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Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

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der Volksseele anerkannt, Zustände der Sitte und des Glaubens in die Form der Persönlichkeit einzugiessen. Nachdem die geschichtliche Kritik sich mit voller Sicherheit der Methode bemächtigt hat, scheinbar konkrete Persönlichkeit verdampfen zu lassen, ist es erlaubt, das erste Experiment als ein wichtiges Ereigniss in der Geschichte der Wissenschaften zu bezeichnen, ganz abgesehen davon, ob es in diesem Falle gelungen ist.

Es ist der gewöhnliche Verlauf, dass einem epochemachenden Funde eine Reihe auffälliger Vorzeichen und vorbereitender Einzelbeobachtungen voranzugehen pflegen. Auch das genannte Experiment hat seine anziehende Vorgeschichte, aber in einer erstaunlich weiten zeitlichen Entfernung. Friedrich August Wolf hat genau dort eingesetzt, wo das griechische Alterthum die Frage aus den Händen fallen liess. Der Höhepunkt, den die literarhistorischen Studien der Griechen und somit auch das Centrum derselben, die Homerfrage, erreichten, war das Zeitalter der grossen alexandrinischen Grammatiker. Bis zu diesem Höhepunkte hat die homerische Frage die lange Kette eines gleichförmigen Entwicklungsprocesses durchlaufen, als deren letztes Glied, zugleich als das letzte, dass dem Alterthum überhaupt erreichbar war, der Standpunkt jener Grammatiker erscheint. Sie begriffen Ilias und Odyssee als Schöpfungen des einen Homer: sie erklärten es für psychologisch möglich, dass Werke so verschiedenen Gesammtcharakters einem Genius entsprungen seien, im Gegensatz zu den Chorizonten, die die äusserste Skepsis zufälliger einzelner Individualitäten des Alterthums, nicht des Alterthums selbst bedeuten. Um den verschiedenen Totaleindruck der beiden Epen bei der Annahme eines Dichters zu erklären, nahm man die Lebensalter zu Hülfe und verglich den Dichter der Odyssee mit der untergehenden Sonne. Für Diversitäten des sprachlichen und gedanklichen Ausdrucks war das Auge jener Kritiker von unermüdlicher Schärfe und Wachsamkeit; zugleich aber hatte man sich eine Geschichte der homerischen Dichtung und ihrer Tradition zurecht gelegt, nach der diese Diversitäten nicht Homer, sondern seinen Redaktoren und

der Volksseele anerkannt, Zustände der Sitte und des Glaubens in die Form der Persönlichkeit einzugiessen. Nachdem die geschichtliche Kritik sich mit voller Sicherheit der Methode bemächtigt hat, scheinbar konkrete Persönlichkeit verdampfen zu lassen, ist es erlaubt, das erste Experiment als ein wichtiges Ereigniss in der Geschichte der Wissenschaften zu bezeichnen, ganz abgesehen davon, ob es in diesem Falle gelungen ist.

Es ist der gewöhnliche Verlauf, dass einem epochemachenden Funde eine Reihe auffälliger Vorzeichen und vorbereitender Einzelbeobachtungen voranzugehen pflegen. Auch das genannte Experiment hat seine anziehende Vorgeschichte, aber in einer erstaunlich weiten zeitlichen Entfernung. Friedrich August Wolf hat genau dort eingesetzt, wo das griechische Alterthum die Frage aus den Händen fallen liess. Der Höhepunkt, den die literarhistorischen Studien der Griechen und somit auch das Centrum derselben, die Homerfrage, erreichten, war das Zeitalter der grossen alexandrinischen Grammatiker. Bis zu diesem Höhepunkte hat die homerische Frage die lange Kette eines gleichförmigen Entwicklungsprocesses durchlaufen, als deren letztes Glied, zugleich als das letzte, dass dem Alterthum überhaupt erreichbar war, der Standpunkt jener Grammatiker erscheint. Sie begriffen Ilias und Odyssee als Schöpfungen des einen Homer: sie erklärten es für psychologisch möglich, dass Werke so verschiedenen Gesammtcharakters einem Genius entsprungen seien, im Gegensatz zu den Chorizonten, die die äusserste Skepsis zufälliger einzelner Individualitäten des Alterthums, nicht des Alterthums selbst bedeuten. Um den verschiedenen Totaleindruck der beiden Epen bei der Annahme eines Dichters zu erklären, nahm man die Lebensalter zu Hülfe und verglich den Dichter der Odyssee mit der untergehenden Sonne. Für Diversitäten des sprachlichen und gedanklichen Ausdrucks war das Auge jener Kritiker von unermüdlicher Schärfe und Wachsamkeit; zugleich aber hatte man sich eine Geschichte der homerischen Dichtung und ihrer Tradition zurecht gelegt, nach der diese Diversitäten nicht Homer, sondern seinen Redaktoren und

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[11/0009] der Volksseele anerkannt, Zustände der Sitte und des Glaubens in die Form der Persönlichkeit einzugiessen. Nachdem die geschichtliche Kritik sich mit voller Sicherheit der Methode bemächtigt hat, scheinbar konkrete Persönlichkeit verdampfen zu lassen, ist es erlaubt, das erste Experiment als ein wichtiges Ereigniss in der Geschichte der Wissenschaften zu bezeichnen, ganz abgesehen davon, ob es in diesem Falle gelungen ist. Es ist der gewöhnliche Verlauf, dass einem epochemachenden Funde eine Reihe auffälliger Vorzeichen und vorbereitender Einzelbeobachtungen voranzugehen pflegen. Auch das genannte Experiment hat seine anziehende Vorgeschichte, aber in einer erstaunlich weiten zeitlichen Entfernung. Friedrich August Wolf hat genau dort eingesetzt, wo das griechische Alterthum die Frage aus den Händen fallen liess. Der Höhepunkt, den die literarhistorischen Studien der Griechen und somit auch das Centrum derselben, die Homerfrage, erreichten, war das Zeitalter der grossen alexandrinischen Grammatiker. Bis zu diesem Höhepunkte hat die homerische Frage die lange Kette eines gleichförmigen Entwicklungsprocesses durchlaufen, als deren letztes Glied, zugleich als das letzte, dass dem Alterthum überhaupt erreichbar war, der Standpunkt jener Grammatiker erscheint. Sie begriffen Ilias und Odyssee als Schöpfungen des einen Homer: sie erklärten es für psychologisch möglich, dass Werke so verschiedenen Gesammtcharakters einem Genius entsprungen seien, im Gegensatz zu den Chorizonten, die die äusserste Skepsis zufälliger einzelner Individualitäten des Alterthums, nicht des Alterthums selbst bedeuten. Um den verschiedenen Totaleindruck der beiden Epen bei der Annahme eines Dichters zu erklären, nahm man die Lebensalter zu Hülfe und verglich den Dichter der Odyssee mit der untergehenden Sonne. Für Diversitäten des sprachlichen und gedanklichen Ausdrucks war das Auge jener Kritiker von unermüdlicher Schärfe und Wachsamkeit; zugleich aber hatte man sich eine Geschichte der homerischen Dichtung und ihrer Tradition zurecht gelegt, nach der diese Diversitäten nicht Homer, sondern seinen Redaktoren und

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/9>, abgerufen am 28.03.2024.