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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

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Historischer Gesichtspunkt d. Untersuchung.
selbst vermißt man sogar die oben gerühmte Kühnheit
der Consequenz. Denn, obgleich die alten Sprachen auf
ein Minimum von Zeit für etwas weniges Latein be-
schränkt, und fast durch ein "graeca sunt, non legun-
tur!"
abgefertiget sind: so muß man sich doch selbst
über diese geringe Condescendenz zu dem alten Schlen-
drian um so mehr wundern, je näher von der einen
Seite es lag, den Nicht-Gelehrten von jenem, noch
aus den Anfängen der Gymnasial-Einrichtung abstam-
menden, Zwange ganz zu befreien, und je schein-
barer von der andern Seite selbst für den Gelehrten
das Studium der alten Sprachen sich als ganz ent-
behrlich erklären ließ, nachdem die teutsche Cultur die
Höhe wirklich erreicht hat, in ihrer eignen Sprache
alle Wissenschaften behandeln, die classischen Schriften
der Alten darstellen, und selbst Classiker aufweisen zu
können. Um so mehr aber verdient jene Kühnheit des
Systems in Bestimmung des Umfangs der Lehrgegen-
stände Bewunderung, nachdem es sogar jenes sich von
selbst anbietende Auskunftsmittel zu Vereinfachung des
sogenannten Lehrstoffes von der Hand gewiesen hatte.
Bedenkt man nämlich alle die Schwierigkeiten, welche
der philanthropinische Grundsatz, "daß die Schulen
überhaupt vor allen Dingen als Vorschulen für den
künftigen Beruf der Lehrlinge betrachtet und behandelt
werden müssen," in seiner wirklichen Anwendung auf
die Lehranstalten findet; wie wenig fürs erste schon an
und für sich während der Schuljahre eines Menschen
dessen künftiger Beruf sich mit solcher Sicherheit bestim-
men läßt, daß die Vorkenntnisse, die er in der Folge

Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
ſelbſt vermißt man ſogar die oben geruͤhmte Kuͤhnheit
der Conſequenz. Denn, obgleich die alten Sprachen auf
ein Minimum von Zeit fuͤr etwas weniges Latein be-
ſchraͤnkt, und faſt durch ein „graeca sunt, non legun-
tur!“
abgefertiget ſind: ſo muß man ſich doch ſelbſt
uͤber dieſe geringe Condeſcendenz zu dem alten Schlen-
drian um ſo mehr wundern, je naͤher von der einen
Seite es lag, den Nicht-Gelehrten von jenem, noch
aus den Anfaͤngen der Gymnaſial-Einrichtung abſtam-
menden, Zwange ganz zu befreien, und je ſchein-
barer von der andern Seite ſelbſt fuͤr den Gelehrten
das Studium der alten Sprachen ſich als ganz ent-
behrlich erklaͤren ließ, nachdem die teutſche Cultur die
Hoͤhe wirklich erreicht hat, in ihrer eignen Sprache
alle Wiſſenſchaften behandeln, die claſſiſchen Schriften
der Alten darſtellen, und ſelbſt Claſſiker aufweiſen zu
koͤnnen. Um ſo mehr aber verdient jene Kuͤhnheit des
Syſtems in Beſtimmung des Umfangs der Lehrgegen-
ſtaͤnde Bewunderung, nachdem es ſogar jenes ſich von
ſelbſt anbietende Auskunftsmittel zu Vereinfachung des
ſogenannten Lehrſtoffes von der Hand gewieſen hatte.
Bedenkt man naͤmlich alle die Schwierigkeiten, welche
der philanthropiniſche Grundſatz, „daß die Schulen
uͤberhaupt vor allen Dingen als Vorſchulen fuͤr den
kuͤnftigen Beruf der Lehrlinge betrachtet und behandelt
werden muͤſſen,“ in ſeiner wirklichen Anwendung auf
die Lehranſtalten findet; wie wenig fuͤrs erſte ſchon an
und fuͤr ſich waͤhrend der Schuljahre eines Menſchen
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[27/0039] Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung. ſelbſt vermißt man ſogar die oben geruͤhmte Kuͤhnheit der Conſequenz. Denn, obgleich die alten Sprachen auf ein Minimum von Zeit fuͤr etwas weniges Latein be- ſchraͤnkt, und faſt durch ein „graeca sunt, non legun- tur!“ abgefertiget ſind: ſo muß man ſich doch ſelbſt uͤber dieſe geringe Condeſcendenz zu dem alten Schlen- drian um ſo mehr wundern, je naͤher von der einen Seite es lag, den Nicht-Gelehrten von jenem, noch aus den Anfaͤngen der Gymnaſial-Einrichtung abſtam- menden, Zwange ganz zu befreien, und je ſchein- barer von der andern Seite ſelbſt fuͤr den Gelehrten das Studium der alten Sprachen ſich als ganz ent- behrlich erklaͤren ließ, nachdem die teutſche Cultur die Hoͤhe wirklich erreicht hat, in ihrer eignen Sprache alle Wiſſenſchaften behandeln, die claſſiſchen Schriften der Alten darſtellen, und ſelbſt Claſſiker aufweiſen zu koͤnnen. Um ſo mehr aber verdient jene Kuͤhnheit des Syſtems in Beſtimmung des Umfangs der Lehrgegen- ſtaͤnde Bewunderung, nachdem es ſogar jenes ſich von ſelbſt anbietende Auskunftsmittel zu Vereinfachung des ſogenannten Lehrſtoffes von der Hand gewieſen hatte. Bedenkt man naͤmlich alle die Schwierigkeiten, welche der philanthropiniſche Grundſatz, „daß die Schulen uͤberhaupt vor allen Dingen als Vorſchulen fuͤr den kuͤnftigen Beruf der Lehrlinge betrachtet und behandelt werden muͤſſen,“ in ſeiner wirklichen Anwendung auf die Lehranſtalten findet; wie wenig fuͤrs erſte ſchon an und fuͤr ſich waͤhrend der Schuljahre eines Menſchen deſſen kuͤnftiger Beruf ſich mit ſolcher Sicherheit beſtim- men laͤßt, daß die Vorkenntniſſe, die er in der Folge

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Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/39>, abgerufen am 18.04.2024.