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Nathusius, Hermann Engelhard von: Über die sogenannten Leporiden. Berlin, 1876.

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seitdem wir beide mit Resultaten des Studiums über die Hausthiere
aufgetreten sind, eine bedeutende Kontroverse besteht.

Hr. Sanson ist zu der Annahme gekommen, es gebe unter dem,
was wir bei den Hausthieren Rassen nennen, sogenannte natürliche
Arten (especes naturelles), von denen eine jede einen absolut be-
stimmten und permanenten Typus des Schädels
zeige,
welcher durch keine Einwirkung von Aussen (influence de milieu) inner-
halb irgend einer, der Beobachtung unterliegenden Zeit variabel sei.
Es beziehe sich dies nicht nur auf den Gehirn- und den Gesichtstheil des
Schädels, sondern auch auf die Fundamentaltheile des Skelets. So unter-
scheidet Hr. Sanson z. B. zwei bestimmte "natürliche Arten" des
orientalischen Pferdes mit differenten Schädeln und entweder 5 oder 6
Lendenwirbeln.

Ich bin im Gegensatz zu der Ansicht gekommen, dass in Bezug auf
unsere bisher untersuchten Hausthierrassen eine solche unabänder-
liche typische Differenz des Schädels nicht besteht
, und
dass z. B. die Kopfform des Pferdes unabhängig ist von dem nicht be-
deutsamen Umstand, ob 5 oder ob 6 Lendenwirbel vorhanden sind.

Wir bewegen uns damit auf dem alten Kampfplatz über Konstanz,
über Differenz von Spezies und Rasse, Bedeutung der Descendenz-
lehre u. s. w.

Ich bin weit davon entfernt, bei dieser Gelegenheit auf diesen
Gegensatz einzugehen, ich hielt es aber für nöthig, die Kontroverse anzu-
deuten, weil ich im folgenden Referat über Hrn. Sanson's kraniologische
Studien der Leporiden in Bezug auf die Methode der Untersuchung
kritisch aufzutreten gezwungen bin.

Hr. Sanson untersucht nämlich von dem Hasen und dem Kaninchen
je einen einzigen Schädel, von den beiden verschiedenen Formen
der Leporiden, von der einen nur einen unvollständigen, von der andern
sogar nur ein Fragment, einen Kopf, welchem Hinterhaupt, Felsenbein,
Keilbein, die Nasenbeine und der Unterkiefer fehlen.

In gewissem Sinne sind offenbar genaue Messungen eines einzelnen
Individuums von grösserer Bedeutung, als die Angabe von "Mittelzahlen
von vielen Skeleten", wie solche Hr. Zürn geliefert hat. Denn wenn
weder diese Vielheit benannt ist, noch die Maxima und Minima angegeben
sind, wird dem Leser ein Fazit von unbestimmtem Werth geboten; die
Angaben des Hrn. Zürn haben dies in ihren Widersprüchen dargethan.

Nach einem einzelnen Schädel ist es aber unmöglich, darüber
klar zu werden, welche individuellen Schwankungen der Form normal
sind, und es genügt deshalb die Betrachtung eines Individuums für
solche Vergleichung, wie sie hier die Natur der Sache erfordert, durch-
aus nicht.

Ich bedaure, dass mir in diesem Augenblick ungefähr nur 40 Hasen-

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seitdem wir beide mit Resultaten des Studiums über die Hausthiere
aufgetreten sind, eine bedeutende Kontroverse besteht.

Hr. Sanson ist zu der Annahme gekommen, es gebe unter dem,
was wir bei den Hausthieren Rassen nennen, sogenannte natürliche
Arten (espèces naturelles), von denen eine jede einen absolut be-
stimmten und permanenten Typus des Schädels
zeige,
welcher durch keine Einwirkung von Aussen (influence de milieu) inner-
halb irgend einer, der Beobachtung unterliegenden Zeit variabel sei.
Es beziehe sich dies nicht nur auf den Gehirn- und den Gesichtstheil des
Schädels, sondern auch auf die Fundamentaltheile des Skelets. So unter-
scheidet Hr. Sanson z. B. zwei bestimmte „natürliche Arten“ des
orientalischen Pferdes mit differenten Schädeln und entweder 5 oder 6
Lendenwirbeln.

Ich bin im Gegensatz zu der Ansicht gekommen, dass in Bezug auf
unsere bisher untersuchten Hausthierrassen eine solche unabänder-
liche typische Differenz des Schädels nicht besteht
, und
dass z. B. die Kopfform des Pferdes unabhängig ist von dem nicht be-
deutsamen Umstand, ob 5 oder ob 6 Lendenwirbel vorhanden sind.

Wir bewegen uns damit auf dem alten Kampfplatz über Konstanz,
über Differenz von Spezies und Rasse, Bedeutung der Descendenz-
lehre u. s. w.

