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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883.

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Vom Biss der Natter.

Eines Tages war Zarathustra unter einem Feigen¬
baume eingeschlafen, da es heiss war, und hatte seine
Arme über das Gesicht gelegt. Da kam eine Natter
und biss ihn in den Hals, so dass Zarathustra vor
Schmerz aufschrie. Als er den Arm vom Gesicht ge¬
nommen hatte, sah er die Schlange an: da erkannte
sie die Augen Zarathustra's, wand sich ungeschickt
und wollte davon. "Nicht doch, sprach Zarathustra;
noch nahmst du meinen Dank nicht an! Du wecktest
mich zur Zeit, mein Weg ist noch lang." "Dein Weg
ist noch kurz, sagte die Natter traurig; mein Gift
tödtet." Zarathustra lächelte. "Wann starb wohl je
ein Drache am Gift einer Schlange? -- sagte er.
Aber nimm dein Gift zurück! Du bist nicht reich
genug, es mir zu schenken." Da fiel ihm die Natter
von Neuem um den Hals und leckte ihm seine Wunde.

Als Zarathustra diess einmal seinen Jüngern er¬
zählte, fragten sie: "Und was, oh Zarathustra, ist die
Moral deiner Geschichte?" Zarathustra antwortete dar¬
auf also:

Vom Biss der Natter.

Eines Tages war Zarathustra unter einem Feigen¬
baume eingeschlafen, da es heiss war, und hatte seine
Arme über das Gesicht gelegt. Da kam eine Natter
und biss ihn in den Hals, so dass Zarathustra vor
Schmerz aufschrie. Als er den Arm vom Gesicht ge¬
nommen hatte, sah er die Schlange an: da erkannte
sie die Augen Zarathustra's, wand sich ungeschickt
und wollte davon. „Nicht doch, sprach Zarathustra;
noch nahmst du meinen Dank nicht an! Du wecktest
mich zur Zeit, mein Weg ist noch lang.“ „Dein Weg
ist noch kurz, sagte die Natter traurig; mein Gift
tödtet.“ Zarathustra lächelte. „Wann starb wohl je
ein Drache am Gift einer Schlange? — sagte er.
Aber nimm dein Gift zurück! Du bist nicht reich
genug, es mir zu schenken.“ Da fiel ihm die Natter
von Neuem um den Hals und leckte ihm seine Wunde.

Als Zarathustra diess einmal seinen Jüngern er¬
zählte, fragten sie: „Und was, oh Zarathustra, ist die
Moral deiner Geschichte?“ Zarathustra antwortete dar¬
auf also:

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[96/0102] Vom Biss der Natter. Eines Tages war Zarathustra unter einem Feigen¬ baume eingeschlafen, da es heiss war, und hatte seine Arme über das Gesicht gelegt. Da kam eine Natter und biss ihn in den Hals, so dass Zarathustra vor Schmerz aufschrie. Als er den Arm vom Gesicht ge¬ nommen hatte, sah er die Schlange an: da erkannte sie die Augen Zarathustra's, wand sich ungeschickt und wollte davon. „Nicht doch, sprach Zarathustra; noch nahmst du meinen Dank nicht an! Du wecktest mich zur Zeit, mein Weg ist noch lang.“ „Dein Weg ist noch kurz, sagte die Natter traurig; mein Gift tödtet.“ Zarathustra lächelte. „Wann starb wohl je ein Drache am Gift einer Schlange? — sagte er. Aber nimm dein Gift zurück! Du bist nicht reich genug, es mir zu schenken.“ Da fiel ihm die Natter von Neuem um den Hals und leckte ihm seine Wunde. Als Zarathustra diess einmal seinen Jüngern er¬ zählte, fragten sie: „Und was, oh Zarathustra, ist die Moral deiner Geschichte?“ Zarathustra antwortete dar¬ auf also:

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra01_1883/102>, abgerufen am 28.03.2024.