteine und Bilder warf ich um, den gefähr¬
lichsten Wünschen lief ich nach, — wahrlich, über jed¬
wedes Verbrechen lief ich einmal hinweg.

Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und
Werthe und grosse Namen. Wenn der Teufel sich
häutet, fällt da nicht auch sein Name ab? Der ist näm¬
lich auch Haut. Der Teufel selber ist vielleicht —
Haut.

„Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“: so sprach ich
mir zu. In die kältesten Wasser stürzte ich mich, mit
Kopf und Herzen. Ach, wie oft stand ich darob nackt
als rother Krebs da!

Ach, wohin kam mir alles Gute und alle Scham
und aller Glaube an die Guten! Ach, wohin ist jene

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[57/0064] jedem Winde gewirbelt, unstät, fortgetrieben? Oh Erde, du wardst mir zu rund! Auf jeder Oberfläche sass ich schon, gleich müdem Staube schlief ich ein auf Spiegeln und Fensterscheiben: Alles nimmt von mir, Nichts giebt, ich werde dünn, — fast gleiche ich einem Schatten. Dir aber, oh Zarathustra, flog und zog ich am längsten nach, und, verbarg ich mich schon vor dir, so war ich doch dein bester Schatten: wo du nur ge¬ sessen hast, sass ich auch. Mit dir bin ich in fernsten, kältesten Welten um¬ gegangen, einem Gespenste gleich, das freiwillig über Winterdächer und Schnee läuft. Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste, Fernste: und wenn irgend Etwas an mir Tugend ist, so ist es, dass ich vor keinem Verbote Furcht hatte. Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine und Bilder warf ich um, den gefähr¬ lichsten Wünschen lief ich nach, — wahrlich, über jed¬ wedes Verbrechen lief ich einmal hinweg. Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und Werthe und grosse Namen. Wenn der Teufel sich häutet, fällt da nicht auch sein Name ab? Der ist näm¬ lich auch Haut. Der Teufel selber ist vielleicht — Haut. „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“: so sprach ich mir zu. In die kältesten Wasser stürzte ich mich, mit Kopf und Herzen. Ach, wie oft stand ich darob nackt als rother Krebs da! Ach, wohin kam mir alles Gute und alle Scham und aller Glaube an die Guten! Ach, wohin ist jene

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 4. Leipzig, 1891, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra04_1891/64>, abgerufen am 19.04.2024.