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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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obgleich in diesem Fall nicht eines fremden, sondern des eignen
Willens des Zuerziehenden ist. Uebrigens ist Selbsterziehung
erst Resultat der Erziehung durch andre.

Also, dass menschliche Bildung Willenssache ist, das
ist das Besondere und Wichtige, was das Wort Erziehung in
Erinnerung hält. Und vielleicht ist eben dies der Grund,
weshalb es vorzugsweise von der Bildung des Willens gebraucht
wird. Denn unmittelbar Sache des Willens ist nur die Er-
ziehung des Willens selbst; während auf alle andern Seiten
der Bildung der erziehende Wille nur dadurch Einfluss erlangt,
dass er den Willen des Zöglings zu gewinnen und auf das
gewollte Ziel hinzulenken weiss.

Auf jede Weise aber enthält schon dieser erste Grundbegriff
der Pädagogik, der der Erziehung selbst oder der Bildung, ein
Problem von eigentlich philosophischer Natur: das Problem des
Sollens oder des Zwecks oder, wie wir am liebsten sagen,
der Idee. Bilden, sagten wir, heisst Formen, wie aus dem
Chaos gestalten; es heisst, ein Ding zu seiner eigentümlichen
Vollkommenheit bringen; vollkommen aber heisst, was ist wie
es sein soll. Dasselbe besagt nur deutlicher das Wort Idee:
es besagt die Gestalt einer Sache, die wir in Gedanken haben
als die seinsollende, zu der der gegebene Stoff, sei es gestaltet
werden oder sich selbst gestalten soll. Das ist die innere und
wesentliche Beziehung der Begriffe Bildung und Idee. Und
nicht weniger klar liegt die gleiche Grundvoraussetzung eines
anzustrebenden Zieles der Entwicklung in jenem Moment des
absichtlichen, planvollen Einwirkens, welches deutlicher in dem
Wort Erziehung zum Ausdruck kommt; wie denn diese Vor-
aussetzung ganz allgemein im Begriff des Willens enthalten
ist; denn Wille heisst zuletzt nichts andres als Zielsetzung,
Vorsatz einer Idee, d. i. eines Gesollten.

Wie aber ist dies Sollen zu begründen? Woher schöpfen
wir die Erkenntnis, nicht, wie ein Ding thatsächlich ist,
sondern wie es sein soll? Warum soll es sein, wie es doch
aus bestimmten thatsächlichen Gründen nicht ist, auch vielleicht
nie gewesen ist und nie sein wird? Der gewöhnliche Weg
der Erkenntnis, die Erfahrung, scheint darauf keine Antwort

obgleich in diesem Fall nicht eines fremden, sondern des eignen
Willens des Zuerziehenden ist. Uebrigens ist Selbsterziehung
erst Resultat der Erziehung durch andre.

Also, dass menschliche Bildung Willenssache ist, das
ist das Besondere und Wichtige, was das Wort Erziehung in
Erinnerung hält. Und vielleicht ist eben dies der Grund,
weshalb es vorzugsweise von der Bildung des Willens gebraucht
wird. Denn unmittelbar Sache des Willens ist nur die Er-
ziehung des Willens selbst; während auf alle andern Seiten
der Bildung der erziehende Wille nur dadurch Einfluss erlangt,
dass er den Willen des Zöglings zu gewinnen und auf das
gewollte Ziel hinzulenken weiss.

