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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779.

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zueignen; wir sehen nun den innwendigen
Menschen, durch seine äuserliche Gestalt so
offenbar als in einem Spiegel, und diese
Kunst ist ihm so gelungen, daß es bloß des
Sehers Schuld ist, wenn er beym ersten
Anblick eines Menschen nicht alle Geheim-
nisse seines Herzens durchschauet.

So wenig Bedenken die gute Mutter
fand, in die Vorrechte der Männer einen
Eingriff zu thun, wenn sie männliche Bein-
kleider anlegte, um schrittlings zu reuten:
so gewissenhaft war sie in Absicht der Vor-
rechte des Himmels, die wollte sie auf kei-
ne Art gekränkt wissen. Der arme Theodor
mußte seine leichtsinnigen Reden mit einer
nachdrücklichen Gewissensrüge büssen, und
wurde ungeachtet der Einwendung, daß der
Herzenskündiger von dem die Rede war,
ein würdiger gewissenhafter Geistlicher sey,
für einen förmlichen Ketzer und Freydenker
erkläret. Der Präses der Dispüte, der alte

Ritter

zueignen; wir ſehen nun den innwendigen
Menſchen, durch ſeine aͤuſerliche Geſtalt ſo
offenbar als in einem Spiegel, und dieſe
Kunſt iſt ihm ſo gelungen, daß es bloß des
Sehers Schuld iſt, wenn er beym erſten
Anblick eines Menſchen nicht alle Geheim-
niſſe ſeines Herzens durchſchauet.

So wenig Bedenken die gute Mutter
fand, in die Vorrechte der Maͤnner einen
Eingriff zu thun, wenn ſie maͤnnliche Bein-
kleider anlegte, um ſchrittlings zu reuten:
ſo gewiſſenhaft war ſie in Abſicht der Vor-
rechte des Himmels, die wollte ſie auf kei-
ne Art gekraͤnkt wiſſen. Der arme Theodor
mußte ſeine leichtſinnigen Reden mit einer
nachdruͤcklichen Gewiſſensruͤge buͤſſen, und
wurde ungeachtet der Einwendung, daß der
Herzenskuͤndiger von dem die Rede war,
ein wuͤrdiger gewiſſenhafter Geiſtlicher ſey,
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[24/0032] zueignen; wir ſehen nun den innwendigen Menſchen, durch ſeine aͤuſerliche Geſtalt ſo offenbar als in einem Spiegel, und dieſe Kunſt iſt ihm ſo gelungen, daß es bloß des Sehers Schuld iſt, wenn er beym erſten Anblick eines Menſchen nicht alle Geheim- niſſe ſeines Herzens durchſchauet. So wenig Bedenken die gute Mutter fand, in die Vorrechte der Maͤnner einen Eingriff zu thun, wenn ſie maͤnnliche Bein- kleider anlegte, um ſchrittlings zu reuten: ſo gewiſſenhaft war ſie in Abſicht der Vor- rechte des Himmels, die wollte ſie auf kei- ne Art gekraͤnkt wiſſen. Der arme Theodor mußte ſeine leichtſinnigen Reden mit einer nachdruͤcklichen Gewiſſensruͤge buͤſſen, und wurde ungeachtet der Einwendung, daß der Herzenskuͤndiger von dem die Rede war, ein wuͤrdiger gewiſſenhafter Geiſtlicher ſey, fuͤr einen foͤrmlichen Ketzer und Freydenker erklaͤret. Der Praͤſes der Diſpuͤte, der alte Ritter

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/32>, abgerufen am 19.04.2024.