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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 2. Chemnitz, 1883.

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Das Nachtlied.

Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden
Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender
Brunnen.

Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der
Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines
Liebenden.

Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will
laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in mir,
die redet selber die Sprache der Liebe.

Licht bin ich: ach, dass ich Nacht wäre! Aber
diess ist meine Einsamkeit, dass ich von Licht um¬
gürtet bin.

Ach, dass ich dunkel wäre und nächtig! Wie
wollte ich an den Brüsten des Lichts saugen!

Und euch selber wollte ich noch segnen, ihr kleinen
Funkelsterne und Leuchtwürmer droben! -- und selig
sein ob eurer Licht-Geschenke.

Aber ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke
die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen.

Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und
oft träumte mir davon, dass Stehlen noch seliger sein
müsse, als Nehmen.

Das ist meine Armuth, dass meine Hand niemals
ausruht vom Schenken; das ist mein Neid, dass ich

3*
Das Nachtlied.

Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden
Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender
Brunnen.

Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der
Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines
Liebenden.

Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will
laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in mir,
die redet selber die Sprache der Liebe.

Licht bin ich: ach, dass ich Nacht wäre! Aber
diess ist meine Einsamkeit, dass ich von Licht um¬
gürtet bin.

Ach, dass ich dunkel wäre und nächtig! Wie
wollte ich an den Brüsten des Lichts saugen!

Und euch selber wollte ich noch segnen, ihr kleinen
Funkelsterne und Leuchtwürmer droben! — und selig
sein ob eurer Licht-Geschenke.

Aber ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke
die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen.

Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und
oft träumte mir davon, dass Stehlen noch seliger sein
müsse, als Nehmen.

Das ist meine Armuth, dass meine Hand niemals
ausruht vom Schenken; das ist mein Neid, dass ich

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[35/0045] Das Nachtlied. Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden. Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in mir, die redet selber die Sprache der Liebe. Licht bin ich: ach, dass ich Nacht wäre! Aber diess ist meine Einsamkeit, dass ich von Licht um¬ gürtet bin. Ach, dass ich dunkel wäre und nächtig! Wie wollte ich an den Brüsten des Lichts saugen! Und euch selber wollte ich noch segnen, ihr kleinen Funkelsterne und Leuchtwürmer droben! — und selig sein ob eurer Licht-Geschenke. Aber ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen. Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und oft träumte mir davon, dass Stehlen noch seliger sein müsse, als Nehmen. Das ist meine Armuth, dass meine Hand niemals ausruht vom Schenken; das ist mein Neid, dass ich 3*

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 2. Chemnitz, 1883, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra02_1883/45>, abgerufen am 19.04.2024.