Ich bin weit davon entfernt, bei dieser Gelegenheit auf diesen
Gegensatz einzugehen, ich hielt es aber für nöthig, die Kontroverse anzu-
deuten, weil ich im folgenden Referat über Hrn. Sanson’s kraniologische
Studien der Leporiden in Bezug auf die Methode der Untersuchung
kritisch aufzutreten gezwungen bin.

Hr. Sanson untersucht nämlich von dem Hasen und dem Kaninchen
je einen einzigen Schädel, von den beiden verschiedenen Formen
der Leporiden, von der einen nur einen unvollständigen, von der andern
sogar nur ein Fragment, einen Kopf, welchem Hinterhaupt, Felsenbein,
Keilbein, die Nasenbeine und der Unterkiefer fehlen.

In gewissem Sinne sind offenbar genaue Messungen eines einzelnen
Individuums von grösserer Bedeutung, als die Angabe von „Mittelzahlen
von vielen Skeleten“, wie solche Hr. Zürn geliefert hat. Denn wenn
weder diese Vielheit benannt ist, noch die Maxima und Minima angegeben
sind, wird dem Leser ein Fazit von unbestimmtem Werth geboten; die
Angaben des Hrn. Zürn haben dies in ihren Widersprüchen dargethan.

Nach einem einzelnen Schädel ist es aber unmöglich, darüber
klar zu werden, welche individuellen Schwankungen der Form normal
sind, und es genügt deshalb die Betrachtung eines Individuums für
solche Vergleichung, wie sie hier die Natur der Sache erfordert, durch-
aus nicht.

Ich bedaure, dass mir in diesem Augenblick ungefähr nur 40 Hasen-

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[51/0059] seitdem wir beide mit Resultaten des Studiums über die Hausthiere aufgetreten sind, eine bedeutende Kontroverse besteht. Hr. Sanson ist zu der Annahme gekommen, es gebe unter dem, was wir bei den Hausthieren Rassen nennen, sogenannte natürliche Arten (espèces naturelles), von denen eine jede einen absolut be- stimmten und permanenten Typus des Schädels zeige, welcher durch keine Einwirkung von Aussen (influence de milieu) inner- halb irgend einer, der Beobachtung unterliegenden Zeit variabel sei. Es beziehe sich dies nicht nur auf den Gehirn- und den Gesichtstheil des Schädels, sondern auch auf die Fundamentaltheile des Skelets. So unter- scheidet Hr. Sanson z. B. zwei bestimmte „natürliche Arten“ des orientalischen Pferdes mit differenten Schädeln und entweder 5 oder 6 Lendenwirbeln. Ich bin im Gegensatz zu der Ansicht gekommen, dass in Bezug auf unsere bisher untersuchten Hausthierrassen eine solche unabänder- liche typische Differenz des Schädels nicht besteht, und dass z. B. die Kopfform des Pferdes unabhängig ist von dem nicht be- deutsamen Umstand, ob 5 oder ob 6 Lendenwirbel vorhanden sind. Wir bewegen uns damit auf dem alten Kampfplatz über Konstanz, über Differenz von Spezies und Rasse, Bedeutung der Descendenz- lehre u. s. w. Ich bin weit davon entfernt, bei dieser Gelegenheit auf diesen Gegensatz einzugehen, ich hielt es aber für nöthig, die Kontroverse anzu- deuten, weil ich im folgenden Referat über Hrn. Sanson’s kraniologische Studien der Leporiden in Bezug auf die Methode der Untersuchung kritisch aufzutreten gezwungen bin. Hr. Sanson untersucht nämlich von dem Hasen und dem Kaninchen je einen einzigen Schädel, von den beiden verschiedenen Formen der Leporiden, von der einen nur einen unvollständigen, von der andern sogar nur ein Fragment, einen Kopf, welchem Hinterhaupt, Felsenbein, Keilbein, die Nasenbeine und der Unterkiefer fehlen. In gewissem Sinne sind offenbar genaue Messungen eines einzelnen Individuums von grösserer Bedeutung, als die Angabe von „Mittelzahlen von vielen Skeleten“, wie solche Hr. Zürn geliefert hat. Denn wenn weder diese Vielheit benannt ist, noch die Maxima und Minima angegeben sind, wird dem Leser ein Fazit von unbestimmtem Werth geboten; die Angaben des Hrn. Zürn haben dies in ihren Widersprüchen dargethan. Nach einem einzelnen Schädel ist es aber unmöglich, darüber klar zu werden, welche individuellen Schwankungen der Form normal sind, und es genügt deshalb die Betrachtung eines Individuums für solche Vergleichung, wie sie hier die Natur der Sache erfordert, durch- aus nicht. Ich bedaure, dass mir in diesem Augenblick ungefähr nur 40 Hasen- 4 *

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Zitationshilfe: Nathusius, Hermann Engelhard von: Über die sogenannten Leporiden. Berlin, 1876, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_leporiden_1876/59>, abgerufen am 16.04.2024.