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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

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Historischer Gesichtspunkt d. Untersuchung.
nehmen wollen; sie wird vielmehr demselben einen
Damm entgegensetzen müssen. Fürs zweite ist auch das
Zeitalter keineswegs so unempfänglich für das Ideale,
daß ein Erziehungsplan, der darauf mehr Gewicht als
auf das Materiale legt, einen allgemeinen Widerspruch
zu fürchten hätte. Zwar hat das philanthropinische
System so vieles, was dem oberflächlichen Räsonne-
ment sehr gründlich scheint und wohlgefällt; deswegen
kann es ihm an einer großen Zahl von Freunden und
Vertheidigern nicht fehlen. Allein als herrschende Denk-
art kann dies Niemand ausrufen wollen, der auf die
Zeichen der Zeit merkt, und sie versteht.

Ein andrer Geist, dem jener der Aufklärung nur
als Vorläufer Platz gemacht hat, ist mit der Wieder-
auferweckung des ächten philosophischen Denkens unter
uns erschienen, und hat seit zwanzig Jahren aller bes-
sern Köpfe unter uns in allen Arten des Wissens und
des Geschäftes sich bemächtiget. Dieselbe merkwürdige
Reform, welche das Ideale wieder zu der Ehre, Rea-
lität zu seyn, hervorgerufen hat, ist in dem ganzen Um-
kreis unsrer Bildung, in Wissenschaft und Kunst, in
Philosophie und Religion, in allen Zweigen des Thuns
und Lebens in unzweideutigen Erscheinungen sichtbar;
die Ueberzeugung von der Schädlichkeit nicht nur, son-
dern selbst von der gänzlichen Untauglichkeit jenes plum-
pen Realismus ist nicht mehr bloße unsichere Meinung
dieses oder jenes Einzelnen; die Idealität der Wahr-
heit und die Wahrheit des Idealen, von aller Vernunft
als Wahrheit Geforderten und Vorausgesetzten, wird

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Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
nehmen wollen; ſie wird vielmehr demſelben einen
Damm entgegenſetzen muͤſſen. Fuͤrs zweite iſt auch das
Zeitalter keineswegs ſo unempfaͤnglich fuͤr das Ideale,
daß ein Erziehungsplan, der darauf mehr Gewicht als
auf das Materiale legt, einen allgemeinen Widerſpruch
zu fuͤrchten haͤtte. Zwar hat das philanthropiniſche
Syſtem ſo vieles, was dem oberflaͤchlichen Raͤſonne-
ment ſehr gruͤndlich ſcheint und wohlgefaͤllt; deswegen
kann es ihm an einer großen Zahl von Freunden und
Vertheidigern nicht fehlen. Allein als herrſchende Denk-
art kann dies Niemand ausrufen wollen, der auf die
Zeichen der Zeit merkt, und ſie verſteht.

Ein andrer Geiſt, dem jener der Aufklaͤrung nur
als Vorlaͤufer Platz gemacht hat, iſt mit der Wieder-
auferweckung des aͤchten philoſophiſchen Denkens unter
uns erſchienen, und hat ſeit zwanzig Jahren aller beſ-
ſern Koͤpfe unter uns in allen Arten des Wiſſens und
des Geſchaͤftes ſich bemaͤchtiget. Dieſelbe merkwuͤrdige
Reform, welche das Ideale wieder zu der Ehre, Rea-
litaͤt zu ſeyn, hervorgerufen hat, iſt in dem ganzen Um-
kreis unſrer Bildung, in Wiſſenſchaft und Kunſt, in
Philoſophie und Religion, in allen Zweigen des Thuns
und Lebens in unzweideutigen Erſcheinungen ſichtbar;
die Ueberzeugung von der Schaͤdlichkeit nicht nur, ſon-
dern ſelbſt von der gaͤnzlichen Untauglichkeit jenes plum-
pen Realiſmus iſt nicht mehr bloße unſichere Meinung
dieſes oder jenes Einzelnen; die Idealitaͤt der Wahr-
heit und die Wahrheit des Idealen, von aller Vernunft
als Wahrheit Geforderten und Vorausgeſetzten, wird

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[33/0045] Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung. nehmen wollen; ſie wird vielmehr demſelben einen Damm entgegenſetzen muͤſſen. Fuͤrs zweite iſt auch das Zeitalter keineswegs ſo unempfaͤnglich fuͤr das Ideale, daß ein Erziehungsplan, der darauf mehr Gewicht als auf das Materiale legt, einen allgemeinen Widerſpruch zu fuͤrchten haͤtte. Zwar hat das philanthropiniſche Syſtem ſo vieles, was dem oberflaͤchlichen Raͤſonne- ment ſehr gruͤndlich ſcheint und wohlgefaͤllt; deswegen kann es ihm an einer großen Zahl von Freunden und Vertheidigern nicht fehlen. Allein als herrſchende Denk- art kann dies Niemand ausrufen wollen, der auf die Zeichen der Zeit merkt, und ſie verſteht. Ein andrer Geiſt, dem jener der Aufklaͤrung nur als Vorlaͤufer Platz gemacht hat, iſt mit der Wieder- auferweckung des aͤchten philoſophiſchen Denkens unter uns erſchienen, und hat ſeit zwanzig Jahren aller beſ- ſern Koͤpfe unter uns in allen Arten des Wiſſens und des Geſchaͤftes ſich bemaͤchtiget. Dieſelbe merkwuͤrdige Reform, welche das Ideale wieder zu der Ehre, Rea- litaͤt zu ſeyn, hervorgerufen hat, iſt in dem ganzen Um- kreis unſrer Bildung, in Wiſſenſchaft und Kunſt, in Philoſophie und Religion, in allen Zweigen des Thuns und Lebens in unzweideutigen Erſcheinungen ſichtbar; die Ueberzeugung von der Schaͤdlichkeit nicht nur, ſon- dern ſelbſt von der gaͤnzlichen Untauglichkeit jenes plum- pen Realiſmus iſt nicht mehr bloße unſichere Meinung dieſes oder jenes Einzelnen; die Idealitaͤt der Wahr- heit und die Wahrheit des Idealen, von aller Vernunft als Wahrheit Geforderten und Vorausgeſetzten, wird 3

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Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/45>, abgerufen am 29.03.2024.