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Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

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Bestand jener unerreichbaren Vortrefflichkeit zu erklären? Jetzt schärfte sich der Blick für das, worin jene Vortrefflichkeit und Singularität zu finden sei. Unmöglich in der Anlage der Gesammtwerke, sagte die eine Partei, denn diese ist durch und durch mangelhaft, wohl aber in dem einzelnen Liede, in dem Einzelnen überhaupt, nicht im Ganzen. Dagegen machte eine andere Partei für sich die Autorität des Aristoteles geltend, der gerade in dem Entwurfe und der Auswahl des Ganzen die "göttliche" Natur Homers am höchsten bewunderte; wenn dieser Entwurf nicht so deutlich hervortrete, so sei dies ein Mangel, der der Ueberlieferung, nicht dem Dichter zuzumessen sei, die Folge von Ueberarbeitungen und Einschiebungen, durch die der ursprüngliche Kern allmählich verhüllt worden sei. Je mehr die erstere Richtung nach Unebenheiten, Widersprüchen und Verwirrungen suchte, um so entschiedener warf die andere weg, was nach ihrem Gefühl den ursprünglichen Plan verdunkelte, um womöglich das ausgeschälte Urepos in den Händen zu haben. Es lag im Wesen der zweiten Richtung, dass sie am Begriff eines epochemachenden Genius als des Stifters grosser kunstvoller Epen festhielt. Dagegen schwankte die andere Richtung hin und her zwischen der Annahme eines Genius und einer Anzahl geringerer Nachdichter: und einer anderen Hypothese, die überhaupt nur einer Reihe tüchtiger aber mittelmässiger Sängerindividualitäten bedarf, aber ein geheimnissvolles Fortströmen, einen tiefen künstlerischen Volkstrieb voraussetzt der sich in dem einzelnen Sänger als einem fast gleichgültigen Medium offenbart. In der Consequenz dieser Richtung liegt es, die unvergleichlichen Vorzüge der homerischen Dichtungen als den Ausdruck jenes geheimnissvoll hinströmenden Triebes darzustellen.

Alle diese Richtungen gehen davon aus, dass das Problem des gegenwärtigen Bestandes jener Epen zu lösen sei vom Standpunkte eines aesthetischen Urtheils aus: man erwartet die Entscheidung von der richtigen Festsetzung der Grenzlinie zwischen dem genialen Individuum und der dichterischen Volksseele. Giebt es charakteristische

Bestand jener unerreichbaren Vortrefflichkeit zu erklären? Jetzt schärfte sich der Blick für das, worin jene Vortrefflichkeit und Singularität zu finden sei. Unmöglich in der Anlage der Gesammtwerke, sagte die eine Partei, denn diese ist durch und durch mangelhaft, wohl aber in dem einzelnen Liede, in dem Einzelnen überhaupt, nicht im Ganzen. Dagegen machte eine andere Partei für sich die Autorität des Aristoteles geltend, der gerade in dem Entwurfe und der Auswahl des Ganzen die »göttliche« Natur Homers am höchsten bewunderte; wenn dieser Entwurf nicht so deutlich hervortrete, so sei dies ein Mangel, der der Ueberlieferung, nicht dem Dichter zuzumessen sei, die Folge von Ueberarbeitungen und Einschiebungen, durch die der ursprüngliche Kern allmählich verhüllt worden sei. Je mehr die erstere Richtung nach Unebenheiten, Widersprüchen und Verwirrungen suchte, um so entschiedener warf die andere weg, was nach ihrem Gefühl den ursprünglichen Plan verdunkelte, um womöglich das ausgeschälte Urepos in den Händen zu haben. Es lag im Wesen der zweiten Richtung, dass sie am Begriff eines epochemachenden Genius als des Stifters grosser kunstvoller Epen festhielt. Dagegen schwankte die andere Richtung hin und her zwischen der Annahme eines Genius und einer Anzahl geringerer Nachdichter: und einer anderen Hypothese, die überhaupt nur einer Reihe tüchtiger aber mittelmässiger Sängerindividualitäten bedarf, aber ein geheimnissvolles Fortströmen, einen tiefen künstlerischen Volkstrieb voraussetzt der sich in dem einzelnen Sänger als einem fast gleichgültigen Medium offenbart. In der Consequenz dieser Richtung liegt es, die unvergleichlichen Vorzüge der homerischen Dichtungen als den Ausdruck jenes geheimnissvoll hinströmenden Triebes darzustellen.