Auf jede Weise aber enthält schon dieser erste Grundbegriff
der Pädagogik, der der Erziehung selbst oder der Bildung, ein
Problem von eigentlich philosophischer Natur: das Problem des
Sollens oder des Zwecks oder, wie wir am liebsten sagen,
der Idee. Bilden, sagten wir, heisst Formen, wie aus dem
Chaos gestalten; es heisst, ein Ding zu seiner eigentümlichen
Vollkommenheit bringen; vollkommen aber heisst, was ist wie
es sein soll. Dasselbe besagt nur deutlicher das Wort Idee:
es besagt die Gestalt einer Sache, die wir in Gedanken haben
als die seinsollende, zu der der gegebene Stoff, sei es gestaltet
werden oder sich selbst gestalten soll. Das ist die innere und
wesentliche Beziehung der Begriffe Bildung und Idee. Und
nicht weniger klar liegt die gleiche Grundvoraussetzung eines
anzustrebenden Zieles der Entwicklung in jenem Moment des
absichtlichen, planvollen Einwirkens, welches deutlicher in dem
Wort Erziehung zum Ausdruck kommt; wie denn diese Vor-
aussetzung ganz allgemein im Begriff des Willens enthalten
ist; denn Wille heisst zuletzt nichts andres als Zielsetzung,
Vorsatz einer Idee, d. i. eines Gesollten.

Wie aber ist dies Sollen zu begründen? Woher schöpfen
wir die Erkenntnis, nicht, wie ein Ding thatsächlich ist,
sondern wie es sein soll? Warum soll es sein, wie es doch
aus bestimmten thatsächlichen Gründen nicht ist, auch vielleicht
nie gewesen ist und nie sein wird? Der gewöhnliche Weg
der Erkenntnis, die Erfahrung, scheint darauf keine Antwort

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[5/0021] obgleich in diesem Fall nicht eines fremden, sondern des eignen Willens des Zuerziehenden ist. Uebrigens ist Selbsterziehung erst Resultat der Erziehung durch andre. Also, dass menschliche Bildung Willenssache ist, das ist das Besondere und Wichtige, was das Wort Erziehung in Erinnerung hält. Und vielleicht ist eben dies der Grund, weshalb es vorzugsweise von der Bildung des Willens gebraucht wird. Denn unmittelbar Sache des Willens ist nur die Er- ziehung des Willens selbst; während auf alle andern Seiten der Bildung der erziehende Wille nur dadurch Einfluss erlangt, dass er den Willen des Zöglings zu gewinnen und auf das gewollte Ziel hinzulenken weiss. Auf jede Weise aber enthält schon dieser erste Grundbegriff der Pädagogik, der der Erziehung selbst oder der Bildung, ein Problem von eigentlich philosophischer Natur: das Problem des Sollens oder des Zwecks oder, wie wir am liebsten sagen, der Idee. Bilden, sagten wir, heisst Formen, wie aus dem Chaos gestalten; es heisst, ein Ding zu seiner eigentümlichen Vollkommenheit bringen; vollkommen aber heisst, was ist wie es sein soll. Dasselbe besagt nur deutlicher das Wort Idee: es besagt die Gestalt einer Sache, die wir in Gedanken haben als die seinsollende, zu der der gegebene Stoff, sei es gestaltet werden oder sich selbst gestalten soll. Das ist die innere und wesentliche Beziehung der Begriffe Bildung und Idee. Und nicht weniger klar liegt die gleiche Grundvoraussetzung eines anzustrebenden Zieles der Entwicklung in jenem Moment des absichtlichen, planvollen Einwirkens, welches deutlicher in dem Wort Erziehung zum Ausdruck kommt; wie denn diese Vor- aussetzung ganz allgemein im Begriff des Willens enthalten ist; denn Wille heisst zuletzt nichts andres als Zielsetzung, Vorsatz einer Idee, d. i. eines Gesollten. Wie aber ist dies Sollen zu begründen? Woher schöpfen wir die Erkenntnis, nicht, wie ein Ding thatsächlich ist, sondern wie es sein soll? Warum soll es sein, wie es doch aus bestimmten thatsächlichen Gründen nicht ist, auch vielleicht nie gewesen ist und nie sein wird? Der gewöhnliche Weg der Erkenntnis, die Erfahrung, scheint darauf keine Antwort

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/21>, abgerufen am 24.04.2024.