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Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

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ideale Welt heraus zu graben und der Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewigmustergültigen entgegen zu halten. Dass diese durchaus verschiedenartigen wissenschaftlichen und aesthetisch-ethischen Triebe sich unter einen gemeinsamen Namen, unter eine Art von Scheinmonarchie zusammengethan haben, wird vor allem durch die Thatsache erklärt, dass die Philologie ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen ist. Unter dem Gesichtspunkte des Pädagogischen war eine Auswahl der lehrenswerthesten und bildungförderndsten Elemente geboten, und so hat sich aus einem praktischen Berufe, unter dem Drucke des Bedürfnisses jene Wissenschaft oder wenigstens jene wissenschaftliche Tendenz entwickelt, die wir Philologie nennen.

Die genannten verschiedenen Grundrichtungen derselben sind nun in bestimmten Zeiten bald mit stärkerem bald mit schwächerem Nachdrucke herausgetreten, im Zusammenhang mit dem Kulturgrade und der Geschmacksentwicklung der jeweiligen Periode; und wiederum pflegen die einzelnen Vertreter jener Wissenschaft die ihrem Können und Wollen entsprechendsten Richtungen immer als die Centralrichtungen der Philologie zu begreifen, so dass die Schätzung der Philologie in der öffentlichen Meinung sehr abhängig ist von der Wucht der philologischen Persönlichkeiten.

In der Gegenwart nun d. h. in einer Zeit, die fast in jeder möglichen Richtung der Philologie ausgezeichnete Naturen erlebt hat, hat eine allgemeine Unsicherheit des Urtheils überhand genommen und zugleich damit eine durchherrschende Erschlaffung der Theilnahme an philologischen Problemen. Ein solcher unentschiedener und halber Zustand der öffentlichen Meinung trifft eine Wissenschaft insofern empfindlich, als die offenen und geheimen Feinde derselben mit viel grösserem Erfolge arbeiten können. An solchen Feinden hat aber gerade die Philologie eine grosse Fülle. Wo trifft man sie nicht, die Spötter, die immer bereit sind, den philologischen "Maulwürfen" einen Hieb zu versetzen, dem Geschlecht, das das Staubschlucken ex professo treibt, das die zehnmal aufgeworfene Erdscholle

ideale Welt heraus zu graben und der Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewigmustergültigen entgegen zu halten. Dass diese durchaus verschiedenartigen wissenschaftlichen und aesthetisch-ethischen Triebe sich unter einen gemeinsamen Namen, unter eine Art von Scheinmonarchie zusammengethan haben, wird vor allem durch die Thatsache erklärt, dass die Philologie ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen ist. Unter dem Gesichtspunkte des Pädagogischen war eine Auswahl der lehrenswerthesten und bildungförderndsten Elemente geboten, und so hat sich aus einem praktischen Berufe, unter dem Drucke des Bedürfnisses jene Wissenschaft oder wenigstens jene wissenschaftliche Tendenz entwickelt, die wir Philologie nennen.

Die genannten verschiedenen Grundrichtungen derselben sind nun in bestimmten Zeiten bald mit stärkerem bald mit schwächerem Nachdrucke herausgetreten, im Zusammenhang mit dem Kulturgrade und der Geschmacksentwicklung der jeweiligen Periode; und wiederum pflegen die einzelnen Vertreter jener Wissenschaft die ihrem Können und Wollen entsprechendsten Richtungen immer als die Centralrichtungen der Philologie zu begreifen, so dass die Schätzung der Philologie in der öffentlichen Meinung sehr abhängig ist von der Wucht der philologischen Persönlichkeiten.