Alle diese Richtungen gehen davon aus, dass das Problem des gegenwärtigen Bestandes jener Epen zu lösen sei vom Standpunkte eines aesthetischen Urtheils aus: man erwartet die Entscheidung von der richtigen Festsetzung der Grenzlinie zwischen dem genialen Individuum und der dichterischen Volksseele. Giebt es charakteristische

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Bestand jener unerreichbaren Vortrefflichkeit zu erklären? Jetzt schärfte sich der Blick für das, worin jene Vortrefflichkeit und Singularität zu finden sei. Unmöglich in der Anlage der Gesammtwerke, sagte die eine Partei, denn diese ist durch und durch mangelhaft, wohl aber in dem einzelnen Liede, in dem Einzelnen überhaupt, nicht im Ganzen. Dagegen machte eine andere Partei für sich die Autorität des Aristoteles geltend, der gerade in dem Entwurfe und der Auswahl des Ganzen die »göttliche« Natur Homers am höchsten bewunderte; wenn dieser Entwurf nicht so deutlich hervortrete, so sei dies ein Mangel, der der Ueberlieferung, nicht dem Dichter zuzumessen sei, die Folge von Ueberarbeitungen und Einschiebungen, durch die der ursprüngliche Kern allmählich verhüllt worden sei. Je mehr die erstere Richtung nach Unebenheiten, Widersprüchen und Verwirrungen suchte, um so entschiedener warf die andere weg, was nach ihrem Gefühl den ursprünglichen Plan verdunkelte, um womöglich das ausgeschälte Urepos in den Händen zu haben. Es lag im Wesen der zweiten Richtung, dass sie am Begriff eines epochemachenden Genius als des Stifters grosser kunstvoller Epen festhielt. Dagegen schwankte die andere Richtung hin und her zwischen der Annahme <hi rendition="#i">eines</hi> Genius und einer Anzahl geringerer Nachdichter: und einer anderen Hypothese, die überhaupt nur einer Reihe tüchtiger aber mittelmässiger Sängerindividualitäten bedarf, aber ein geheimnissvolles Fortströmen, einen tiefen künstlerischen Volkstrieb voraussetzt der sich in dem einzelnen Sänger als einem fast gleichgültigen Medium offenbart. In der Consequenz dieser Richtung liegt es, die unvergleichlichen Vorzüge der homerischen Dichtungen als den Ausdruck jenes geheimnissvoll hinströmenden Triebes darzustellen.</p>
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[15/0013] Bestand jener unerreichbaren Vortrefflichkeit zu erklären? Jetzt schärfte sich der Blick für das, worin jene Vortrefflichkeit und Singularität zu finden sei. Unmöglich in der Anlage der Gesammtwerke, sagte die eine Partei, denn diese ist durch und durch mangelhaft, wohl aber in dem einzelnen Liede, in dem Einzelnen überhaupt, nicht im Ganzen. Dagegen machte eine andere Partei für sich die Autorität des Aristoteles geltend, der gerade in dem Entwurfe und der Auswahl des Ganzen die »göttliche« Natur Homers am höchsten bewunderte; wenn dieser Entwurf nicht so deutlich hervortrete, so sei dies ein Mangel, der der Ueberlieferung, nicht dem Dichter zuzumessen sei, die Folge von Ueberarbeitungen und Einschiebungen, durch die der ursprüngliche Kern allmählich verhüllt worden sei. Je mehr die erstere Richtung nach Unebenheiten, Widersprüchen und Verwirrungen suchte, um so entschiedener warf die andere weg, was nach ihrem Gefühl den ursprünglichen Plan verdunkelte, um womöglich das ausgeschälte Urepos in den Händen zu haben. Es lag im Wesen der zweiten Richtung, dass sie am Begriff eines epochemachenden Genius als des Stifters grosser kunstvoller Epen festhielt. Dagegen schwankte die andere Richtung hin und her zwischen der Annahme eines Genius und einer Anzahl geringerer Nachdichter: und einer anderen Hypothese, die überhaupt nur einer Reihe tüchtiger aber mittelmässiger Sängerindividualitäten bedarf, aber ein geheimnissvolles Fortströmen, einen tiefen künstlerischen Volkstrieb voraussetzt der sich in dem einzelnen Sänger als einem fast gleichgültigen Medium offenbart. In der Consequenz dieser Richtung liegt es, die unvergleichlichen Vorzüge der homerischen Dichtungen als den Ausdruck jenes geheimnissvoll hinströmenden Triebes darzustellen. Alle diese Richtungen gehen davon aus, dass das Problem des gegenwärtigen Bestandes jener Epen zu lösen sei vom Standpunkte eines aesthetischen Urtheils aus: man erwartet die Entscheidung von der richtigen Festsetzung der Grenzlinie zwischen dem genialen Individuum und der dichterischen Volksseele. Giebt es charakteristische

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/13>, abgerufen am 29.03.2024.