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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner
Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des
Daseins enthält nämlich während seiner Dauer ein lethargisches
Element, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit
Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der
Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen
Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche
Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel
als solche empfunden; eine asketische, willenverneinende
Stimmung ist die Frucht jener Zustände. In diesem Sinne
hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide
haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge
gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln;
denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der
Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmach¬
voll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den
Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss tödtet das
Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch
die Illusion -- das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile
Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel Re¬
flexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Möglichkeiten
nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflectiren, nein! --
die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte
Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv,
bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen. Jetzt
verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine Welt
nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein
wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den
Göttern oder in einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der
Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der
Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins,
jetzt versteht er das Symbolische im Schicksal der Ophelia, jetzt
erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: es ekelt ihn.

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Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner
Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des
Daseins enthält nämlich während seiner Dauer ein lethargisches
Element, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit
Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der
Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen
Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche
Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel
als solche empfunden; eine asketische, willenverneinende
Stimmung ist die Frucht jener Zustände. In diesem Sinne
hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide
haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge
gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln;
denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der
Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmach¬
voll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den
Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss tödtet das
Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch
die Illusion — das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile
Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel Re¬
flexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Möglichkeiten
nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflectiren, nein! —
die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte
Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv,
bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen. Jetzt
verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine Welt
nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein
wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den
Göttern oder in einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der
Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der
Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins,
jetzt versteht er das Symbolische im Schicksal der Ophelia, jetzt
erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: es ekelt ihn.

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[—35—/0048] Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden; eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmach¬ voll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion — das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel Re¬ flexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Möglichkeiten nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflectiren, nein! — die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen. Jetzt verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine Welt nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den Göttern oder in einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins, jetzt versteht er das Symbolische im Schicksal der Ophelia, jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: es ekelt ihn. 3*

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —35—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/48>, abgerufen am 28.03.2024.