In der Gegenwart nun d. h. in einer Zeit, die fast in jeder möglichen Richtung der Philologie ausgezeichnete Naturen erlebt hat, hat eine allgemeine Unsicherheit des Urtheils überhand genommen und zugleich damit eine durchherrschende Erschlaffung der Theilnahme an philologischen Problemen. Ein solcher unentschiedener und halber Zustand der öffentlichen Meinung trifft eine Wissenschaft insofern empfindlich, als die offenen und geheimen Feinde derselben mit viel grösserem Erfolge arbeiten können. An solchen Feinden hat aber gerade die Philologie eine grosse Fülle. Wo trifft man sie nicht, die Spötter, die immer bereit sind, den philologischen „Maulwürfen“ einen Hieb zu versetzen, dem Geschlecht, das das Staubschlucken ex professo treibt, das die zehnmal aufgeworfene Erdscholle

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ideale Welt heraus zu graben und der Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewigmustergültigen entgegen zu halten. Dass diese durchaus verschiedenartigen wissenschaftlichen und aesthetisch-ethischen Triebe sich unter einen gemeinsamen Namen, unter eine Art von Scheinmonarchie zusammengethan haben, wird vor allem durch die Thatsache erklärt, dass die Philologie ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen ist. Unter dem Gesichtspunkte des Pädagogischen war eine Auswahl der lehrenswerthesten und bildungförderndsten Elemente geboten, und so hat sich aus einem praktischen Berufe, unter dem Drucke des Bedürfnisses jene Wissenschaft oder wenigstens jene wissenschaftliche Tendenz entwickelt, die wir Philologie nennen.</p>
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        <p>In der Gegenwart nun d. h. in einer Zeit, die fast in jeder möglichen Richtung der Philologie ausgezeichnete Naturen erlebt hat, hat eine allgemeine Unsicherheit des Urtheils überhand genommen und zugleich damit eine durchherrschende Erschlaffung der Theilnahme an philologischen Problemen. Ein solcher unentschiedener und halber Zustand der öffentlichen Meinung trifft eine Wissenschaft insofern empfindlich, als die offenen und geheimen Feinde derselben mit viel grösserem Erfolge arbeiten können. An solchen Feinden hat aber gerade die Philologie eine grosse Fülle. Wo trifft man sie nicht, die Spötter, die immer bereit sind, den philologischen &#x201E;Maulwürfen&#x201C; einen Hieb zu versetzen, dem Geschlecht, das das Staubschlucken ex professo treibt, das die zehnmal aufgeworfene Erdscholle
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[6/0004] ideale Welt heraus zu graben und der Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewigmustergültigen entgegen zu halten. Dass diese durchaus verschiedenartigen wissenschaftlichen und aesthetisch-ethischen Triebe sich unter einen gemeinsamen Namen, unter eine Art von Scheinmonarchie zusammengethan haben, wird vor allem durch die Thatsache erklärt, dass die Philologie ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen ist. Unter dem Gesichtspunkte des Pädagogischen war eine Auswahl der lehrenswerthesten und bildungförderndsten Elemente geboten, und so hat sich aus einem praktischen Berufe, unter dem Drucke des Bedürfnisses jene Wissenschaft oder wenigstens jene wissenschaftliche Tendenz entwickelt, die wir Philologie nennen. Die genannten verschiedenen Grundrichtungen derselben sind nun in bestimmten Zeiten bald mit stärkerem bald mit schwächerem Nachdrucke herausgetreten, im Zusammenhang mit dem Kulturgrade und der Geschmacksentwicklung der jeweiligen Periode; und wiederum pflegen die einzelnen Vertreter jener Wissenschaft die ihrem Können und Wollen entsprechendsten Richtungen immer als die Centralrichtungen der Philologie zu begreifen, so dass die Schätzung der Philologie in der öffentlichen Meinung sehr abhängig ist von der Wucht der philologischen Persönlichkeiten. In der Gegenwart nun d. h. in einer Zeit, die fast in jeder möglichen Richtung der Philologie ausgezeichnete Naturen erlebt hat, hat eine allgemeine Unsicherheit des Urtheils überhand genommen und zugleich damit eine durchherrschende Erschlaffung der Theilnahme an philologischen Problemen. Ein solcher unentschiedener und halber Zustand der öffentlichen Meinung trifft eine Wissenschaft insofern empfindlich, als die offenen und geheimen Feinde derselben mit viel grösserem Erfolge arbeiten können. An solchen Feinden hat aber gerade die Philologie eine grosse Fülle. Wo trifft man sie nicht, die Spötter, die immer bereit sind, den philologischen „Maulwürfen“ einen Hieb zu versetzen, dem Geschlecht, das das Staubschlucken ex professo treibt, das die zehnmal aufgeworfene Erdscholle

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/4>, abgerufen am 29.03.2024.