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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809.

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hülflichen Staat durch seine mechanische Anord-
nung immer mehr, anstatt ihn zu beleben und zu
beflügeln; er verfährt wie ein schlechter Arzt, der
die Gesundheit des Menschen durch allerlei Pal-
liative handwerksmäßig zusammensetzen will, wäh-
rend ja nur die innere Lebenskraft zu wecken
und zu beleben, und jedem nothwendigen Or-
gane Luft und Kraft zu geben ist, damit das
Ganze sich behaupten könne.

Jede Krankheit des Staates, wie des Men-
schen, ist Herrschaft eines einzelnen, einseitigen
Organs über die andern, oder auf Kosten des
Ganzen, des Organismus. Wie wäre es, wenn
es den Gliedern des menschlichen Körpers ein-
fallen wollte, jedes für sich einen abgesonderten,
ausschließenden Theil der Lebenskraft zu verlan-
gen und zu behaupten? Könnte der menschliche
Körper auch nur einen Augenblick bestehen ohne
die Nationalität, kraft deren jede einzelne Muskel,
jede Ader, jeder Nerve sein Privateigenthum un-
aufhörlich wieder dem Ganzen unterwirft und
hingiebt? -- Die alten Römer haben den Ver-
gleich des Staates mit dem menschlichen Körper
verstanden: sollte er jetzt nicht mehr passen, nach-
dem wir ganz andre Beispiele von der Hinge-
bung des Einzelnen an das Ganze, Nationale,
an die Menschheit erlebt haben, als die Römer

huͤlflichen Staat durch ſeine mechaniſche Anord-
nung immer mehr, anſtatt ihn zu beleben und zu
befluͤgeln; er verfaͤhrt wie ein ſchlechter Arzt, der
die Geſundheit des Menſchen durch allerlei Pal-
liative handwerksmaͤßig zuſammenſetzen will, waͤh-
rend ja nur die innere Lebenskraft zu wecken
und zu beleben, und jedem nothwendigen Or-
gane Luft und Kraft zu geben iſt, damit das
Ganze ſich behaupten koͤnne.

Jede Krankheit des Staates, wie des Men-
ſchen, iſt Herrſchaft eines einzelnen, einſeitigen
Organs uͤber die andern, oder auf Koſten des
Ganzen, des Organismus. Wie waͤre es, wenn
es den Gliedern des menſchlichen Koͤrpers ein-
fallen wollte, jedes fuͤr ſich einen abgeſonderten,
ausſchließenden Theil der Lebenskraft zu verlan-
gen und zu behaupten? Koͤnnte der menſchliche
Koͤrper auch nur einen Augenblick beſtehen ohne
die Nationalitaͤt, kraft deren jede einzelne Muskel,
jede Ader, jeder Nerve ſein Privateigenthum un-
aufhoͤrlich wieder dem Ganzen unterwirft und
hingiebt? — Die alten Roͤmer haben den Ver-
gleich des Staates mit dem menſchlichen Koͤrper
verſtanden: ſollte er jetzt nicht mehr paſſen, nach-
dem wir ganz andre Beiſpiele von der Hinge-
bung des Einzelnen an das Ganze, Nationale,
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[158/0166] huͤlflichen Staat durch ſeine mechaniſche Anord- nung immer mehr, anſtatt ihn zu beleben und zu befluͤgeln; er verfaͤhrt wie ein ſchlechter Arzt, der die Geſundheit des Menſchen durch allerlei Pal- liative handwerksmaͤßig zuſammenſetzen will, waͤh- rend ja nur die innere Lebenskraft zu wecken und zu beleben, und jedem nothwendigen Or- gane Luft und Kraft zu geben iſt, damit das Ganze ſich behaupten koͤnne. Jede Krankheit des Staates, wie des Men- ſchen, iſt Herrſchaft eines einzelnen, einſeitigen Organs uͤber die andern, oder auf Koſten des Ganzen, des Organismus. Wie waͤre es, wenn es den Gliedern des menſchlichen Koͤrpers ein- fallen wollte, jedes fuͤr ſich einen abgeſonderten, ausſchließenden Theil der Lebenskraft zu verlan- gen und zu behaupten? Koͤnnte der menſchliche Koͤrper auch nur einen Augenblick beſtehen ohne die Nationalitaͤt, kraft deren jede einzelne Muskel, jede Ader, jeder Nerve ſein Privateigenthum un- aufhoͤrlich wieder dem Ganzen unterwirft und hingiebt? — Die alten Roͤmer haben den Ver- gleich des Staates mit dem menſchlichen Koͤrper verſtanden: ſollte er jetzt nicht mehr paſſen, nach- dem wir ganz andre Beiſpiele von der Hinge- bung des Einzelnen an das Ganze, Nationale, an die Menſchheit erlebt haben, als die Roͤmer

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809/166>, abgerufen am 18.04.2024.